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Wovon Freud nur träumte

Allgemein

Wovon Freud nur träumte
Die US-amerikanischen Forscher machten es 1990 vor: Zusammen mit ihrem Präsidenten erklärten sie die neunziger Jahre zum Jahrzehnt des menschlichen Gehirns – und bekamen Geld und öffentliche Anerkennung für ihre Forschungen. Jetzt folgen die deutschen Kollegen ihrem Beispiel. Prof. Gerhard Roth sagt, warum.

bild der wissenschaft: Was hat Sie und Ihre Kollegen veranlaßt, es dem ehemaligen US-Präsidenten George Bush gleichzutun und eine Forschungsdekade des Gehirns auszurufen?

Roth: Wir haben in den letzten zehn Jahren so viel über das Gehirn gelernt, daß wir mit vereinten Kräften weitermachen wollen. Sensationelle Durchbrüche haben wir bei der Bildgebung erreicht: Inzwischen können wir dem menschlichen Gehirn bei Leistungen zuschauen, von denen man noch vor 15 Jahren gesagt hat, daß sie niemals neurobiologisch untersucht werden können, sondern immer nur indirekt durch psychologische Tests.

bdw: Zum Beispiel?

Roth: Etwa der Unterschied zwischen „meinen“ und „sicher sein“ . Wir setzen eine Versuchsperson in einen Kernspintomographen und zeigen ihr schnell eine Serie von Gesichtern. Anschließend führen wir ihr eine weitere Serie von Gesichtern vor, bei denen einige aus der ersten Serie stammen, andere aber neu sind. Die Versuchsperson muß nun entscheiden, ob sie ein Gesicht bereits gesehen hat oder nicht. Sie wird bei einigen sagen: Das Gesicht kenne ich. Bei anderen Gesichtern wird sie sich nicht ganz sicher sein, aber doch annehmen, sie zu kennen. Diese beiden Zustände des „Sicherseins“ und des „bloßen Annehmens“ lösen ganz unterschiedliche Gehirnzustände aus, und wir können diesen Unterschied fast „live“ auf dem Bildschirm beobachten. Das hat unsere Vorstellung vom Gehirn völlig verändert: Selbst komplexe Vorgänge in der Psyche sind Veränderungen von Molekülen, Zellen und Zellverbänden.

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bdw: Was sind noch offene Fragen?

Roth: Wir verstehen inzwischen vieles, was in den Nervenzellen und an den Zellmembranen geschieht und welche Funktionen einzelne Gehirnbereiche haben – auch wenn es da noch viel zu erforschen gibt –, aber was wir noch nicht verstehen, ist der Bereich dazwischen: Wie arbeiten Nervenzellen zusammen, wenn sich ein Gedanke bildet? Wie formen Nervennetze Geist, Bewußtsein und das Unbewußte? Doch die Antworten sind in greifbarer Nähe. Wir können inzwischen das Geistige, Psychische, Emotionale mit naturwissenschaftlichen Methoden untersuchen, was Freud vor 100 Jahren noch für völlig unmöglich gehalten hat.

bdw: Ist die neue Forschungsdekade auf Deutschland beschränkt?

Roth: Wir arbeiten natürlich mit ausländischen Kollegen, vor allem in den USA, zusammen, aber unsere Aktion ist nur für Deutschland gedacht. In manchen Bereichen der Gehirnforschung ist Deutschland leider immer noch Entwicklungsland. Bei der amerikanischen Dekade hat man in Deutschland erst einmal ein paar Jahre gewartet, um zu sehen, wie sich das Ganze entwickelt, bis man endlich auf den Zug aufgesprungen ist – und jetzt sollten wir natürlich nicht mit derartigen Unternehmungen aufhören, nur weil in den USA die Dekade des Gehirns zu Ende gegangen ist.

bdw: Warum kommen solche Ideen meist aus Amerika?

Roth: In den USA ist es viel einfacher, auf neue Entwicklungen zu reagieren. Dort werden mit leichterer Hand neue Forschungszentren gegründet, an denen Neurobiologen, Neuroinformatiker, Neurologen und Psychologen interdisziplinär zusammenarbeiten. Überall wurden neue Studiengänge für die „ Cognitive Neurosciences“ gegründet, während man sich in Deutschland immer noch mit der Frage herumschlägt, ob man die Diplomprüfungsordnungen ändern kann. In den USA wird ein Studiengang schnell wieder abgeschafft, wenn sich die Umstände geändert haben. In Deutschland wird zunächst einmal zehn Jahre lang diskutiert und erst, wenn der Zug schon lange abgefahren ist, etwas Neues eingerichtet – dafür aber auch für unglaublich lange Zeit.

bdw: Sind uns die USA nicht schon viel zu weit voraus?

Roth: Trotz aller Kritik: Deutschland steht zusammen mit Großbritannien auf Platz zwei in der Weltrangliste der Gehirnforschung. Aber wenn wir diese Position halten oder gar aufschließen wollen, müssen wir unsere Arbeitsweise ändern.

bdw: Wie wollen Sie dabei vorgehen?

Roth: Wir haben es immerhin in den letzten Jahren geschafft, das öffentliche Interesse in Deutschland für die Hirnforschung zu wecken. Das wollen wir nutzen, um auch etwas in der Forschungslandschaft zu verändern. Darum planen wir publikumswirksame Aktionen und haben zum Auftakt im April einen spektakulären Kongreß und ein Wissenschaftsfestival veranstaltet.

bdw: In Ihrem Aufruf fordern Sie in Deutschland „Centers of Excellence“ zu gründen. Was ist darunter zu verstehen?

Roth: Es ist höchst unzweckmäßig, daß bei der Hirnforschung jede Universität ihren ganz privaten Ehrgeiz entwickelt – Bremen zum Beispiel besser sein will als Hamburg und Magdeburg besser als Bremen. Wir müssen vielmehr unsere Kräfte bündeln und große Zentren aufbauen, wie das in den USA bereits geschehen ist. Dort nutzen Hunderte von Fachleuten aus verschiedenen Disziplinen gemeinsam die oft teuren Apparaturen, um zusammen die Probleme zu lösen. Deutschland ist wissenschaftlich und ökonomisch gesehen ein großes und reiches Land – hier können drei oder vier solcher Forschungszentren nebeneinander existieren. Wir in Bremen planen zusammen mit den Universitäten Magdeburg, Oldenburg und Groningen in den Niederlanden ein solches Center of Excellence, an dem sich auch mehrere Kliniken beteiligen werden. Nur so können wir mit den großen Forschungszentren in den USA oder Großbritannien mithalten. Eine einzelne Universität ist bei so etwas völlig überfordert.

bdw: Der zentrale Punkt Ihres gemeinsamen Konzepts ist die funktionelle Kernspintomographie. Warum gerade diese Methode?

Roth: Funktionelle Kernspintomographie hat sich als die erfolgversprechendste Methode erwiesen, um das intakte menschliche Gehirn in allen drei Dimensionen beim Arbeiten zu beobachten. Bei diesem Verfahren werden die Atomkerne durch Magnetfelder zu Resonanzschwingungen angeregt. Diesen Effekt können wir messen. Je nach Struktur und Aktivität des Gewebes unterscheiden sich die Signale. So können wir nicht nur feststellen, wo ein Tumor im Gehirn sitzt und wie groß er ist, sondern wir können auch auf ein bis zwei Millimeter genau lokalisieren, welche Gehirnregionen aktiv sind, wenn wir über etwas nachdenken oder uns an etwas erinnern.

bdw: Werden also die bildgebenden Verfahren die bisherigen Methoden in der Hirnforschung ablösen?

Roth: Ganz klar: Nein! Auch wenn die funktionelle Kernspintomographie in Zukunft noch genauere Bilder vom Gehirn liefern wird, so können die doch niemals erklären, was auf der Ebene von Nervenzellen stattfindet – Parkinsonsche oder Alzheimersche Erkrankung und viele psychische Leiden beruhen auf krankhaften Vorgängen in den Zellen. Bei vielen derartigen Krankheiten sind Vorgänge an den Verbindungen zwischen den Nervenzellen – den Synapsen – gestört, etwa die Ausschüttung von Transmittern wie Dopamin. Hier muß man intensiv neurochemisch und neuropharmakologisch weiterarbeiten. Ebensowenig kann man darauf verzichten, Nervensignale aus dem Gehirn von Tieren, zum Beispiel von Makakenaffen, zu registrieren – vorausgesetzt, die Tiere leiden dabei nicht. Nur so können wir verstehen, wie Nervenzellen beim Denken miteinander kommunizieren oder wie sie bei Krankheiten – zum Beispiel der Schizophrenie – gestört sind. Ein Center of Excellence muß mit all diesen verschiedenen Methoden arbeiten können und sie miteinander kombinieren, sonst stellt sich der Erfolg nicht ein. Daher fordern wir große Forschungszentren.

bdw: Wird es dem Gehirn mit diesen Methoden gelingen, sich selbst zu verstehen?

Roth: In diesem Punkt bin ich mir völlig sicher. „Verstehen“ bedeutet ja nicht, daß man etwas in allen Details verstehen muß, sondern, daß man die Prinzipien versteht. Vor 150 Jahren haben die meisten Naturwissenschaftler und Philosophen noch gedacht, das Phänomen „Leben“ sei viel zu rätselhaft, um es zu begreifen. Wenn Sie heute unter Naturwissenschaftlern herumfragen, werden Sie überall die Antwort hören: Wir haben zwar beileibe noch nicht alles herausgefunden, aber im Prinzip haben wir die Vorgänge des Lebens verstanden. Niemand wird bezweifeln, daß auch beim Lebendigen die Naturgesetze gelten – nirgends ist etwas grundsätzlich Unerklärliches geblieben. So ähnlich werden das unsere Kollegen in der Zukunft auch von Geist und Bewußtsein sagen.

Gerhard Roth (Jahrgang 1942) ist Professor am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen und Rektor des Hanse Wissenschaftskollegs in Delmenhorst. Zusammen mit dem Bonner Epilepsieforscher Prof. Christian Elger und anderen Kollegen rief er Anfang des Jahres die Dekade zum „Jahrzehnt des menschlichen Gehirns“ aus. Den Wissenschaftlern geht es bei ihrer Aktion um die Erforschung von Geist, Bewußtsein und Nervenkrankheiten. Sie wollen Finanzspenden für neue Apparate gewinnen, ihre Forschungen in neuen Zentren gemeinsam durchführen – und nicht zuletzt den deutschen Wissenschaftsbetrieb umkrempeln.

Thomas Willke / Gerhard Roth

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