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Extrem, exotisch, explosiv

Allgemein

Extrem, exotisch, explosiv
Erzeugt Antimaterie Antigravitation? Physiker sind dabei, das herauszufinden – und haben bereits mit einem neuen Forschungsgebiet begonnen: der Antichemie.

Physiker erzählen gern die Geschichte vom Studenten, der die Höhe des Universitätsgebäudes bestimmen soll. Sein Professor händigt ihm dazu ein Barometer aus – und erwartet, dass der Student den Luftdruck-Unterschied abliest, um daraus die Höhe zu berechnen. Doch der pfiffige Student hält das für viel zu naheliegend und schlägt andere Methoden vor: Er könnte das Barometer als Pendel verwenden, um dessen Periode zu messen, die wegen der Erdanziehung von der Höhe abhängt. Oder er könnte es vom Dach des Gebäudes werfen, um die Fallzeit zu bestimmen. Doch der Professor ist damit nicht zufrieden. Schließlich klopft der Student an die Tür des Hausmeisters – und der verrät ihm, wie hoch das Gebäude ist, nachdem er das Barometer geschenkt bekommen hat.

In der Realität können Physiker freilich nicht einfach an die Tür der Natur klopfen, um deren grundlegende Eigenschaften und Gesetze zu erfragen, sondern müssen experimentieren. Daher sind Versuche zum freien Fall äußerst wichtig. Solche Experimente – allerdings mit Materie – hatte Galileo Galilei im 17. Jahrhundert erstmals systematisch ausgeführt und so die moderne Physik mitbegründet. Mit Antimaterie geht das aber nicht so einfach, denn man kann sie nicht wie ein Barometer aus dem Fenster werfen.

Immerhin wurden erste Fallversuche bereits gemacht: Anfang der 1990er-Jahre am CERN mit Antiprotonen und zum Vergleich mit Protonen. Doch das brachte keine Ergebnisse. Dann erfolgte ein größerer Umbau beim CERN, sodass vorübergehend keine Antiprotonen zur Verfügung standen. Es ist auch ziemlich unwahrscheinlich, dass solche Experimente genau genug sind. Elektrisch geladene Teilchen werden zu sehr von der Umgebung gestört, da die Schwerkraft etwa um den Faktor 1036 schwächer ist als die elektromagnetische Kraft. Für präzise Fallexperimente ist daher neutrale Antimaterie nötig – am einfachsten wäre Antiwasserstoff. Und den können die Wissenschaftler am CERN nun in hinreichend großen Mengen herstellen und auch lang genug speichern (siehe „ Vorstoß in die Gegenwelt“ ab S. 48).

„Wenn Antimaterie schneller als Materie fällt, hätten wir mindestens eine neue Naturkraft entdeckt“, sagt Thomas Phillips von der Duke University in Durham, North Carolina. „Wenn sie langsamer fällt oder sogar steigt, wäre die Allgemeine Relativitätstheorie widerlegt.“

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Dass Antimaterie Antigravitation erzeugt, klingt so kurios wie ketzerisch. Dabei steht diese Idee ganz am Anfang der Geschichte der Gegenwelt. Den Begriff „Antimaterie“ hatte Arthur Schuster nämlich lang vor Paul Diracs theoretischer und Carl Andersons experimenteller Entdeckung geprägt. Er schrieb darüber bereits 1889 in zwei Briefen an die Fachzeitschrift Nature, allerdings ohne ein theoretisches Fundament. Der englische Physiker spekulierte einfach munter über Antiatome und sogar Antimaterie-Sonnensysteme sowie eine Vernichtung von Antimaterie und Materie, wenn beide in Kontakt kämen.

Das war durchaus prophetisch – doch hatte er ein völlig anderes Konzept der Antimaterie. Denn er ging davon aus, dass Antimaterie eine negative Gravitation besitzt. Über diese Möglichkeit und „negative Materie“ hatten die Physiker William Hicks und Karl Pearson kurz zuvor spekuliert.

Ein solcher Abstoßungseffekt – also Antigravitation – ist bis heute nicht völlig ausgeschlossen. Mit ihm würden Science-Fiction-Träume wahr, denn Perry Rhodan & Co landen schon lange mit Antigrav-Triebwerken auf fremden Planeten oder schweben durch Antigrav-Schächte in ihren riesigen Raumschiffen von Stockwerk zu Stockwerk.

GIBT ES ANTIGRAVITATION?

Doch gewichtige theoretische Gründe sprechen gegen die Existenz einer Antigravitation. So hat Philip Morrison, Physik-Professor an der amerikanischen Cornell University, schon 1958 argumentiert, dass sie den Energieerhaltungssatz verletzen würde. Auch nach dem CPT-Theorem (siehe Kasten links „Abstrakte Symmetrie“) erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass sich Antimaterie im freien Fall anders verhält als Materie. Gemäß diesem grundlegenden Prinzip der Elementarteilchenphysik hat Antimaterie dieselbe Masse, dasselbe magnetische Moment und dieselben Übergangsfrequenzen wie Materie.

Nachgewiesen ist dies alles jedoch nicht – noch nicht einmal ansatzweise. Es lässt sich deshalb bislang nicht ausschließen, dass Antimaterie etwas schneller oder langsamer fällt als Materie – oder sogar nach oben steigt. Letztlich muss dies experimentell geklärt werden. Es gibt eben keinen Hausmeister der Natur, dem man mit einem kleinen Geschenk die Kennzahlen der Physik entlocken könnte.

Eine solche Kennzahl beschreibt das Gewicht der Antimaterie. Um es zu messen, genügt ein findiger Student, der ein Barometer fallen lässt, allerdings nicht. Aber vielleicht hat ein internationales Forscherteam Erfolg, das am CERN das Experiment AEGIS aufgebaut hat (Antihydrogen Experiment – Gravity, Interferometry, Spectroscopy). Das Ziel ist, mit Antiwasserstoff die Gravitationswirkung der Erde auf Antimaterie mit einer Messungenauigkeit von nur einem Prozent zu bestimmen. Die ersten Versuche sollen noch dieses Jahr beginnen.

Zunächst wird das sehr instabile Positronium erzeugt, in dem sich jeweils ein Elektron und ein Positron umkreisen. Diese Paare werden mit Laserstrahlen angeregt, um zu verhindern, dass sie sich zu schnell vernichten. Dann wird das Positronium auf Antiprotonen geschossen. Einige davon schnappen sich je ein Positron – und fertig sind die Antiwasserstoff-Atome. Diese fliegen weiter und passieren mehrere Doppelspalte in einem definierten Abstand. „Das ist eine große Herausforderung“, sagt AEGIS-Sprecher Michael Doser. „Nie zuvor wurde ein solches Experiment gemacht.“

Doppelspaltversuche mit Licht gehören dagegen in jedem Physik-Praktikum am Gymnasium und an der Universität zum Standard. Dabei werden die Interferenz-Streifen beobachtet, die sich auf einem Bildschirm oder in einer fotografischen Aufnahme hinter den beiden Spalten bilden. Zu einer solchen charakteristischen Überlagerung kommt es auch, wenn nicht Licht die Schlitze passiert, sondern Materie: Mit Elektronen, Neutronen und sogar mit Fulleren- Molekülen (C60) und Fluorofulleren (C60F48) wurde dies schon gemacht.

MASSE, TRÄGHEIT UND WELTFORMEL

Antiatome müssen ebenfalls ein Interferenzmuster hinterlassen. Daraus können Physiker Rückschlüsse ziehen, wie stark die durch den Doppelspalt geflogenen Teilchen im Schwerefeld abgelenkt wurden. Die entscheidende Frage ist: Wirkt die Gravitation auf Materie gleich stark wie auf Antimaterie – oder aber stärker oder schwächer?

Sowohl das Standardmodell der Elementarteilchen als auch Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie sagen eindeutig voraus, dass es hier keinen Unterschied zwischen Materie und Antimaterie geben dürfte. Wenn also einer gemessen würde, wäre das eine Sensation. „Dann hätten wir etwas extrem Wichtiges entdeckt“, sagt Rolf Landua vom CERN. „Ich wette eine Kiste Champagner, dass wir keine Differenz messen werden“, meint AEGIS-Sprecher Doser. „Aber ich würde die Wette gern verlieren.“

Masse ist in der Physik ein Maß der Trägheit, also des Widerstands eines Körpers gegenüber Veränderungen. Je größer die Masse eines Körpers ist, desto mehr Kraft ist erforderlich, um ihn aus der Ruhe zu bringen oder seine Bewegung zu stören. Gewicht ist dagegen ein Maß für die gravitative Anziehung zweier Körper. Der Unterschied zwischen Masse und Gewicht besteht darin, dass Masse eine universelle Eigenschaft eines Objekts ist – also zum Beispiel auf der Erde und dem Mond den gleichen Wert hat –, während das Gewicht variieren kann. Ein Elektron beispielsweise hat immer und überall dieselbe Masse, doch es wiegt umso weniger, je weiter es von der Erde entfernt ist.

Gewichtsmessungen einzelner Teilchen sind im Prinzip Messungen der Gravitation auf der Quantenskala – und somit ein Weg zu einer experimentellen Überprüfung von Phänomenen der Quantengravitation. Eine solche Theorie, die die beiden Säulen der modernen Physik verbindet – Quanten- und Relativitätstheorie – , ist gleichsam der Heilige Gral der Physiker und das lockende Versprechen einer „Weltformel“. Es gibt verschiedene Ansätze dafür, aber bisher noch keine Möglichkeit, sie direkt zu überprüfen. Das wird AEGIS ändern. Und darin liegt die eigentliche Brisanz des Experiments.

Physiker haben im Rahmen von spekulativen Theorien der Quantengravitation überlegt, dass es zwei Arten von Schwerkraft geben könnte: In der gewöhnlichen Materie wären die beiden Kräfte gegenläufig und würden sich beinahe aufheben. Für Antimaterie könnten sie sich hingegen addieren und die Antiteilchen schneller fallen lassen.

Denkbar ist aber auch, wie schon Ende des 19. Jahrhunderts erwogen, dass sich Antimaterie und Materie gar nicht anziehen, sondern vielmehr abstoßen. Eine solche Antigravitation könnte erklären, warum es keine Antimaterie in unserer kosmischen Nachbarschaft gibt, falls sie genauso häufig nach dem Urknall entstanden sein sollte wie die Materie (was die meisten Physiker allerdings nicht annehmen): Eine antigravitative Kraft hätte die ungleichen Geschwister einfach auseinander getrieben, sodass sie in sicherem Abstand voneinander bis heute ein Eigenleben führen.

AntiTeilchen im Paartanz

Neben Antiwasserstoff wird inzwischen auch mit anderen Verbindungen von Antiteilchen experimentiert – und sogar mit kurzlebigen Vereinigungen von Materie und Antimaterie. Positronium ist der einfachste Fall. Es wurde bereits 1932 von Carl Anderson vorhergesagt und 1951 von Martin Deutsch am Massachusetts Institute of Technology nachgewiesen. Es vernichtet sich binnen weniger als einer Millionstel Sekunde zu energiereicher Gammastrahlung.

Christoph Keitel vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg und seine Kollegen haben vor wenigen Monaten berechnet, wie sich die Rate der Zerstrahlung (Annihilation) mit gewöhnlichen Lasern verringern lässt. Der Trick besteht darin, den Laserstrahlen genau die Energie zu geben, die nötig ist, um das Positronium in einen angeregten Zustand zu versetzen, bei dem sich das Elektron und das Positron in einem größeren Abstand voneinander umkreisen. Damit ist die Wahrscheinlichkeit einer Berührung erniedrigt. Wenn das Positronium dann ein Photon emittiert, fällt es in seinen niedrigeren Energiezustand zurück. Keitel und seine Kollegen rechneten aus, dass etwa die Hälfte des angeregten Positroniums im Durchschnitt das 28 Millionstel einer Sekunde überstehen könnte – das wäre immerhin 200 Mal länger als nicht angeregtes Positronium.

Dieser Zeitgewinn eröffnet neue Möglichkeiten. Er könnte genügen, um größere Mengen an Positronium in den Zustand eines Bose-Einstein-Kondensats zu versetzen. In diesem speziellen Quantenzustand sind alle Positronium-„Atome“ quasi gleichgeschaltet. Annihiliert eines, folgen die anderen sofort. Diese Synchronisation ist die Voraussetzung für einen Gammastrahlen-Annihilationslaser. Damit könnte man Objekte „ fotografieren“, die so klein sind wie ein Atomkern, oder in Fusionsreaktoren die Kernverschmelzung zünden.

Das ist zwar noch Zukunftsmusik, aber die ersten Schritte sind bereits getan. Im Jahr 2007 haben David Cassidy und Allen Mills von der University of California in Riverside die ersten Antimaterie-„Moleküle“ aus mehr als einem Positronium-Paar geschaffen.

Anfänge der Antichemie

Ein schweres Pendant zum Positronium ist das Protonium. Dieser außergewöhnliche Stoff besteht aus Protonen und Antiprotonen, wobei sich jeweils ein Proton und ein Antiproton umkreisen. Wie Evandro Rizzini von der italienischen Universität Brescia und seine Kollegen 2006 herausfanden, hatte sich Protonium schon 2002 in CERN-Experimenten gebildet – nur war das damals niemandem aufgefallen. Inzwischen lässt es sich weniger brachial herstellen, quasi auf chemische Weise, und in größeren Mengen.

Protonium entsteht, wenn ein Antiproton mit einem ionisierten Molekül von gewöhnlichem Wasserstoff reagiert, also mit H2–, und diesem dabei ein Proton entwendet. Das ist quasi der Beginn einer Antichemie. Protonium zerstrahlt allerdings äußerst rasch wieder – binnen weniger Millionstel Sekunden. Es existiert aber lange genug, um aus der Experimentalkammer herauszudriften und sich nachweisen zu lassen.

Exotische Verbindung

Ein anderes Kunststück gelang mit dem hauptsächlich von japanischen Wissenschaftlern betriebenen ASACUSA-Experiment (Atomic Spectroscopy And Collisions Using Slow Antiprotons) am CERN: die Synthese von antiprotonischem Helium. Sie ist sogar einfacher als die von Antiwasserstoff: Die Physiker leiteten Antiprotonen aus dem Antimatter Decelerator in ein kaltes Helium-Gas. Die meisten Antiprotonen zerstrahlten, aber ein paar verdrängten Elektronen um die Helium-Kerne. So wurde eines der beiden Elektronen, die um den Helium-Kern schwirrten, durch ein Antiproton ersetzt, das ebenfalls negativ geladen war.

Wenn dieses Materie-Antimaterie-Atom Licht abgibt, können die elektrischen und magnetischen Eigenschaften des Antiprotons sehr genau gemessen und mit denen des Protons verglichen werden. Dazu schießen die Forscher Laserstrahlen auf das antiprotonische Helium. ASACUSA wies bereits nach, dass Antiprotonen dieselbe Masse wie Protonen haben – im Rahmen der Messgenauigkeit von einem Hundertmillionstel (10–8). Das steht im Einklang mit den Voraussagen des Standardmodells der Elementarteilchen. Doch haben Antiprotonen auch dasselbe Gewicht wie Protonen?

Damit schließt sich der Kreis zur Geschichte vom Physikstudenten: Wenn die Antiprotonen nicht kooperieren, dann könnte es sich vielleicht lohnen, beim benachbarten AEGIS-Experiment in derselben nüchternen Werkshalle am CERN anzuklopfen – möglicherweise hilft ja der Antiwasserstoff bei der Antwort. ■

von Rüdiger Vaas

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