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Wird Ötzi ausgestellt?

Allgemein

Wird Ötzi ausgestellt?
Die weltberühmte Mumie bekommt ein eigenes Haus in Bozen. Nach 5000 Jahren im Gletschergefängnis und sechs Jahren in den Fängen der Wissenschaft hat Ötzi nun seine letzte Reise angetreten – Ruhe wird er jedoch nicht bekommen.

An diesem letzten Januar-Wochenende gibt es in der südtiroler Landeshauptstadt Bozen einen großen Auftrieb aller, die mit dem Eismann vom Hauslabjoch zu tun hatten oder sich mit ihm schmücken wollen. Per Hubschrauber von der österreichischen Universität Innsbruck eingeflogen, wird er mit drei Tage währendem Gepränge in sein neues Domizil gebettet. Prof. Werner Platzer, als Chef der Innsbrucker Anatomie Ötzis Gastgeber in den letzten Jahren, wird froh sein, seinen teuren Untermieter loszuwerden. Das Archäologie-Departement am Inn wird wieder auf Normalmaß schrumpfen. Die Südtiroler spekulieren auf einen Schub im regionalen Tourismusgeschäft. Das eigens umgebaute ehemalige Bankgebäude in Bozen soll zwar das allgemeine Archäologie-Museum der Region sein, zweifellos aber wird der Ahn aus dem Eis die Hauptattraktion werden – zumal, wenn dort die Mumie zu besichtigen ist.

Am 19. September 1991 gab der Similaun-Gletscher in den Ötztaler Alpen für einen Wimpernschlag der Geschichte seinen Gefangenen frei. Vor rund 5300 Jahren hatte das Eis den steinzeitlichen Wanderer in 3200 Meter Höhe in einer Geländemulde eingesargt. Erst der von Schwundsucht befallene Gletscher öffnete das Grab (bild der wissenschaft 3/1992, „Der Bote aus der Steinzeit“).

Die Mumie vom Similaun avancierte nach ersten Fehleinschätzungen und Ungeschicklichkeiten der Verantwortlichen in Innsbruck rasch zum Star in Wissenschaft und Öffentlichkeit – kein Wunder: Ötzi ist der älteste und bislang einzige vollständig erhaltene Kronzeuge aus einer wichtigen Endphase menschlicher Entwicklung. Der etwa 45jährige Mann wurde an der Nahtstelle zwischen Stein- und ganz früher Bronzezeit aus dem Leben gerissen – und ist heute so gut erhalten, daß ein Augenzeuge des Funds sagte „Der schaut einen doch an.“

Anregungen für Phantasie und Forschung lieferte die „Jungneolithische Mumie aus dem Gletscher vom Hauslabjoch, Gemeinde Schnals, Autonome Provinz Bozen“, so Ötzis offizieller Name, genug: Was treibt einen für Steinzeitverhältnisse alten Mann, der zudem verletzt ist, zum Wintereinbruch in menschenfeindliche Alpenpaßhöhen? Die Kleidung war intakt und angemessen, die Waffen dagegen nur zum Teil gebrauchsfertig. Woher kam Ötzi? War er allein? Wie starb er?

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Diese Fragen sind im besten Fall spekulativ beantwortet (bild der wissenschaft 9/1996, „Neue Einsichten vom Eismann“). Hinter fast jedem Erklärungsver-such steht ein einschränkendes „aber“. Ötzi wird auch weiterhin keine Antwort geben auf die Frage: „Wer bist du?“

Gute Auskunft gab der Zeuge aus dem Eis dagegen den Biologen – über die Umwelt in der ausgehenden Steinzeit. Klar wurde auch, daß schon in dieser frühen Menschheitsgeschichte ein regelmäßiger „Handelsverkehr“ zwischen dem sonnigen Süden und dem Norden bis hin zum Bodensee herrschte – über den Alpenhauptkamm hinweg.

Die Medizin hat „Frozen Fritz“ mit High-Tech gelöchert und durchleuchtet, Computer-berechnet und Tomographen- seziert. Seine Leber zum Beispiel ist derartig verändert, daß Spekulationen über seinen Alkoholkonsum aufkamen. In seinem Darmtrakt fanden die medizinischen Invasoren die Eier von Peitschenwürmern, die belegen, daß Ötzi unter schwerem blutigen Durchfall litt.

Derlei Einzelergebnisse verbergen sich in zahllosen Beiträgen in Fachpublikationen. Es gibt bis heute keine Zusammenschau, die dem wissenschaftlichen oder menschlichen Stellenwert des Themas angemessen wäre.

Ein gerüttelt Maß Schuld daran tragen Wissenschaftler der Innsbrucker Hochschule, die dieses einzigartige Welterbe als universitäres Eigentum betrachteten, Informationen gar nicht oder nur an genehme und zahlungswillige Journalisten herausrückten und selbst beteiligte externe Forscher mit Knebelverträgen an einer effektiven Verbreitung ihrer Erkenntnisse hinderten – ein Beispiel zum Thema „Freiheit der Wissenschaft“.

Mit dem 31. Dezember letzten Jahres lief nun der Vertrag zwischen Italien und Österreich aus, der der Universität Innsbruck die Verwertungs- und Forschungsrechte an der Steinzeit-Mumie einräumte. Interessierte Kreise südlich der Alpen haben die Rückkehr des Eismannes nach Südtirol durchgesetzt, wissenschaftliche Überlegungen spielten dabei keine Rolle. Es war eine politische Entscheidung, nach dem Motto: Ötzi wurde auf italienischem Staatsgebiet gefunden, also wollen wir ihn auch haben.

Die neugegründete Universität Bozen hat keine medizinische Sektion: von ihr können die ausstehenden Forschungen zu Ötzis Innenleben also nicht geleistet werden – etwa die Untersuchung des steinzeitlichen Blutes, die Auskunft geben könnte über das Immunsystem vor 5000 Jahren. Dennoch gibt sich der Innsbrucker Ötzi-Hüter Platzer für den Fortgang der Forschung optimistisch: „Das birgt keine Probleme.“

Das Hauptproblem der Umbettung liegt wohl an anderer Stelle: Es gibt starke (politische) Kräfte in Italien, die den Steinzeitmenschen – ethische Fragen interessieren offenbar nicht – zur Schau stellen wollen. Dafür allerdings erheischen sie eine verbindliche Erklärung von der Wissenschaft, daß die Mumie dadurch keinen Schaden nehmen wird. Diese Garantie lag bis zum Redaktionsschluß Mitte Dezember noch nicht vor.

Technisch ist in Bozen alles für eine Zurschaustellung vorbereitet. Ötzi – bislang in Eis und Leinen verhüllt und nur für Untersuchungen und TV-Aufnahmen entblättert – soll „nackt“ auf einem Metallbett, das zugleich als Waage dient, gelagert werden. Gewichtsabnahme würde einen gefährlichen Feuchtigkeitsverlust und damit eine Veränderung der Mumie anzeigen.

Die mikroklimatischen Bedingungen in diesem Sarkophag haben die Techniker mit anonymen, von der Universität Innsbruck gelieferten Gletscherleichen so lange optimiert, bis die Versuchsmumien kein Wasser mehr verloren. Durch ein 40 mal 40 Zentimeter großes Fenster wird Ötzi dann dem Publikum preisgegeben.

Michael Zick

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