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Vorstoß in die Gegenwelt

Allgemein

Vorstoß in die Gegenwelt
Antimaterie ist ein ganz besonderer Stoff: selten, teuer und exotisch. Doch inzwischen haben Physiker gelernt, ihn gezielt zu erzeugen und zu manipulieren.

„Der Zylinder enthält eine extrem brennbare Substanz, genannt Antimaterie. Wir müssen ihn sofort aufspüren – oder die Vatikanstadt evakuieren“, warnt Vittoria Vetra. Die Physikerin befürchtet, dass eine Antimaterie-Bombe kurz vor der Detonation steht. „Das wäre apokalyptisch: Eine grelle Explosion mit der Kraft von fünf Kilotonnen!“ Der Kunsthistoriker Robert Langdon erwidert: „Vatikanstadt wird verschlungen vom Licht.“

Dieser kurze Dialog im Kinofilm „Illuminati“ zeigt: Die Antimaterie ist in den Massenmedien angekommen. In dem 2000 erschienenen Thriller von Dan Brown und seiner Verfilmung aus dem Jahr 2009 plant der Geheimorden der Illuminaten, den Vatikan in die Luft zu sprengen – mit einem Viertel Gramm Antimaterie. Das entspräche einem Viertel der Vernichtungskraft der Hiroshima-Atombombe.

Im Prinzip wäre das durchaus möglich, denn sobald Materieteilchen mit Antimaterieteilchen in Kontakt kommen, lösen sich beide völlig in hochenergetische Strahlung auf. Diese als Annihilation bezeichnete Partikelvernichtung ist die effektivste Energiefreisetzung, die es überhaupt gibt. Doch es bedarf keines göttlichen Beistands, um Entwarnung zu verkünden. Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist der Illuminati-Plot utopisch: Selbst mit allem Geld der Welt könnte niemand so viel Antimaterie herstellen oder speichern.

RAFFINIERTE EXPERIMENTE

Auch wenn der gefährliche Stoff für potenzielle Attentäter also völlig waffenuntauglich ist – seiner Faszination tut dies keinen Abbruch. Tatsächlich hat die Antimaterie-Forschung in jüngster Zeit gewaltige Fortschritte gemacht. Und sie wird in diesem Jahrzehnt sicherlich noch mehrfach für Schlagzeilen sorgen. Denn zurzeit sind raffinierte Experimente in Vorbereitung, die sogar grundlegende Antworten versprechen auf die Frage, warum das Universum so ist, wie es ist – und warum wir überhaupt existieren. Fest steht: Antimaterie bleibt ein Thema – für Science und Fiction.

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Was vor 20 Jahren kaum vorstellbar war, ist heute schon Realität: Physiker können Antimaterie nicht nur produzieren, sondern inzwischen sogar speichern und manipulieren. Selbst Antiatome lassen sich erzeugen und auch exotische Moleküle, die es in der Natur gar nicht gibt. Damit wollen die Wissenschaftler die Naturgesetze ausloten und neue Effekte finden, die vielleicht sogar die Relativitätstheorie in Schwierigkeiten bringen oder Einblicke in eine gespenstische Parallelwelt erlauben.

Weltweit führender Ort der Antimaterie-Wissenschaft ist das Forschungszentrum CERN bei Genf. Das wissen auch die „Illuminati“ -Fans, denn von dort stammt das Material für die Antimateriebombe im Roman. Und tatsächlich sollen im CERN demnächst 10 Millionen Antiprotonen pro Minute hergestellt werden, um daraus Antiatome zu machen.

Allerdings: „Antiwasserstoff-Atome zu speichern, ist eine riesige Herausforderung“, sagt Rolf Landua vom CERN. Er hatte als Berater bei der Verfilmung von „Illuminati“ mitgewirkt und war gerüchteweise sogar ein Vorbild für den Physiker und Ex-Theologen Leonardo Vetra in Dan Browns Roman. Zwar haben CERN-Forscher es letztes Jahr erstmals geschafft, ein paar Antiwasserstoff-Atome eine gute Viertelstunde lang zu speichern. Doch ein Viertel Gramm Antimaterie herzustellen und in eine tragbare Bombe zu packen, ist technisch nicht möglich.

Selbst wenn man sämtliche Antimaterie sammeln und vereinen könnte, die im Lauf der letzten 40 Jahre am CERN produziert wurde, wären das allenfalls zehn Milliardstel eines Gramms. Falls diese Antimaterie mit Materie zur Annihilation gebracht werden würde, wäre das nicht gefährlicher, als ein Streichholz anzuzünden. Und es würde nicht einmal ausreichen, um eine einzige Glühbirne ein paar Minuten lang zum Leuchten zu bringen. „Es bräuchte Milliarden Jahre, um genug Antistoff zusammenzukratzen für eine Bombe, wie sie Dan Brown beschrieben hat“, sagt Rolf Landua.

DER TEUERSTE STOFF ÜBERHAUPT

Tatsächlich würde es mit der heutigen Antimaterie-Produktionsrate des CERN 10 000 Mal so lang dauern, wie unser Universum alt ist, um so viel explosives Material zusammenzubringen, dass dieses mit der Sprengkraft einer Atombombe konkurrieren könnte. Für Vatikan-Feinde gäbe es also eindeutig effektivere Mittel, um den Heiligen Stuhl in den Himmel zu sprengen. Und auch preiswertere – denn Antimaterie ist wohl die teuerste Substanz auf Erden.

Der Physiker Gerald Smith schätzte 2006 die Produktionskosten von zehn Milligramm Antielektronen (Positronen) auf 250 Millionen Dollar. Die Herstellung von Antiwasserstoff geht noch viel mehr ins Geld: Am CERN werden die Kosten eines Milliardstel Gramms auf einige Hundert Millionen Euro veranschlagt.

Außerdem wäre Antimaterie von der Energiebilanz her waffentechnisch völlig ineffektiv. Bei ihrer Zerstrahlung würde nämlich nur etwa ein Zehnmilliardstel der eingesetzten Energie wieder frei, obwohl die Annihilation selbst der effizienteste Energielieferant ist, den es in der Natur überhaupt gibt (siehe Kasten „Die effektivste Energiequelle der Welt“ auf S. 54).

Vernichtende Gegenwelt

Antimaterie bildet eine Gegenwelt – so ähnlich und zugleich verschieden zu unserer Welt wie ein Spiegelbild. Die meisten Eigenschaften der Antimaterie sind identisch mit denen der Materie, manche aber sind auch gerade entgegengesetzt. So haben Antiteilchen zwar dieselbe Masse wie ihre materiellen Pendants, aber die umgekehrte Ladung und Helizität (Händigkeit oder Drehsinn).

Der Physiker Paul A. M. Dirac erhielt 1933 für die Entdeckung der Antimaterie den Nobelpreis. 1928 hatte er entsprechende Lösungen in der von ihm formulierten Gleichung gefunden – einer bis heute grundlegenden Gleichung der Quantenmechanik, die die berühmte Schrödinger-Gleichung mit der Speziellen Relativitätstheorie verbindet.

Dirac erkannte, dass seine Gleichung nicht nur ein Elektron mit negativer Ladung beschreibt, sondern auch ein Teilchen, das dem Elektron in vielem gleicht, aber im Gegensatz dazu positiv geladen ist. Zunächst unterschätzte Dirac die Bedeutung dieser mathematischen Lösung und ignorierte sie – „aus reiner Feigheit“, wie er später sagte. 1931 wurde ihm aber klar, dass seine Gleichung die Existenz eines neuen Teilchens vorhersagt, eines Antielektrons – und mehr noch, einer ganzen Gegenwelt der Materie. Dirac postulierte, dass jedes Teilchen ein Gegenstück besitzt, und dass auch die Verbindung dieser Antiteilchen – Atome und Moleküle – existieren kann. Allerdings glaubte ihm kaum ein Zeitgenosse, als er seine seltsame Idee erstmals äußerte.

POSITRONEN AUS DEM ALL

Doch bereits ein Jahr später, 1932, entdeckte der Physiker Carl D. Anderson eine unerwartete Spur eines Teilchens aus der Kosmischen Strahlung in einer Blasenkammer. Es hatte darin einen „ Kondensstreifen“ hinterlassen wie von einem Elektron, doch seine Bahn war im Magnetfeld umgekehrt gekrümmt. Es besaß also die gleiche Masse, aber eine positive Ladung. Damit war es ein Antielektron, wie es Dirac vorausgesagt hatte.

Anderson, der 1936 mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet wurde, nannte es Positron (abgekürzt für „positives Elektron“). Es ist das erste Teilchen, das gleichsam dem reinen Denken entsprungen ist – eine Erfolgsstory, die sich auf ähnliche Weise noch oft in der Geschichte der Elementarteilchenphysik wiederholen sollte. Wie sich später zeigte, hatten übrigens auch Dmitri Skobeltsyn und Chung-Yao Chung unabhängig voneinander schon 1929 Spuren von Positronen in Blasenkammern gesehen

Positronen haben also die gleiche Ladung wie Protonen, aber wie Elektronen nur die 0,0005-fache Masse davon. Sie entstehen beim positiven Beta-Zerfall, bei der Wechselwirkung von Gammastrahlen mit Atomkernen und bei der sogenannten Paarerzeugung aus großer Strahlungsenergie. Inzwischen sind auch zwei schwerere „Geschwister“ bekannt, die Antimyonen und Antitauonen, sowie ihre drei „Vettern“, die Antineutrinos, und zudem sechs Antiquarks. Zu jedem Elementarteilchen im Standardmodell der Materie gibt es also ein Gegenstück (siehe Grafik „Das Standardmodell der Materie“ auf S. 51).

Andersons Entdeckung war der Beginn einer neuen Ära. Bald kamen weitere Antiteilchen ans Licht. 1955 entdeckten Emilio Segré und Owen Chamberlain an der University of California in Berkeley die Antiprotonen (Nobelpreis 1959). 1956 fanden Bruce Cork und seine Kollegen bei Proton-Proton-Kollisionen am Bevatron am Lawrence Berkeley National Laboratory die Antineutronen. Und einige Jahre später wurden auch schwerere Antiatomkerne nachgewiesen: 1965 spürten Antonino Zichichi und seinen Kollegen am Proton Synchroton des CERN Antideuterium-Kerne auf, 1970 wurden Kerne von Antihelium-3 bei Kollisionsexperimenten im russischen Protvino nachgewiesen, und 1973 dort auch Antitritium-Kerne. Doch dann stagnierte die Forschung.

REKORD GEBROCHEN

Bis 2010 waren die schwersten bekannten Antiteilchen die Kerne von Anti- helium-3. Sie setzen sich jeweils aus zwei Antiprotonen und einem Antineutron zusammen. Dann gelang es am RHIC-Beschleuniger (Relativistic Heavy Ion Collider) in Upton, New York, in dem Gold-Atome fast mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander geschossen werden, einen neuen Typus von Antimaterie zu erzeugen und nachzuweisen: Antihypertriton. Der Stoff besteht aus einem Antiproton, einen Antineutron und einem instabilen Teilchen, dem Antilambda.

Doch das Antihypertriton hielt nicht lange den Antirekord. Bereits 2011 glückte den RHIC-Physikern erstmals der Nachweis von Antihelium-4. Sie konnten genau 18 dieser Kerne aus je zwei Antiprotonen und Antineutronen identifizieren. Dazu hatten sie rund eine Milliarde Kollisionen zwischen den Gold-Atomkernen analysiert.

„Wahrscheinlich ist Antihelium für einige Zeit das schwerste Antiteilchen in der Beschleunigerphysik“, sagt Xiangming Sun vom Lawrence Berkeley National Laboratory. Antilithium ist der nächste stabile Antikern – und somit die nächste große Herausforderung der Antimaterie-Schöpfer. Doch Antilithium zu erzeugen, ist unglaublich schwierig. Das RHIC-Team schätzt, dass dafür eine Million Mal mehr Teilchenkollisionen nötig sind als für Antihelium-4 – zu viel für das Leistungsvermögen von RHIC und den Beschleuniger am CERN. Dabei wäre Antilithium etwas Besonderes: Genügend Atome davon würden einen Stoff produzieren, der bei Zimmertemperatur als Festkörper vorläge.

PERIODENSYSTEM DER ANTIELEMENTE?

Wird es jemals möglich sein, schwerere Antiatome oder Antimoleküle zu erschaffen? Oder sogar ein Periodensystem der Antielemente?

Das Hauptproblem ist, dass jedes Antiatom Stück für Stück aus seinen subatomaren Antipartikeln zusammengesetzt werden muss. Für Antideuterium zum Beispiel muss zunächst ein Antiproton mit einem Antineutron verschmolzen werden. Doch Antineutronen sind elektrisch neutral, können also nicht mit elektromagnetischen Feldern bewegt und gespeichert werden. Daher muss eine große Zahl von ihnen produziert werden, damit eines von vielleicht einer Million mit einem Antiproton Kontakt knüpft. „Und für jedes weitere Antineutron oder Antiproton ist eine weitere Million Teilchen erforderlich“, sagt Michael Doser vom CERN.

Hinsichtlich schwerer Antikerne ist Frank Close von der Oxford University daher pessimistisch: „Das könnte noch Millionen Jahre dauern – falls die Menschheit so lange existiert.“ Die größte Chance bietet sich, meint er, wenn man in der Kosmischen Strahlung nach schweren Antipartikeln sucht. Vielleicht gibt es ja irgendwo Antisterne, von denen sich schwere Antielemente ins Sonnensystem bis zur Erde verirrt haben.

Doch die Erzeugung von Antiatomkernen genügt den Physikern nicht. Inzwischen sind sie im Reich der Antiatome angelangt und lernen, damit zu experimentieren. Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten, um die Naturgesetze auszuloten.

Die ersten Antiatome wurden 1995 am CERN von einem Forscherteam unter der Leitung von Walter Oelert geschaffen. Als Rohstoff dienten Antiprotonen. Erzeugt wurden sie, indem Protonen mit dem Proton-Synchrotron auf etwa 25 Gigaelektrononvolt – und somit fast Lichtgeschwindigkeit – beschleunigt und auf einen Metallblock geschossen wurden. Dann leiteten die Forscher die Antiprotonen in den Low Energy Antiproton Ring (LEAR), wo sie auf Xenon-Atome trafen. Bei sehr knappen Vorbeiflügen bildeten sich Elektron- Positron-Paare. Manche der Positronen wurden von den Antiprotonen eingefangen. Das ist ein extrem seltener Vorgang mit einer Häufigkeit von nur etwa 1 zu 1019 – aber er geschah. Genau 9 Antiwasserstoff-Atome mit 90 Prozent der Lichtgeschwindigkeit konnten nachgewiesen werden. 1997 wurde das Experiment am Fermilab in Batavia, Illinois, reproduziert. Hier detektierten die Physiker 66 Antiwasserstoff-Atome.

EIN NEUER BREMSER AM CERN

Im Jahr 2000 trat der Antiproton Decelerator (AD) die Nachfolge von LEAR an. Wie der Name schon sagt, dient der im Umfang 188 Meter messende Speicherring dazu, die einfliegenden Antiprotonen stark zu verlangsamen. Das geschieht sowohl durch elektrische Felder als auch durch eine Wolke aus einigen Millionen Elektronen. (Elektronen und Antiprotonen können sich nicht gegenseitig vernichten, da sie keine direkten Materie-Antimaterie-Gegenstücke sind.) Dabei verlieren die Antiprotonen innerhalb von zwei Minuten enorm viel Energie: Sie werden von 3500 auf 100 Megaelektronenvolt „gekühlt“.

Übrig bleibt eine knapp einen Millimeter große Wolke aus gut 10 000 Antiprotonen bei 100 Kelvin. Diese stehen dann für mehrere Experimente zur Verfügung: ACE, AEGIS, ALPHA, ASACUSA, ATHENA und ATRAP. ACE ist medizinische Grundlagenforschung zur Krebsbekämpfung (siehe Kasten „Antimaterie in der Anwendung“ auf S. 56). In den anderen Experimenten geht es um Antiwasserstoff: seine Herstellung, Kühlung, Speicherung und schließlich Charakterisierung. Denn die Produktion der Atome ist kein Selbstzweck, sondern Voraussetzung für neue Einsichten in die Natur.

ANTIWASSERSTOFF WIE AM FLIESSBAND

Die schwierige Kunst der Antiwasserstoff-Bereitstellung beherrschen die Forscher am CERN inzwischen hervorragend. 2002 konnten in ATHENA (ApparaTus for High precision Experiment on Neutral Antimatter) und ATRAP erstmals Antiwasserstoff in relativ großen Mengen hergestellt werden – etwa 100 Atome pro Sekunde.

ATRAP läuft bis heute erfolgreich. ATHENA – das allein 2002 rund 50 000 Antiwasserstoff-Atome produzierte – wurde 2004 abgeschlossen und Ende 2005 durch das noch effektivere Experiment ALPHA (Antihydrogen Laser Physics Apparatus) ersetzt. Es liefert seit 2010 Antiwasserstoff.

In den Experimenten werden die Antiprotonen aus dem Antiproton Decelerator mit Positronen zusammengebracht, die aus dem positiven Beta-Zerfall von radioaktivem Natrium-22 stammen. Das geschieht in einer Magnetfalle, die die Teilchen vor der Zerstrahlung mit der normalen Materie in der Umgebung schützt. Doch diese Abschirmung funktioniert nur für elektrisch geladene Teilchen. Haben sich ein Antiproton und ein Positron zu einem Antiwasserstoff-Atom verbunden, entkommt dieses neutrale Teilchen mühelos aus dem Gefängnis der Magnetlinien.

Die Kunst, cool zu sein

Doch die Physiker wollen die Antiatome so lange wie möglich behalten. Und das gelingt – wenn man sie ausreichend kühlt, das heißt verlangsamt. Das betrifft in erster Linie die Antiprotonen, bevor sie sich mit Positronen zusammentun. Und dafür haben sich die Forscher einen Trick einfallen lassen.

Antiprotonen und Elektronen sind beide negativ geladen und können daher in demselben elektromagnetischen „Käfig“ eingesperrt werden. Durch die Kollisionen verringert sich ihre Geschwindigkeit rasch. Bereits in einer Minute kommen sie ins Gleichgewicht miteinander und ihrer auf 4 Kelvin (minus 269 Grad Celsius) gekühlten Umgebung. Aufgrund des unvermeidlichen elektrischen Rauschens, das auf Quantenprozesse zurückgeht und wie eine Wärmequelle wirkt, beträgt die Antiprotonen-Temperatur etwa 20 Kelvin. Doch die Elektronen-Kühlung kann die Antiprotonen-Energie um den Faktor 100 000 reduzieren.

Letztes Jahr gelang es, die Antiprotonen noch weiter zu kühlen – auf lediglich 3,5 Kelvin. Dies glückte mithilfe der sogenannten adiabatischen Kühlung. Das Prinzip besteht darin, dass die Temperatur eines Gases abnimmt, wenn es sich ausdehnt. Deswegen bilden sich Wolken, wenn Wasserdampf kondensiert, deswegen funktionieren Kühlschränke, und deswegen fühlt sich ein in einer Spraydose komprimierter Stoff kühl an, wenn er auf die Haut gesprüht wird.

In ATRAP besteht das „Gas“ aus einer Antiprotonen-Wolke. Sie lässt sich kontrolliert ausdehnen, indem man das elektrische Feld ihres Käfigs schwächt. Die Volumenerweiterung geht mit einer Temperaturabnahme einher. Die Physiker maßen sie , indem sie die Zahl der entweichenden Antiprotonen abhängig von der Käfiggröße bestimmten. Aus diesem „Schwanz“ der sogenannten Boltzmann-Verteilung lässt sich die Temperatur errechnen – eine Methode, die Ludwig Boltzmann schon im 19. Jahrhundert etablierte. „Es ist erstaunlich, wie die Physik aus der Zeit vor über 100 Jahren, als noch keiner von Antiprotonen wissen konnte, heute an der vordersten Forschungsfront hilft“, sagt Phil Richerme vom CERN.

Tausend und eine Sekunde

Wie gut die Antimaterie-Manipulation inzwischen funktioniert, hat jüngst das ALPHA-Experiment demonstriert. Damit ist es letztes Jahr gelungen, Antiwasserstoff-Atome für 1000 Sekunden und mehr zu speichern – immerhin rund 10 000 Mal länger als zuvor möglich. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um mit Antiatomen zu experimentieren.

Da Antiwasserstoff elektrisch neutral ist, kann er nicht mit elektrischen Feldern bewegt und gespeichert werden. Aufgrund seines Spins – seines inneren Drehimpulses – hat Antiwasserstoff aber ein magnetisches Moment. Dadurch lässt er sich, wenn er kalt genug ist, in einer speziellen Magnetfalle einsperren. Sie besteht aus dem magnetischen Minimum eines inhomogenen Magnetfelds.

Zuerst hielt das ALPHA-Team die Antimaterie für 0,17 Sekunden in der Magnetfalle, um isolier- te Antiprotonen auszusondern. Dann wurde das Magnetfeld abgeschaltet, worauf die Antiatome entwichen und mit den Atomen der Umgebung annihilierten. So ließ sich nachweisen, dass überhaupt Antiwasserstoff entstanden war. Ein dreischichtiger Silizium-Vertex-Detektor registrierte die Zerstrahlung. All das musste sehr rasch geschehen, weil sonst Kollisionen mit Spurengasen aus normaler Materie in der Magnetfalle den Antiwasserstoff alsbald vernichtet oder aus der Falle herausgestoßen hätten.

Rigorose Tests

Ende 2010 gelang so erstmals der Nachweis von 38 einzelnen Antiatomen. In weiteren Experimenten konnten fast zehnmal so viele Teilchen des Antiwasserstoffs in die magnetische Obhut genommen werden, gaben die Forscher im Juni 2011 bekannt. Außerdem ließen sich bis zu drei Antiatome gleichzeitig einsperren.

Inzwischen ist also das Ziel erreicht, genug Antiwasserstoff hinreichend lange bereitzustellen, um damit direkt zu experimentieren. Im Prinzip sollen alle Versuche wiederholt werden, die Physiker in den letzten 100 Jahren mit Wasserstoff gemacht haben. Wenn es unterschiedliche Ergebnisse gäbe, wäre das eine Sensation. Messungen sollen zum Beispiel klären, ob Licht, das Antiwasserstoff emittiert, dasselbe Spektrum besitzt wie die Strahlung des Wasserstoffs. Schon der kleinste Unterschied würde das Standardmodell der Elementarteilchen in große Schwierigkeiten bringen.

Dass spektroskopische Analysen tatsächlich möglich sind, hat ein Team um Jeffrey Hangst von der Universität Aarhus in Dänemark demonstriert und im März in der Fachzeitschrift Nature beschrieben. Die Forscher erzeugten im ALPHA-Experiment Antiwasserstoff, sperrten einzelne Atome in die elektrischen und magnetischen Felder einer zylindrischen Penningfalle und bestrahlten sie dann mit Mikrowellen variierender Frequenz.

In einem homogenen Magnetfeld richten sich die Spins der Positronen parallel oder antiparallel zu den Feldlinien aus. Diese Aufspaltung des Grundzustands wird Hyperfeinstruktur genannt. Antiwasserstoff mit gleichsinnigem Positronenspin driftet aus der Falle und annihiliert, der mit antiparallelem Spin nicht. Mit Mikrowellen lässt sich der Spin umkehren, sodass dann auch diese Atome entweichen.

Auf diese Weise konnten die Forscher erstmals Übergangsfrequenzen zwischen den Antiwasserstoff-Energieniveaus messen. Im Rahmen der – allerdings noch großen – Messungenauigkeit erfolgt die Hyperfeinstruktur-Aufspaltung des Antiwasserstoffs bei 1420,4 Megahertz wie beim Wasserstoff.

Bald kommt ELENA

Die Antimaterie-Forschung wird noch viele Jahre florieren. Am CERN wurde der Bau eines neuen Antiprotonen-Bremsers beschlossen, dessen Leistung die des Antiproton Decelerators übertrifft. Im gleichen Gebäude soll ELENA (Extra Low Energy Antiproton Ring) entstehen und die Antiprotonen auf nur etwa 100 Kiloelektronenvolt Energie herunterkühlen. Sie werden dabei um den Faktor 1000 verlangsamt – auf ein Fünfzigstel der Geschwindigkeit im AD.

„ELENA wird die energieärmsten Antiprotonen bereitstellen, die es jemals gab“, sagt Projektleiter Stéphan Maury vom CERN. Der Antiprotonen-Einfang wird dadurch 10 bis 100 Mal effektiver. „Das verbessert nicht nur die bestehenden Experimente, sondern ermöglicht auch neue“, sagt Walter Oelert vom Forschungszentrum Jülich. ELENAs Aufbau wird nächstes Jahr beginnen, 2016 soll das Gerät einsatzbereit sein.

„1995 hatten wir nur wenige Atome aus Antiwasserstoff produziert, die sich fast mit Lichtgeschwindigkeit bewegten – entsprechend der 100 000-fachen Temperatur des Sonnenzentrums. Nun können wir Antiwasserstoff fast am absoluten Nullpunkt und in viel größeren Mengen erschaffen“, beschreibt ATRAP-Mitglied Walter Oelert den rasanten Fortschritt der letzten Jahre. Auch wenn aus der Antimaterie sicher keine Bomben gebaut werden wie in Dan Browns Bestseller „Illuminati“ – sie wird auf jeden Fall noch für etliche Überraschungen sorgen. ■

Rüdiger Vaas ist Physik- Redakteur bei bdw. Er würde gern mit Wesen aus Antimaterie kommunizieren – aber mit einem sicheren Abstand.

von Rüdiger Vaas

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