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WER’S GLAUBT, WIRD EHRLICH

Allgemein

WER’S GLAUBT, WIRD EHRLICH
Egal, ob es die umstrittene Willensfreiheit gibt oder nicht – wer an sie glaubt, ist ein besserer Mensch.

Mit dem freien Willen verhält es sich angeblich genauso wie mit manchem kleinen Beamten in einer großen Bürokratie: Obwohl er nur Entscheidungen ausführt, die ganz woanders gefällt wurden, bildet er sich ein, selbst am Drücker zu sitzen. Doch es gibt offenbar einen guten Grund, an der Illusion, wir könnten frei entscheiden, festzuhalten: Das hindert uns daran, unehrlich, herzlos und gemein zu sein, wie die Experimente amerikanischer Psychologen gezeigt haben.

„Der freie Wille ist reine Einbildung“, gingen renommierte Neurowissenschaftler wie Wolf Singer oder Gerhard Roth in den letzten Jahren lautstark an die Öffentlichkeit. Die Empfindung, etwas zu wollen, sei nur ein Echo von unbewussten Prozessen, die zuvor in den Windungen des Gehirns abgelaufen sind. Der Bielefelder Psychologe Hans Markowitsch hat in der Konsequenz sogar gefordert, das dem Strafrecht zugrunde liegende Prinzip der moralischen Schuld aufzugeben und den Schwerpunkt auf die Therapie der Täter und den Schutz der Gesellschaft zu legen. Dass Menschen toleranter und milder werden, wenn sie den Glauben an den freien Willen ablegen – nach dem Motto „Man kann ja nichts dafür“ –, ist allerdings pure Spekulation. „Wer den freien Willen negiert, der entbindet den Menschen von der Verantwortung für sein Tun“, hält der Philosoph Jürgen Habermas den Vertretern des modernen Determinismus entgegen.

Das Rätsel um einen objektiv freien Willen wird womöglich niemals gelöst. Wie sich der subjektive Glaube an die Willensfreiheit auf das moralische Handeln auswirkt, ist dagegen den Methoden der empirischen Forschung zugänglich. So hat der Psychologe Wayne Viney von der Colorado State University schon vor 20 Jahren per Fragebogen die Einstellung zum freien Willen bei 122 Versuchspersonen abgeklopft. Dann erkundigte er sich über ihre Meinung zu 15 Standpunkten, die entweder für ein hartes Vorgehen gegen Kriminelle oder für Milde und Toleranz plädierten. Überraschendes Fazit: Deterministen – also Menschen, die nicht an die Existenz des freien Willens glauben – verhängten freimütig härtere Strafen. Sie orientieren sich pragmatisch an der gesellschaftlichen Kontrollfunktion der Strafe und loten keine moralischen Zwischenstufen aus, glaubt Viney. Für Anhänger der Willensfreiheit sei die Verurteilung eines Straftäters dagegen eine schwierige moralische Angelegenheit, die ein Abwägen von Fairness und Verantwortlichkeit verlangt.

Allerdings gibt die Viney-Studie keinen Aufschluss über Ursache und Wirkung. Dieses Manko haben die beiden amerikanischen Psychologen Kathleen Vohs und Jonathan Schooler in zwei Experimenten behoben. Jeweils 30 Probanden bekamen zunächst einen Text vorgelegt, der entweder die Idee der Willensfreiheit vehement in Frage stellte oder neutral war. Dann sollten beide Gruppen am Monitor 20 knifflige Denksportaufgaben lösen. Dabei sollten sie eine bestimmte Taste drücken, um zu verhindern, dass ihnen durch einen angeblichen Programmierfehler die richtigen Antworten zugespielt würden. Der Versuchsleiter würde nicht erfahren, ob sie dieser Bitte nachkommen. Natürlich erfuhr er es doch – denn das war der eigentliche Test. Resultat: Wer den kritischen Text gelesen hatte, pfuschte im Schnitt bei 14 der 20 Aufgaben, während sich die Unbeeinflussten im Mittel nur 9 Betrügereien leisteten.

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Im zweiten Experiment sollten 122 Probanden bestimmte Aufgaben lösen, und manche von ihnen bekamen vorher wieder einen suggestiven Text vorgelegt. Diesmal sollten die Versuchspersonen selbst bewerten, wie gut sie abgeschnitten hatten, und sie durften für jede richtige Antwort einen Dollar Belohnung einheimsen. Auch sie wurden im Irrglauben gelassen, dass der Experimentator Betrügereien nicht herauskriegen würde. Mit ähnlichem Ergebnis: Probanden mit erschüttertem Glauben an die Willensfreiheit sahnten im Durchschnitt zehn Dollar ab, während sich ihre unbeeinflussten Mitstreiter lediglich sieben Dollar in die Tasche spielten.

AGGRESSIV UND UNsozial

Eine Forschergruppe um den Psychologen Roy Baumeister von der Florida State University hat in einer noch unveröffentlichten Studie untersucht, wie sich das Infragestellen des freien Willens auf Aggressivität und Hilfsbereitschaft auswirkt. 56 Probanden bekamen zunächst 15 Aussagen vorgesetzt, die entweder neutral waren oder den freien Willen anzweifelten. Dann wurden sie aufgefordert, einem anderen Probanden einen kleinen Imbiss mit mehr oder weniger Chili zuzubereiten, wobei ihnen mitgeteilt wurde, dass der Betreffende scharfes Essen nicht mögen würde. Die Propaganda für den Determinismus förderte auch diesmal gemeines Verhalten: Die Testpersonen dieser Gruppe servierten ihren Schützlingen insgesamt etwa doppelt so viel scharfe Sauce wie die Probanden in der neutralen Kontrollgruppe.

Auch die Bereitschaft, Menschen aus der Patsche zu helfen, hat etwas mit der Einstellung zum freien Willen zu tun. Die Psychologen bearbeiteten zunächst die Hälfte von 70 Probanden durch einen einschlägigen Text. Dann bekamen beide Gruppen Szenarien vorgelegt, die Menschen in verschiedenen Notlagen zeigten. Abgefragt wurde die Neigung, dem Pechvogel zur Seite zu stehen. Fazit: Die Freiheitsgegner äußerten eine wesentlich geringere Bereitschaft, sich für die Notleidenden einzusetzen als die anderen. Offenbar handelt es sich bei dem Glauben an einen freien Willen um eine „positive Illusion“, die im Alltag nützt. Das dachte auch Immanuel Kant: Er hielt die Freiheit für eine notwendige Voraussetzung dafür, dass der Mensch die Gebote der Vernunft als gültig ansehen kann.

Das weckt eine Befürchtung, die schon der US-amerikanische Biophilosoph Daniel Dennett hegte: Die lautstarken Appelle, die Idee der Willensfreiheit zu begraben, könnten zu unmoralischem und unsozialem Verhalten führen. Doch so groß ist die Gefahr vermutlich nicht. Denn als Psychologen der Universität Chemnitz kürzlich 2000 Psychologen, Hirnforscher und Biologen nach ihrem Standpunkt befragten, stellte sich heraus: 80 Prozent dieser Wissenschaftler glauben an die Willensfreiheit – zumindest an eine schwache Form, die mit dem Determinismus vereinbar ist. ■

von Rolf Degen

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