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Wo die Sonnen einander fressen

Allgemein

Wo die Sonnen einander fressen
Kugelsternhaufen sind keineswegs so stabil und statisch, wie die Astronomen lange dachten. Ihre turbulente Dynamik führt sogar zu einem bitteren Ende: Sterne kollidieren miteinander oder verschlingen sich gegenseitig.

„zu wenig zeit genommen / für die Betrachtung der Sterne. / Ich rede nicht von Teleskopen. / Ich spreche von einer Dachluke / in einer ganz gewöhnlichen wolkenlosen Nacht“, ermahnte sich der 2003 gestorbene Dichter Rainer Malkowski in seinem Gedicht „ Sterne“. „Nicht, was ich nicht weiß, / reut mich. / Mich reut der nachlässige Gebrauch / meiner Augen.“

Doch selbst die besten Augen und eine Dachluke reichen nicht aus, um die majestätischsten Gebilde im Universum zu erblicken: die Kugelsternhaufen. Auch in kleinen Teleskopen erscheinen sie nur als verwaschene Fleckchen. Erst in größeren Instrumenten entfalten sie ihre Pracht: 100 000 bis 1 Million Sterne sind in einem sphärischen Volumen von wenigen Dutzend Lichtjahren Durchmesser versammelt. Zum Vergleich: Die 100 000 Lichtjahre große Milchstraße, unsere Heimatgalaxie, besteht aus über 100 Milliarden Sternen.

Neuerdings nehmen sich die Astronomen wieder mehr Zeit für die Kugelsternhaufen, denn es reut sie, was sie alles nicht von ihnen wissen, um noch einmal Malkowskis Gedicht anzusprechen. Und die Anstrengungen der Forscher lohnen sich: In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass die auf den ersten Blick so einfach erscheinenden Sternkonglomerationen wesentlich komplexer und dynamischer sind als gedacht. Überraschende Details kamen ans Licht:

• Die Kugelsternhaufen sind keineswegs so statisch und stabil, wie die großartigen Fotos von ihnen vermuten lassen, sondern es geht sehr turbulent in ihnen zu. Mit der Zeit lösen sie sich sogar auf oder werden durch den Schwerkraft-Einfluss ihrer Umgebung förmlich zerschreddert.

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• Kugelsternhaufen sind die Heimat exotischer Himmelskörper, die es nur dort in großer Zahl gibt. Sie beherbergen sogar uralte Planeten.

• Kugelsternhaufen sind für Astrophysiker ideale Objekte – etwa zur Erforschung der Sternentwicklung und für Entfernungsmessungen.

• Kugelsternhaufen sind außerdem kosmische Fossilien, die einiges über das junge Universum verraten. Dabei ist ihre Entstehungsgeschichte weitaus verwickelter als bislang angenommen, und auch keineswegs zu Ende (siehe Beitrag „ Methusalem im Universum“).

• Und schließlich sind Kugelsternhaufen Orte brachialer Prozesse, bei denen Sterne miteinander kollidieren oder sich gegenseitig „auffressen“.

Dass ein solcher stellarer Kannibalismus möglich ist, wo doch normalerweise Billionen von Kilometern einzelne Sterne voneinander trennen, liegt an der extrem hohen Sterndichte der Haufen. Selbst in den Randbezirken ist sie 10-mal so hoch wie in der Umgebung unseres Sonnensystems, im Haufenzentrum sogar zuweilen eine Million Mal so hoch. Befände sich die Erde dort – und nicht in einem mittelmäßigen Spiralarm einer Durchschnittsgalaxie –, würden 10 000 Sterne so hell wie Sirius am Himmel prangen und zum Teil sogar tagsüber sichtbar sein. Sie wären alle näher als der sonnennächste Stern Proxima Centauri mit seinen 4,3 Lichtjahren Distanz (das 215 000-Fache des Abstands zwischen Sonne und Erde).

Seit 1665 haben Astronomen Hunderttausende von Kugelsternhaufen gesichtet. Doch zur Milchstraße gehören nur etwa 150. Bloß ein kleiner Teil dieser galaktischen Kugelsternhaufen befindet sich in der Scheibe. Die meisten Haufen sind sphärisch um die Milchstraße verteilt und schwirren um das Galaktische Zentrum wie Motten ums Licht – allerdings in vielen Tausend Lichtjahren Entfernung. Sie halten sich dabei in einem Volumen mit mehr als 130 000 Lichtjahren Radius auf und haben einen typischen Abstand von etwa 30 000 Lichtjahren zueinander. Die meisten Kugelsternhaufen sind über zehn Milliarden Jahre alt – also gut doppelt so alt wie unsere Sonne – und bestehen größtenteils aus sich nur langsam entwickelnden rötlichen Zwergsternen.

Bis Ende der Siebzigerjahre galten Kugelsternhaufen als ziemlich statische Gebilde. Das folgte aus den Gleichgewichtsmodellen, die die Verteilung der Sterne gut beschreiben konnten. „Diese Sichtweise hat sich in den letzten 20 Jahren stark gewandelt“, sagt Holger Baumgardt von der Universität Bonn. Aus zweierlei Gründen: Es gibt viele neue Beobachtungen und immer leistungsfähigere Com- putersimulationen.

Die Rechnungen, an denen Baumgardt einen wichtigen Anteil hat, wurden vor allem durch Spezialcomputer ermöglicht, die Astrophysiker der Universität Tokio seit 1989 entwickeln: GRAPE (GRAvity PipE, New-tonian force accelerator). Diese ultraschnellen Prozessoren verfolgen nur einen Zweck: Sie berechnen gravitative Wechselwirkungen zwischen Sternen. Ein Kugelsternhaufen ist hierfür geradezu ein Idealfall, denn er enthält kein Gas mehr, sodass nur die Schwerkraft der Sterne eine Rolle spielt. Die aktuelle Version, GRAPE-6, kann die Bahnen von über einer Million Sternen simulieren – und zwar von Doppelsternen, die sich im Takt von wenigen Stunden umkreisen, bis zu den Orbitalen der äußeren Gestirne über einen Zeitraum von zehn Milliarden Jahren.

Diese Vielkörper-Probleme stellen extreme Anforderungen an die Rechenkapazität. Das nächste Modell, GRAPE-DR, ist schon im Bau und wird die Rechengeschwindigkeit noch einmal um den Faktor 15 steigern. „Wir kommen unserem Ziel immer näher, Kugelsternhaufen von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod zu simulieren“, freut sich Simon Portegies Zwart von der Universität Amsterdam. Dabei ist entscheidend, dass die Sterne nicht wie sonst in der Milchstraße quasi isoliert voneinander sind, sondern sich gegenseitig beeinflussen. Zwart spricht von „stellarer Ökologie“: „Wir haben den Begriff von der Biologie geborgt.“ Im Computer lässt sich dieser Umwelteinfluss berechnen. „Alles ist quasi in einem großen Topf von Wechselwirkungen – und wir schauen uns an, was dabei Schönes entsteht.“

Doch die Entwicklung nimmt unweigerlich irgendwann ein bitteres Ende. „Sobald sich ein Kugelsternhaufen gebildet hat, beginnt er auch schon zu sterben“, sagt Stephen Zepf von der Michigan State University in East Lansing. Obwohl die meisten Haufen über zehn Milliarden Jahre alt sind, werden sie nicht ewig bestehen, sondern lösen sich auf – meist lange bevor ihre Sterne erlöschen. Und viele haben sogar bereits aufgehört zu existieren, schließen die Forscher aus ihren Modellen und einigen noch beobachtbaren Relikten.

Es gibt vier Auflösungsmechanismen: Gasverlust, Sternentwicklung, Relaxation und Gezeitenstörungen. Welche Rolle sie spielen, hängt vom Alter und der Umgebung des Kugelsternhaufens ab. Als Erstes geht das Urgas verloren, aus dem sich der Haufen gebildet hat: Die Entstehung von Sternen aus dem Urgas hat eine Effizienz von höchstens 30 Prozent, mehr als die Hälfte des Gases verdichtet sich also nicht zu Sternen. Aber es bleibt nicht im Kugelsternhaufen, sondern wird durch die Winde massereicher Sterne und durch Sternexplosionen davongeblasen. Während das Gas schwindet, dehnt sich der Haufen aus, weil die Gesamtschwerkraft abnimmt. Dadurch verlieren viele Sterne ihre gravitative Bindung. „Ein signifikanter Teil der Haufen scheint die ersten zehn Millionen Jahre nicht zu überstehen“, sagt Holger Baumgardt. Er nennt das ein „kosmisches Kindersterblichkeitsproblem“. Sorgfältige Analysen der Haufen, die sich bei der Kollision der beiden Antennengalaxien im Sternbild Rabe gebildet haben, lassen denselben Schluss zu: Das mittlere Alter der Haufen liegt bei nur zehn Millionen Jahren – viele scheinen also rasch zerrissen zu werden.

Der nächste vernichtende Schritt ist eine Folge der Sternentwicklung: Die massereicheren Sterne verzehren ihren Brennstoff innerhalb weniger Jahrmillionen. Ihre Sternwinde und Explosionswolken bei den Supernovae entweichen ebenfalls aus dem Kugelsternhaufen. Dadurch gehen bis zu 30 Prozent seiner Masse verloren. Das trägt wiederum zu seiner Ausdehnung bei, die das Abwandern von Sternen erleichtert.

Den dritten Prozess, der die Kugelsternhaufen destabilisiert, nennen Astronomen Relaxation (von englisch „relaxation“, Lockerung). Sie ist eine Folge der gravitativen Wechselwirkung zwischen den Sternen. In Kugelsternhaufen kommen sich die Sterne immer wieder so nah, dass sie sich von ihrer Bahn ablenken und sogar aus dem Haufen hinauskatapultieren können. Dadurch fliegen immer wieder Sterne in den intergalaktischen Raum – die Haufen „ verdampfen“ allmählich, wie die Astronomen sagen. „Die Teilchen im ,Gas‘ sind Sterne, nicht Moleküle – aber es ist dieselbe Physik“, sagt Frederic Rasio von der Northwestern University in Evanston, Illinois. Die wichtigste Rolle spielen die Doppelsterne: „Die meiste Energie eines Haufens steckt in diesen stellaren Molekülen“, betont Piet Hut vom Institute for Advanced Study in Princeton, New Jersey. „Sie kann freigesetzt werden, wenn der Doppelstern mit einem anderen, einzelnen Stern wechselwirkt. Dadurch kann sich der ganze Haufen aufheizen.“

Computersimulationen zeigen, dass ein knappes Dutzend Doppelsterne mehr Gravitationsenergie haben kann, als die Bindungsenergie des ganzen übrigen Haufens beträgt. Aber die Schwerkraft-Schleudereffekte sind keineswegs nur zerstörerisch. Ohne Doppelsterne wären Kugelsternhaufen wesentlich kurzlebiger, denn sie verhindern eine gravitative Implosion. Fünf bis zehn Prozent Doppelsterne in einem Haufen reichen aus, um ihn so weit aufzuheizen – also die mittlere Geschwindigkeit der Sterne so groß zu machen –, dass die Schwerkraft nicht das ganze System in sich zusammenstürzen lässt.

Trotzdem kommt es bei vielen Kugelsternhaufen zu einem „ Kernkollaps“, wie die Astronomen sagen. In diesen Haufen – bei denen der Milchstraße sind es ungefähr 20 Prozent – steigt die Dichte zum Zentrum hin immer weiter an: bis zum Zehntausendfachen der Dichte „normaler“ Kugelsternhaufen. Solche „Core collapse“ -Haufen sind zum Beispiel M 15 und NGC 6397. 47 Tucanae (NGC 104) kollabiert zurzeit. Der 16 000 Lichtjahre entfernte Kugelsternhaufen hat die Masse von einer Million Sonnen und eine Gesamtleuchtkraft von 750 000 Sonnen. Er ist nicht nur einer der nächstgelegenen und massereichsten, sondern auch einer der dichtesten Haufen am Südhimmel. Die Hälfte seiner Masse steckt in den innersten 25 Lichtjahren (Gesamtdurchmesser: rund 120 Lichtjahre).

Der Kernkollaps ist das Ende einer Dynamik, die Astronomen „ Massentrennung“ nennen („mass segregation“). Dabei sortiert die Natur gleichsam die Sterne: Massereichere Sterne sinken in den Kern, masseärmere wandern an die Peripherie des Kugelsternhaufens. Dieser Vorgang wurde in der Theorie schon vor vielen Jahren beschrieben, doch erst jetzt direkt beobachtet.

Dafür waren aufwendige Messungen mit dem Hubble-Weltraumteleskop nötig. Im Lauf von sieben Jahren fotografierte es immer wieder die innersten sechs Lichtjahre von 47 Tucanae. Das ermöglichte den Astronomen, den Ort und die Geschwindigkeit von 150 000 Sternen genau zu vermessen. Niemals zuvor gab es eine so detaillierte Analyse eines Kugelsternhaufens. Die Sterne bewegen sich im Jahr nur um ein zehnmillionstel Grad – das entspricht dem Durchmesser einer 1-Cent-Münze, betrachtet aus 7000 Kilometer Entfernung. Um diese Messgenauigkeit zu erreichen, hätten Teleskope auf dem Erdboden aufgrund ihres unschärferen „Blicks“ fast ein Jahrhundert lang Fotos machen müssen. Doch auch mit den Hubble-Messungen war die Datenauswertung extrem schwierig – ungefähr so, als wollte man aus ein paar Schnappschüssen von einem Fußballspiel dessen Regeln erschließen. Das internationale Astronomenteam um Georges Meylan von der Ecole Polytechnique Federale de Lausanne (EPFL) im schweizerischen Sauverny musste ganz neue Analysemethoden entwickeln, um die Dynamik von 47 Tucanae zu verstehen. Ganz ist das noch nicht gelungen. Denn Modellrechnungen zufolge müssten viele Sterne so rasch aus dem Kern „gespuckt“ werden, dass dieser sein Alter gar nicht hätte erreichen dürfen. Fest steht immerhin, dass das gravitative Billard der Sterne in 47 Tucanae schon zu einer weitgehenden Massentrennung geführt hat.

Noch in anderer Hinsicht sorgte 47 Tucanae in letzter Zeit für Aufsehen: Francesco Ferraro von der Universität Bologna fand mit seinen Kollegen dort Spuren von Stern-Kannibalismus. Die Astronomen hatten über 4000 Sterne im innersten Kubiklichtjahr des Haufens ins Visier genommen. Dabei konnten sie 43 sogenannte Blue Stragglers identifizieren. Verglichen mit gewöhnlichen Sternen derselben Leuchtkraft sind diese Sterne nicht nur doppelt so massereich, sondern auch extrem heiß und daher bläulich. Das lässt sie jünger erscheinen – obwohl alle Sterne in einem Kugelsternhaufen ungefähr gleich alt sind. Deswegen werden sie als Blue Stragglers bezeichnet: Blaue Nachzügler. Sie rotieren übrigens so rasant, dass sie von den Zentrifugalkräften fast auseinandergerissen werden.

Schon in den Sechziger- und Siebzigerjahren wurde vermutet, dass die Nachzügler das Ergebnis brachialer Ereignisse sind, bei denen zwei Sterne zu einem einzigen werden. Zwei Prozesse führen dazu: Entweder bläht sich ein Stern auf und wird allmählich von seinem masseärmeren, aber kompakteren Begleiter aufgesaugt, der sich dann in einen Blue Straggler verwandelt. Oder zwei Einzelsterne nähern sich einander so sehr, dass sie um einen gemeinsamen Schwerpunkt zu kreisen beginnen und in einem Schwerkrafttanz aufeinander zuspiralisieren, bis sie in einem flammenden Inferno verschmelzen. Das Kollisionsprodukt ist streng genommen zunächst gar kein „richtiger“ Stern, denn es dauert Jahrtausende, bis die Kernfusion in dem aufgemischten Sternzentrum wieder in Gang kommt.

Diese beiden Vorgänge – Stern-Kannibalismus und -Verschmelzung – ereignen sich hin und wieder auch außerhalb von Kugelsternhaufen, denn Blue Stragglers werden auch an anderen Orten gefunden. Doch aufgrund der hohen Sterndichten sind sie in den Haufen sehr viel wahrscheinlicher.

Dass diese Vorstellungen richtig sind, hat nun die Studie von Ferraros Team bei 47 Tucanae gezeigt. Die Astronomen hatten die Blauen Nachzügler mit dem FLAMES/Giraffe-Instrument am Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte in Chile spektroskopiert. Bei 6 der 43 Sterne, die mindestens sieben Milliarden Jahre alt sind, stellten die Forscher ein markantes Defizit an Kohlenstoff und Sauerstoff fest – ein Anzeichen dafür, dass Materie aus dem Sterninneren an die Oberfläche gelangt ist und heißes Plasma von einem Stern zu einem anderen übertragen wurde. Genau das geschieht bei Stern-Kannibalismus, nicht aber bei einer direkten Stern-Verschmelzung.

Es stellte sich außerdem heraus, dass die Nachzügler sich langsamer bewegen als die Durchschnittssterne. „Sie stecken im Zentrum gleichsam fest, weil sie schwerer sind als die meisten anderen Sterne“, kommentiert Jay Anderson von der Rice University in Houston, Texas, der zu Ferraros Team gehört.

Direkte Kollisionen von frei beweglichen Einzelsternen – sozusagen Verkehrsunfälle – sind allerdings selbst im dichten Gewimmel des Haufenzentrums sehr unwahrscheinlich. Doch Einzelsterne können mit einem der häufigen Doppelsternsysteme zusammenstoßen, ohne dass es zu einer Berührung der Himmelskörper kommt. Bei diesem gravitativen Durcheinander wird häufig einer der beiden Sterne aus dem System herausgeschleudert und der andere nimmt seine Position ein. Ein solcher Partnerwechsel führt dann nicht selten zu intimem Kontakt – und wenig später wird ein Blauer Nachzügler geboren.

Relaxation und Massensortierung ändern also die Struktur eines Kugelsternhaufens beträchtlich und lassen ihn langsam „verdampfen“ , weil immer wieder massearme Sterne fortgeschleudert werden. Für isolierte Haufen ist dieser Prozess aber nicht sehr effizient – eine Auflösung dauert weit länger als zehn Milliarden Jahre. „Die Relaxation bringt Kugelsternhaufen zur Expansion, aber löst sie nicht auf“, schließt Baumgardt.

Die Gefahr steckt freilich nicht nur im Inneren, sondern droht auch von außen. Und die Relaxation führt dazu, dass der „äußere Feind“ leichteres Spiel hat. Gemeint sind die Gezeitenkräfte der Galaxie (und eventuell auch zusätzlicher Zwerggalaxien), um die die Haufen kreisen. Besonders bei engen Bahnen ums Galaxienzentrum und bei elliptischen Bahnen der Kugelsternhaufen nagt dieser Schwerkraft-Einfluss an der Peripherie der Haufen. Schwach gebundene Sterne werden als Erstes zur Beute und dem Haufen entrissen.

Einige Kugelsternhaufen, die einen solchen Tribut an die Milchstraße bezahlen mussten, sind bereits bekannt. So hat ein Astronomenteam um Guido De Marchi mit dem Hubble-Weltraumteleskop und dem Very Large Telescope die Farben und Helligkeiten von über 16 000 Sternen in M 12 gemessen. Der Kugelsternhaufen liegt 16 000 Lichtjahre entfernt im Sternbild Schlangenträger. „Wir fanden sehr wenig massearme Sterne – viel weniger als erwartet“, fasst De Marchi von der Europäischen Raumfahrtagentur ESA im holländischen Noordwijk das Ergebnis zusammen. Anscheinend sind besonders die peripheren Sterne mit etwa einem Drittel der Masse unserer Sonne von der Milchstraße einverleibt worden. Indizien für fehlende massearme Sterne fanden die Astronomen auch bei den rund zwölf Milliarden Jahre alten Kugelsternhaufen NGC 6218 und NGC 2298. Sie lösen sich – wenn es nicht künftig weitere Störungen gibt – erst in 30 Milliarden Jahren auf. Diese Kugelsternhaufen haben allerdings eine große Distanz von bis zu 22 000 Lichtjahren von der Galaktischen Ebene, die sie alle 300 Millionen Jahre einmal umkreisen.

Doch Sternenraub ist nicht alles. Durch die Gezeitenkräfte können Galaxien ihre Kugelsternhaufen auch regelrecht zerfetzen, wie Astronomen bereits in den Sechzigerjahren berechneten. Das ist nicht nur Theorie, sondern lässt sich inzwischen auch beobachten.

ein solches Gezeitenopfer, Palomar 5 oder Pal 5 genannt, hat ein Team um Michael Odenkirchen vom Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg, erstmals 2002 in den Daten des Sloan Digital Sky Survey (SDSS) gefunden. Diese Himmelsdurchmusterung ist noch nicht abgeschlossen und wird vom 2,5-Meter-Teleskop des Apache Point Observatory, New Mexico, mit speziellen Filtern unternommen. Pal 5 ist ein leicht S-förmiger Sternenstrom um einen zerfetzten Kugelsternhaufen. Er erstreckt sich über 20 Vollmond-Durchmesser am Himmel, was bei einer Entfernung von 75 000 Lichtjahren rund 13 000 Lichtjahren Länge entspricht. Die ungefähr 10 000 Sterne von Pal 5 sind zehn Millionen Mal lichtschwächer als die gerade noch mit bloßem Auge sichtbaren, und sie sind schwer unter den anderen Sternen im Vorder- und Hintergrund auszumachen. Daher wurde Pal 5 nicht früher entdeckt. „Bemerkenswerterweise steckt mehr Masse in den S-förmigen Schwänzen als im restlichen Haufen“, sagt Odenkirchen. „Wir werden den Strom künftig wohl über eine noch größere Länge nachweisen können.“

Die Trümmer weiterer Kugelsternhaufen haben Carl Grillmair vom California Institute of Technology in Pasadena und Roberta Johnson von der California State University in Long Beach letztes Jahr in den SDSS-Daten entdeckt. Ein 75 000 Lichtjahre langer Sternenschwanz erstreckt sich von NGC 5466 zwischen den Sternbildern Großer Wagen und Bootes. Und noch zwei andere Bänder aus Sternen haben die Astronomen gefunden. Die Geschwindigkeiten ihrer Sterne unterscheiden sich nur um wenige Kilometer pro Sekunde im Gegensatz zu den Sternen in der Milchstraße – was ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe verrät.

„Pal 5 ist typisch für einen Haufen, der von den Gezeitenkräften zerrissen wird“, sagt Steven Majewski von der University of Virginia in Charlottesville. „Der äußere Halo der Milchstraße ist fast vollständig von einem Netz solcher Sternenströme durchzogen.“ Spuren von mindestens 20 Trümmerbändern glauben die Astronomen schon identifiziert zu haben. Die geschredderten Geister einstiger Kugelsternhaufen sind durchaus nützlich für die Wissenschaftler: Sie lassen sich als natürliche Sonden verwenden, um die Masseverteilung der Dunklen Materie im Galaktischen Halo zu messen. Die bisherigen Daten stimmen mit der Vorstellung überein, dass diese mysteriöse Schattenmaterie homogen verteilt ist und nicht klumpig – wahrscheinlich besteht sie aus noch unbekannten Elementarteilchen.

Möglicherweise hat allein die Milchstraße 350 bis über 1000 Kugelsternhaufen durch die Gezeitenkräfte verloren. Und die Übriggebliebenen heute müssen nicht einmal typisch sein, sondern könnten durchaus mehr Masse und einen größeren Bahndurchmesser haben als der frühere Durchschnitt. „Es könnte einst eine Ansammlung fragiler Objekte gegeben haben, von denen wir heute kein einziges mehr beobachten, weil sie vollständig zerstört wurden“, spekuliert Stephen Zepf.

Die Gezeitenkräfte können allerdings auch Kugelsternhaufen erzeugen – nämlich dann, wenn ganze Zwerggalaxien durch die Gravitationsmühle gedreht und gewissermaßen „skalpiert“ werden (siehe Beitrag „Abgenagte Galaxien“). Obwohl die kosmischen Fossilien nicht ewig existieren, bleibt für Astronomen also noch ausreichend Zeit, die Sterne zu betrachten – durch Dachluken und durch Superteleskope. Rüdiger Vaas ■

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Kugelsternhaufen sind extrem stabil, wenn sie nicht von außen gestört werden. Die Grafik zeigt die Lebensdauer abhängig von der Masse für drei Haufen mit kreisförmigen Bahnen um die Milchstraße und für einen mit einer stark elliptischen Bahn. Je stärker die Gezeitenkräfte der Galaxie wirken, desto schneller lösen sich die Haufen auf. Die Daten beruhen auf Simulationen mit dem japanischen GRAPE-6-Computer.

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· Kugelsternhaufen bestehen aus über 100 000 Sternen, die um ein dichtes Zentrum wirbeln.

· Durch Sternbegegnungen und äußere Gezeitenkräfte lösen sich die Haufen mit der Zeit auf.

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Der erste Kugelsternhaufen, später M 22 genannt, wurde 1665 von dem deutschen Amateurastronomen Abraham Ihle entdeckt, der aber noch nicht verstand, was er da sah. Weitere Pioniere waren Edmond Halley, der Omega Centauri (1677) und M 13 (1714) fand, Gottfried Kirch sowie Abbé Lacaille. Ein verwaschenes Lichtfleckchen (M 4) erstmals in Sterne aufgelöst hat der Kometenjäger Charles Messier.

Der in England forschende und aus Hannover stammende William Herschel erkannte bei seiner Himmelsdurchmusterung 1782 alle damals bekannten 33 Kugelsternhaufen als sphärische Stern-Konglomerationen und entdeckte 37 weitere. Er prägte 1789 auch den bis heute gängigen Namen „Globular Cluster“ (von englisch „globular“, kugelförmig). Herschel fand außerdem heraus, dass die meisten Kugelsternhaufen in Richtung des Sternbilds Schütze liegen. Dies veranlasste seinen Sohn John Herschel zu argumentieren, dass unsere Sonne nicht, wie damals noch vielfach behauptet, im Zentrum der Milchstraße sein könne. Mittlerweile sind Astronomen sogar in der Lage, die Entfernung der Sonne vom Galaktischen Zentrum, das sich im Schützen befindet, anhand der gemessenen Positionen und Geschwindigkeiten von Kugelsternhaufen abzuschätzen.

Im 20. Jahrhundert stieg die Zahl der bekannten Kugelsternhaufen der Milchstraße rasch an. Inzwischen sind 152 verzeichnet. Die jüngste Entdeckung hat ein Team um Dirk Froebrich von der University of Kent im März 2007 publiziert: den 30 000 Lichtjahre fernen FSR 1735 in der Milchstraßenscheibe. Noch 10 bis 50 weitere werden hinter galaktischem Gas und Staub vermutet. Außerdem sind Tausende von Kugelsternhaufen bei anderen Galaxien entdeckt worden. Jenseits der von unserer Milchstraße und dem Andromedanebel dominierten Lokalen Galaxiengruppe wurden Kugelsternhaufen erst in den Achtzigerjahren mit den neuen 4-Meter-Teleskopen genaueren Analysen zugänglich. So konnten die Geschwindigkeiten der Haufen um die Elliptischen Riesengalaxien M 87 und M 49 gemessen werden. In den Neunzigerjahren rückten dann Hunderte von Haufen ins Visier noch größerer Teleskope. Das fernste Haufenspektrum hat inzwischen das Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte gemessen – bei der über 150 Millionen Lichtjahre entfernten Galaxie NGC 3311.

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„Das wahrnehmbare All bildet einen ungeordneten Sternhaufen aus Sternhaufen“, schrieb der amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe in einem Essay von 1848. Die (Un)Ordnung liegt freilich im Auge des Betrachters. Und auch die Namen der Kugelsternhaufen sind – historisch bedingt – ein ziemliches Durcheinander.

Eine eigene Nomenklatur gibt es für die Kugelsternhaufen nicht. Die bekanntesten der Milchstraße haben eine Nummer, denen ein „M“ vorangestellt ist. Es steht für „Messier“. Den französischen Astronomen Charles Messier hatten bei seiner Suche nach Kometen diverse nebelartige Objekte gestört, die beim Stand der damaligen Teleskoptechnik leicht mit Kometen zu verwechseln waren (bild der wissenschaft 4/2004, „Kosmische Kataloge“). Deshalb stellte Messier seit 1759 eine Liste solcher Objekte zusammen: Emissionsnebel, Dunkelwolken, Planetarische Nebel, Supernova-Überreste, Galaxien, offene Sternhaufen – und eben auch Kugelsternhaufen. Weit umfangreicher als Messiers Liste ist der „ New General Catalogue of Nebulae and Clusters of Stars“, abgekürzt NGC, den der dänische Astronom John Ludwig Emil Dreyer 1888 veröffentlichte. Der NGC enthält 7840 nebelartige Objekte – vor allem ferne Galaxien, deren wahre Natur allerdings erst in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts erkannt wurde.

COMMUNITY Lesen

Tom Richtler, Sören S. Larsen (Hrsg.)

Globular Clusters – Guides to Galaxies

ESO/Springer Conf. Proc. Springer, New York (im Druck)

Jean P. Brodie, Jay Strader

Extragalactic Globular Clusters and Galaxy Formation

Ann. Rev. Astron. Astrophys. Bd. 44, S. 193–267 (2006)

GLOBULAR CLUSTERS

Science Bd. 299, S. 59–75 (2003)

Internet

Blog mit vielen Neuigkeiten zu Kugelsternhaufen und ihrer Erforschung:

globularclusters. wordpress.com/about/

Kugelsternhaufen der Milchstraße:

www.seds.org/~spider/ spider/MWGC/mwgc.html

Homepage von Holger Baumgardt:

www.astro.uni-bonn.de/ ~holger/

Homepage von Jean Brodie:

www.ucolick.org/~brodie/

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