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Die Achse des Bösen

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Die Achse des Bösen
Unser Universum auf dem Prüfstand: Es gibt seltsame Anomalien im Temperaturmuster vom Restleuchten des Urknalls. Sind sie nur Zufall oder bringen sie das kosmologische Standardmodell in Gefahr?

„Gemalt hätt ich dich: nicht an die Wand, an den Himmel selber von Rand zu Rand“, schrieb Rainer Maria Rilke in seinem 1905 publizierten Gedichtband „Das Stunden-Buch“. Ohne es zu ahnen, hatte er damit eine poetische Vorwegnahme der Kosmischen Hintergrundstrahlung geschaffen. Sie ist eine Art Vorhang des ersten Lichts, hinter den Teleskope prinzipiell nicht schauen können. Insofern stellt er tatsächlich den Rand des beobachtbaren Universums dar, obschon es dahinter raumzeitlich weitergeht. Und dieses himmlische Gemälde hat die Raumsonde Planck nun genauer betrachtet, als es jemals zuvor möglich war.

Dieses Bild ist von einer schlichten Eleganz, die eine große Erklärungskraft besitzt. Doch es gibt ein paar Schönheitsfehler, die den Kosmologen nicht so recht ins Konzept passen. Vielleicht sind das nur statistische Ausrutscher, die kein Gewicht haben. Manche Forscher fürchten aber, dass ihr Theoriengebäude ins Wanken geraten könnte. Und andere versprechen sich gerade dadurch einen Blick hinter die kosmische Kulisse – um gleichsam den Vorhang ein wenig zu lüften und Pinselstriche jenseits des Bühnenrands der beobachtbaren Welt zu erspähen.

Was also zeichnet sich da ab am Himmel – ein seltsamer Zufall, eine grundsätzliche Krise oder die nächste Revolution im Verständnis des Alls?

Das Kopernikanische Prinzip

Fest steht: Die Daten der Planck-Mission passen erstaunlich gut zum Standardmodell der Kosmologie, das sich gegenwärtig zum größten Teil mit nur einem halben Dutzend Parametern beschreiben lässt. Das liegt auch daran, dass das Universum auf großräumigen Skalen überall gleich erscheint – gemittelt über die Verteilung der Galaxiensuperhaufen und Leerräume dazwischen –, also keinen besonderen Ort und keine ausgezeichnete Richtung besitzt. Kosmologen sagen: Es ist homogen und isotrop.

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Mit dieser Annahme, dem sogenannten Kopernikanischen oder Kosmologischen Prinzip, das schon in Albert Einsteins erster Anwendung der Allgemeinen Relativitätstheorie aufs ganze Universum aus dem Jahr 1917 steckt, vereinfachen sich die Einstein’schen Feldgleichungen enorm. Diese zehn nichtlinearen gekoppelten Gleichungen reduzieren sich dadurch auf die beiden Friedmann-Gleichungen. Erstmals von dem russischen Mathematiker Alexander Friedmann 1922 und 1924 formuliert, haben sie sich bis heute als theoretische Grundlage für das kosmologische Standardmodell hervorragend bewährt. Und gerade die außerordentliche Homogenität der Kosmischen Hintergrundstrahlung, die auf einen Faktor 1 zu 100 000 gleichförmig erscheint, ist ein starkes Argument für das Kopernikanische Prinzip. Das liegt auch dem kosmologischen LCDM-Standardmodell zugrunde, das der Planck-Satellit so bravourös bestätigt hat (siehe voriger Beitrag „Das Echo des Urknalls“).

„Wir könnten hier aufhören und sagen: ,Das ist eine extrem gute Übereinstimmung.‘ Und mit diesem Riesenerfolg könnten wir die Kosmologie im Grunde für beendet erklären“, meinte George Efstathiou im März auf der Pressekonferenz bei der Vorstellung der Planck-Resultate im ESA-Hauptquartier in Paris. „Doch es gibt kleine Abweichungen vom Standardmodell“, schüttete der Astrophysik-Professor an der University of Cambridge dann etwas Essig in den metaphorischen Wein der Feierstunde. Efstathiou sprach von einem „fast perfekten Universum“ – ganz perfekt wäre es, wenn das kosmologische Standardmodell hundertprozentig passen würde.

Nun gibt es zwar immer Messfehler und Ausreißer bei wissenschaftlichen Beobachtungen und Experimenten. Eine perfekte Übereinstimmung wäre verdächtig, und man findet sie eigentlich nur bei Manipulationen und politischer Propaganda. Die Frage ist aber, ob die Abweichungen statistisch signifikant sind beziehungsweise überhaupt ins gängige Erklärungsschema passen. Und genau das macht sie hochinteressant für die Kosmologen. „Wir müssen die Abweichungen kritisch begutachten“, betonte Efstathiou. „Denn hier verbirgt sich vielleicht ein Hinweis auf eine neue Physik.“

Zu den überraschendsten Resultaten gehört die Tatsache, dass die Temperaturschwankungen der Hintergrundstrahlung auf großen Winkelskalen und in ihren Positionen am Himmel nicht vollkommen zufällig verteilt sind, wie das Standardmodell nahe legt. Das ergaben schon Analysen der Daten von WMAP (Wilkinson Microwave Anisotropy Probe), der 2001 gestarteten NASA-Sonde, die die Hintergrundstrahlung neun Jahre lang genau vermessen hat. Aber diese Messungen hätten ein systematischer Fehler sein können. Und Mitglieder des WMAP-Teams haben selbst betont, dass unverstandene Artefakte bei der Datenauswertung nicht ausgeschlossen sind. Doch Plancks höhere Auflösung und Empfindlichkeit sowie die technisch andere Methode der Datengewinnung zeigten: Die Anomalien sind real. „Es sind wohl echte Eigenschaften des Himmels, keine Auswertungsfehler – die Frage ist nur, was sie bedeuten“, sagt Torsten Enßlin vom Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching, der Leiter der deutschen Planck-Forschergruppe.

So ist die Ausprägung der Fluktuationsmuster an entgegengesetzten Himmelshälften asymmetrisch. Die südliche Hälfte hat ein wenig größere Variationen als die nördliche. Dies widerspricht der Annahme, dass das Universum im großen Maßstab überall gleich aussieht. „Es scheint, als gäbe es eine Vorzugsrichtung“, murrt George Efstathiou. „Das ist sehr seltsam. Und sie liegt auch noch in der ekliptischen Ebene.“ Sie korreliert also ungefähr mit der Bahnebene der Erde um die Sonne. Doch warum sollte das Sonnensystem etwas mit den grundlegenden Eigenschaften des Universums als Ganzes zu tun haben? „Das ist ein völliges Rätsel.“

Und es gibt noch weitere Differenzen, die sich nur in den mathematischen Analysen zeigen und nicht ohne Weiteres anschaulich gemacht werden können. So verhalten sich die geraden und ungeraden „Multipolmomente“ unterschiedlich, mit denen die Forscher die Temperaturverteilung beschreiben. Und die größten davon, Quadrupol und Oktupol genannt, liegen auch noch etwa in einer Ebene und bilden eine Art Achse.

João Magueijo vom Imperial College in London hat diese schon aus den WMAP-Daten herausdestillierbare Vorzugsrichtung augenzwinkernd „die Achse des Bösen“ genannt. „The Axis of Evil“ war auch der Titel eines Fachartikels, den er zusammen mit seiner damaligen Doktorandin Kate Land im Februar 2005 zunächst als Vorabdruck im Internet veröffentlichte. Die renommierte Fachzeitschrift Physical Review Letters druckte ihn ein halbes Jahr später – allerdings mit einer viel unspektakuläreren Überschrift: „Examination of Evidence for a Preferred Axis in the Cosmic Radiation Anisotropy“.

Da bewiesen die Herausgeber der Monthly Notices of the Royal Astronomical Society zwei Jahre später mehr Humor, als sie eine Fortsetzung publizierten, in der es die „Achse des Bösen“ doch noch in die Titelzeile schaffte: „The Axis of Evil revisited“ .

Darin überprüften Land und Magueijo ihre Argumente mit neuen Rechnungen und genaueren Messdaten. Je nach Analysemethode fanden sie eine statistisch hohe Signifikanz (maximal 98 Prozent), aber kein in jeder Hinsicht robustes Resultat.

ziemlich böse 10 Grad

Die Planck-Sonde hat die Existenz der Vorzugsrichtung bestätigt und statistisch noch weiter erhärtet. Sie ist vielleicht ein bisschen weniger „böse“, weil Plancks Messungen zufolge Quadrupol und Oktupol um 9 bis 13 Grad gegeneinander geneigt sind, und nicht nur um 3 Grad, wie die letzten WMAP-Messungen ergaben. Aber das ändert nicht viel. „Man kann es schwer vergleichen“, sagt João Magueijo. „Je nach Analyse nimmt die WMAP-Ausrichtung auf bis zu 10 Grad ab. Aber 10 Grad sind noch immer ziemlich ‚böse‘. Und die Richtung ist nur ein Teil des Problems, die Lage der Multipole in der Ebene ist genauso seltsam.“ Die Achse ist also noch immer quicklebendig – „für alle unsere Sünden“, wie der Kosmologe schmunzelnd kommentiert.

Mit der durchaus witzig gemeinten Bezeichnung „Achse des Bösen“ wollte Magueijo selbstverständlich kein moralisch-religiöses Urteil fällen – im Gegensatz zum US-Präsidenten George W. Bush, der diesen Begriff am 29. Januar 2002 mit ernstem Eifer geprägt hat. In einer Rede zur Lage der Nation sagte er, Staaten wie Nordkorea, Iran und Irak „und die mit ihnen verbündeten Terroristen bilden eine Achse des Bösen, die aufrüstet, um den Frieden der Welt zu bedrohen“.

Fest steht, dass die eigenartige Achse in der Hintergrundstrahlung eine Bedrohung ist – nämlich für das Standardmodell der Kosmologie. Falls sie wirklich eine Eigenschaft des Universums als Ganzes ist – und nicht etwa ein systematischer Fehler der Datenauswertung oder ein lokaler Effekt, der beispielsweise mit unserem Sonnensystem oder der Milchstraße zu tun hat –, wäre das Kopernikanische Prinzip verletzt. Und dies hätte weitreichende Folgen für die kosmologische Modellbildung. Es steht also – ganz unpolitisch – einiges auf dem Spiel.

Geschenk für die Astrophysik

Andere Forscher sehen das freilich recht gelassen. „Es gibt keine Evidenz dafür, dass eine dieser Anomalien in irgendeiner Art und Weise etwas mit Kosmologie zu tun hat oder durch kosmologische Prozesse verursacht wurde“, sagt beispielsweise Stefan Hofmann. Er weist darauf hin, dass Messungen in der Praxis niemals genau mit theoretischen Modellen übereinstimmen. „Daten müssen Anomalien aufweisen, sonst sind sie wenig glaubhaft.“ Der Professor für Theoretische Physik an der Ludwig- Maximilians-Universität München bezeichnet die Abweichungen – sofern sie keine unverstandenen systematischen Messfehler sind – sogar als „großes Geschenk für die Astrophysik, weil sie dort Entdeckungspotenzial haben. Wenn die Anomalien uns etwas lehren können, dann wird sich dies wohl auf unsere nähere kosmische Umgebung beziehen, etwa auf die Entstehungsgeschichte unseres Sonnensystems.“

Dafür spricht, dass viele der Anomalien mit der Ekliptik korreliert sind, also eine ähnliche Ausrichtung haben wie die Erdbahn um die Sonne. Daher wurde vermutet, dass ein Vordergrundeffekt die Hintergrundstrahlung geringfügig modifiziert hat, etwa Staub in den Außenbezirken des Sonnensystems, der von dessen Bildung übrig geblieben ist oder von Kometen- und Planetoiden-Kollisionen stammt.

Allerdings haben die WMAP- und Planck-Forschungsteams diese Möglichkeit sorgfältig untersucht und keine konkreten Indizien dafür gefunden. Sie haben auch erwogen, ob kurz nach dem Urknall entstandene großräumige Magnetfelder die Kosmische Hintergrundstrahlung über weite Bereiche beeinflusst haben könnten, ohne aber das Kopernikanische Prinzip zu verletzen. Dazu wurden versuchsweise Modelle entwickelt. Allerdings weiß niemand, ob es solche Felder gab oder noch gibt.

„Vielleicht helfen die Daten zur Polarisation der Hintergrundstrahlung weiter, die wir gegenwärtig auswerten und nächstes Jahr veröffentlichen werden“, sagt Torsten Enßlin. Ob sie die Rätsel lösen, ist unklar, aber einige spekulative Modelle werden sie sicherlich widerlegen. Enßlin ist jedenfalls skeptisch, ob die Anomalien statistisch signifikant sind. Und das ist nicht einfach zu beantworten. „Das hängt davon ab, wie viele Fragen man stellt, und welche Fragen gewissermaßen natürlich sind“ , erläutert er. „Doch das sind eigentlich schon philosophische Probleme.“ Man kann bestimmte Erwartungswerte ausrechnen, mit Zufallsdaten vergleichen und die Modelle anhand der Daten testen. „Wenn der Test dann anspricht, ist das beeindruckend. Wenn aber ganze Testbatterien auf die Daten losgelassen werden und manche davon etwas finden, ist das nicht so erstaunlich“, sagt Enßlin und zieht einen alltäglichen Vergleich: „Wenn man zum Arzt geht und er einen Rundum-Check macht, findet er bestimmt etwas. Irgendwelche Werte tanzen immer aus der Reihe.“

So weit ist sich Christoph Räth vom Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik mit seinem Kollegen vom Nachbargebäude einig. Er zieht jedoch andere Schlussfolgerungen und überlegt, ob das Standardmodell nicht vielleicht „eine schwere Krankheit ausbrütet“. Die Anomalien hält er für „sehr signifikant“ und regt an, das Kosmologische Prinzip auf den Prüfstand zu stellen. „Das Postulat von der Isotropie des Weltraums muss ernsthaft hinterfragt werden!“

Rotiert das All?

Tatsächlich wird in einer der Veröffentlichungen des Planck-Teams, zu dem sowohl Enßlin als auch Räth gehören, gezeigt, dass ein anisotropes kosmologisches Modell die Temperaturschwankungen in der Hintergrundstrahlung besser beschreiben kann als das Standardmodell. Es handelt sich um das sogenannte Bianchi-VIIh-Modell, das nach dem italienischen Mathematiker Luigi Bianchi benannt ist. Es wurde unter anderem 1973 von dem britischen Physiker Stephen Hawking untersucht – allerdings noch ohne die Dunkle Energie zu berücksichtigen, die sich aber integrieren lässt. Ein solches Bianchi-Universum ist homogen, aber anisotrop, weil es rotiert und charakteristische Verzerrungen besitzt. Das prägt der Hintergrundstrahlung eine spiralförmige Komponente auf. Berücksichtigt man das, verschwinden die großräumigen Anomalien weitgehend. Die Achse des Bösen wird quasi zum Guten bekehrt.

„Das Ergebnis ist frappierend: Ein aus vielen Gründen unphysikalisches Modell passt am besten zu den Daten“, wundert sich Räth. Dieses Resultat sorgte auch auf der großen Planck-Konferenz der Europäischen Raumfahrtagentur ESA im holländischen Noordwijk für Kontroversen. Räth, der dort vorgetragen hat, und andere Forscher sprechen bereits vom Bianchi-Rätsel. Denn obwohl das Modell die Anomalien mathematisch größtenteils bereinigen kann, steht es mit den von Planck gemessenen kosmologischen Parametern nicht in Einklang. „Es ist ein schlechtes Modell, das aber manche Daten gut beschreibt. Will uns die Natur etwas mitteilen?“, grübelt Räth. Das glaubt Torsten Enßlin nicht. „Man muss mit ungewöhnlichen Strukturen am Himmel rechnen. Das Temperaturmuster ist letztlich das Produkt kosmischer Zufallsprozesse. Da kann man vieles herauslesen, aber es hat keine Signifikanz.“

So zeichnen sich im Fleckenmuster der Temperaturschwankungen scheinbar Buchstaben ab, etwa „SH“, die Initialen von Stephen Hawking. Dieses unter Kosmologen beliebte Beispiel ist witzig, aber weder unwahrscheinlich noch von einer hintergründigen extragalaktischen Bedeutung. Auch andere Strukturen lassen sich ausmachen – etwa konzentrische Kreise, die Roger Penrose von der Oxford University vor wenigen Jahren als „Abdrücke“ von Gravitationswellen aus einer mutmaßlichen Zeit vor dem Urknall prognostiziert hat (bild der wissenschaft 12/2010, „Die ewige Wiederkehr der Zeit“).

Tatsächlich wurden einige solcher Kreise gefunden. Aber die Kosmologen waren nicht beeindruckt, denn statistische Tests zeigten, dass derartige Kreise in der Menge der Temperaturfluktuationen recht wahrscheinlich sind – ebenso wie Smileys, die man dort auch finden kann, aber nicht als ein Lächeln der Natur interpretieren würde. Spielt uns das Universum mit seinen Anomalien also doch einen Streich?

Konflikt der Statistiken

„Der tiefere Grund für die gegensätzlichen Meinungen ist, dass den verschiedenen statistischen Auswertungen eine unterschiedliche Bedeutung beigemessen wird“, sagt Räth. „Es gibt zwei Arten von statistischen Tests: modellabhängige und modellunabhängige. Bei Ersteren hat man eine gewisse Vorstellung von der Abweichung von einer Norm, modelliert dann Anomalien und vergleicht sie mit den Daten. Diese Art von Analyse bevorzugt Torsten Enßlin. Bei modellunabhängigen Tests wird hingegen gemäß abstrakten Kriterien überprüft, ob die Daten mit der Norm verträglich sind. So lässt sich beispielsweise das Postulat von der Isotropie des Raums gut untersuchen. Die offizielle Vorgehensweise des Planck-Teams ist es, beide Tests anzuwenden und gleichwertig zu behandeln.“

In einem Punkt wenigstens besteht Einigkeit – nämlich, dass niemand weiß, ob die Anomalien als Zufallsschwankungen im Rahmen des kosmologischen Standardmodells durchgehen können oder ob sie einer gesonderten Erklärung bedürfen und womöglich sogar ein besseres Modell erfordern. Mehr noch: Vielleicht hängen die Anomalien auch miteinander zusammen oder haben eine gemeinsame Ursache. „Das herauszufinden, ist derzeit Gegenstand einer recht intensiven Forschungstätigkeit“, weiß Räth, der selbst dabei mitknobelt. „Was separat und was vielleicht sogar identisch ist, kann derzeit keiner sagen.“

João Magueijo sieht es ähnlich: „Es ist schwer zu beurteilen, ob die Anomalien zusammenhängen. Dazu braucht man ein Modell und eine Erklärung.“ Aber auch ohne diese sollte man die Abweichungen nicht auf die leichte Schulter nehmen. „Alle diese Anomalien sind ziemlich seltsam und destruktiv für die Standardkosmologie. Wer an der festhalten will, sollte besser beten, dass es sich um systematische Fehler handelt.“

Mysteriöser kalter Fleck

Doch nicht nur die großräumigen und relativ abstrakten Merkmale in der Kosmischen Hintergrundstrahlung bereiten den Forschern Kopfzerbrechen. Planck hat auch eine am Südhimmel lokalisierte Anomalie bestätigt, die bereits 2004 in den ersten Daten der Sonde WMAP aufgespürt wurde: die Existenz eines ungewöhnlich großen kalten Flecks im Sternbild Eridanus.

Dieser sogenannte WMAP Cold Spot ist gut 0,1 Millikelvin kühler als der Durchschnitt der Hintergrundstrahlung und hat einen außergewöhnlich großen Radius von fast fünf Grad. Der Fleck ist aller Wahrscheinlichkeit nach kein Zufall, sondern erfordert eine Erklärung. Und dazu wurden teils wilde Spekulationen von Physikern publiziert: So könnte die Ursache der kühleren Himmelsregion ein narbenartiges Relikt aus einem Phasenübergang kurz nach dem Urknall sein, eine sogenannte Textur, oder sogar ein Tor zu anderen Universen oder ein quantenphysikalischer „ Abdruck“ davon.

Eine vergleichsweise wenig exotische Hypothese stammt von Lawrence Rudnick und seinen Kollegen. Die Astronomen von der University of Minnesota in Minneapolis haben vermutet, dass sich vor dem Cold Spot ein ungewöhnlich großer Leerraum zwischen den Galaxienhaufen befindet, der die Hintergrundstrahlung leicht abgekühlt hat (bild der wissenschaft 9/2008, „Das Loch“). Denn Photonen verlieren Energie, wenn sie die expandierenden Lücken im Gewebe der Galaxienhaufen kreuzen. Und tatsächlich legten die radioastronomischen Daten des NVSS-Katalogs (NRAO/VLA Sky Survey) Rudnicks Analyse zufolge die Existenz eines über fünf Milliarden Lichtjahre entfernten gigantischen Leerraums nahe, vielleicht 500 bis 900 Millionen Lichtjahre im Durchmesser. Der wäre allerdings schwer mit dem kosmologischen Standardmodell vereinbar.

Inzwischen hat sich die Datenlage jedoch geändert. „Der Cold Spot erfreut sich bester Gesundheit, aber die Indizien für den Leerraum sind kollabiert“, sagt Rudnick. Das zeigten zum einen genauere Radioastronomie-Daten. „Wenn es ein großes Loch vor dem Cold Spot gäbe, würden wir in dieser Richtung weniger Galaxienhaufen sehen als in anderen. Für die relativ hellen Radioquellen der NVSS-Himmelsdurchmusterung war das der Fall. Aber mit neuen Beobachtungen, die auch schwächere Quellen nachweisen konnten, fiel der Vergleich schlechter aus – der Unterschied nahm ab, nicht zu“, fasst Rudnick die Resultate seiner bislang nicht publizierten Studie zusammen.

Kein Riesenloch im All

Hochempfindliche Beobachtungen im optischen Bereich mit Distanzabschätzungen von Galaxienhaufen waren noch deutlicher. So haben Benjamin Granett vom Institut für Astronomie der University of Hawaii in Honolulu und seine Kollegen sieben kleine Stellen vor dem Cold Spot mit dem 3,58-Meter-CFHT (Canada-France-Hawaii Telescope) auf dem Mauna Kea ins Visier genommen. Das Ergebnis ist unmissverständlich: Eine außergewöhnlich geringe kosmische Dichte gibt es dort nicht (siehe Grafik unten, „Ein seltsamer kalter Fleck“). „Wir schließen zwar keine Leerräume mit einem Durchmesser von 300 Millionen Lichtjahren aus, doch diese würden allenfalls einen kleinen Beitrag zur niedrigen Temperatur der Kosmischen Hintergrundstrahlung liefern“, schreiben die Forscher im Astrophysical Journal. „Die Existenz eines 600 Millionen Lichtjahre großen Superleerraums ist aber eindeutig widerlegt.“

„Ich denke, letztlich sind wir einer falschen statistischen Auswertung der Radiodaten aufgesessen“, räumt Rudnick enttäuscht ein. „Das ist eine heikle Angelegenheit. Unser erstes Ergebnis erschien signifikant, hing aber von der Bandbreite der Möglichkeiten ab. Je größer die ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass man zufällig etwas Außergewöhnliches findet. Und wir haben die Möglichkeiten wohl schlicht unterschätzt und daher fälschlicherweise geschlossen, dass unser Fund signifikant und nicht zufällig ist.“

Damit bleibt das Rätsel um den Cold Spot offen. Plancks Messungen zeigen, dass er nicht als fehlerhafte Interpretation der WMAP-Daten abgetan werden kann. „Aber vielleicht handelt es sich nur um eine zufällig kältere Region am Himmel, die keiner gesonderten Erklärung bedarf“, meint Matthias Bartelmann, Astrophysik-Professor an der Universität Heidelberg.

„Das erscheint nicht plausibel“, widerspricht Rudnick. „Ein Cold Spot dieser Größe dürfte nicht existieren, wenn die Temperaturschwankungen einer statistischen Gaußverteilung unterliegen. Allerdings sehe ich keine Hinweise auf etwas im Vordergrund, das ihn verursacht haben könnte. Und für jede dieser Hypothesen muss man neue physikalische Effekte annehmen. Im Augenblick favorisiere ich keine dieser Spekulationen – sie sind alle ziemlich abseitig.“

Zur Achse des Bösen, zum Cold Spot und zu den anderen kosmische Konsorten ist das letzte wissenschaftliche Wort also noch lange nicht gesprochen. „Ich denke, die Messungen sind nicht signifikant und werden es auch nie werden“, sagt Matthias Bartelmann. Er begründet das mit der sogenannten Kosmischen Varianz: Zu extrem großräumigen Merkmalen wie der angeblichen Achse des Bösen lassen sich im Rahmen kosmologischer Modelle nur sehr schwer statistische Abschätzungen treffen. Denn wir können nur ein einziges Universum beobachten – und es daher nicht mit anderen vergleichen, um zu beurteilen, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich bestimmte Eigenschaften sind. „Wo prinzipiell keine gesicherten Aussagen möglich sind, kann man sich endlos streiten“, sagt Bartelmann. Und die Signifikanz der Anomalien lässt sich auch nicht mehr großartig erhöhen, weil die Messgenauigkeit technisch kaum mehr zu steigern ist. Daher seien die Anomalien auf der Planck-Pressekonferenz in Paris auch überbetont worden.

Andere Kosmologen sind weniger skeptisch. João Magueijo und Christoph Räth beispielsweise setzen auf einen theoretischen Durchbruch zum Verständnis der Anomalien, der dann vielleicht auch zusätzliche, durch Messungen überprüfbare Vorhersagen machen könnte. „Die Polarisationsdaten könnten ebenfalls Überraschungen bringen, und nicht alle Anomalien werden durch die Kosmische Varianz verwässert“, entgegnet Räth.

Das Planck-Forscherteam gibt sich salomonisch: „Versuche, die beobachteten Merkmale als systematische Artefakte, nahe astrophysikalische Emissionsquellen oder Strukturen des lokalen Universums zu erklären, waren nicht erfolgreich“, schreiben die Kosmologen in einem Forschungsbericht in der Zeitschrift Astronomy and Astrophysics. „Es ist klar, dass die Anomalien echte Merkmale des Himmels repräsentieren.“

Rumsfeld und Rilke

Doch an ihrer Signifikanz und Bedeutung scheiden sich die Geister. Der Kosmologe Michael Turner von der University of Chicago zitiert in diesem Zusammenhang gern eine Bemerkung von George W. Bushs Verteidigungsminister Donald Rumsfeld – die kurioserweise auch im Kontext der „Achse des Bösen“ fiel, bei der Suche nach ungewöhnlichen Orten, konkret: Verstecken. Rumsfeld antwortete auf die Frage von Journalisten nach irakischen Massenvernichtungswaffen am 12. Februar 2002: „Es gibt bekannte Bekannte, es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen. Wir wissen auch, dass es bekannte Unbekannte gibt, das heißt, wir wissen, dass es einige Dinge gibt, die wir nicht wissen. Aber es gibt auch unbekannte Unbekannte – es gibt Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.“

Einige Journalisten kommentierten das mit ätzendem Spott. Aber die Unterscheidung ist gar nicht so verschwurbelt, wie sie klingt. Das gilt auch für die Kosmologie. Denn Kosmologen diskutieren ja intensiv darüber, ob die Anomalien „bekannte Unbekannte“ sind oder nicht – und falls sie es sind, welche „ unbekannte Unbekannte“ sie erklären könnten. Das bereitet manchen Forschern Kummer, andere wittern hier eine prächtige Chance für großartige Entdeckungen. Und deshalb könnte man die Situation, statt sie politisch-militärisch zu beschreiben, auch poetisch-metaphorisch zusammenfassen – wieder mit Rainer Maria Rilke. In seinen „Gedichten an die Nacht“ heißt es: „ Überfließende Himmel verschwendeter Sterne prachten über der Kümmernis.“ N

von Rüdiger Vaas

Kompakt

· Die Schwankungen in der Kosmischen Hintergrundstrahlung sind nicht so gleichförmig wie erwartet.

· Vor allem eine eigenartige Vorzugsrichtung bereitet den Forschern Kopfzerbrechen.

· Auch ein „kalter Fleck“ passt nicht ins Bild. Außerdem wird er nicht durch ein riesiges Loch im All verursacht, wie früher vermutet.

Mehr zum Thema

Lesen

Glänzender Hintergrund zur Physik der Kosmischen Hintergrundstrahlung: Amedeo Balbi THE MUSIC OF THE BIG BANG Springer, Heidelberg 2008, € 24,56

Einführung in die moderne Kosmologie: Rüdiger Vaas HAWKINGS KOSMOS EINFACH ERKLÄRT Franckh-Kosmos, Stuttgart 2011, € 24,95

Internet

Die Kosmische Hintergrundstrahlung: background.uchicago.edu/

Die Planck-Mission: sci.esa.int/planck

Die Planck-Konferenz der ESA in Noordwijk: www.sciops.esa.int/index.php?project= PLANCK&page=47_eslab

Plancks Daten und Ergebnisse: www.sciops.esa.int/index.php?project= planck&page=Planck_Legacy_Archive

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