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Kosmische Revoluzzer

Astronomie|Physik Geschichte|Archäologie

Kosmische Revoluzzer
Galaxien bewegen sich anders, als es die bekannten Naturgesetze erlauben. Das könnte die Grundfesten der Physik erschüttern.

MOND ist ein alternatives Paradigma, das die Newton’sche Dynamik und Allgemeine Relativitätstheorie zu ersetzen versucht.“ So fasste Mordehai Milgrom vom Weizmann-Institut im israelischen Rehovot in einem Übersichtsartikel vor wenigen Monaten seine über 30-jährige Anstrengungen zusammen, das Fundament der Physik und Kosmologie zu renovieren – oder gar umzustürzen. Noch steht das Theoriengebäude zwar, aber Milgrom ist nicht der einzige seriöse Forscher, der glaubt, dass es wankt. Dabei geht es dem Astrophysiker nicht um Destruktion, sondern um eine konstruktive, präzisere Beschreibung der Bewegungsgesetze der Materie. Er nennt seinen Ansatz MOND – „Modifizierte Newton’sche Dynamik“.

Dass im All etwas nicht so „läuft“, wie es soll, ist inzwischen unumstritten. Astronomische Messungen der Bewegungen von Sternen und Gaswolken in den Außenbezirken der Galaxien haben seit den 1970er-Jahren eindeutig gezeigt, dass hier etwas nicht stimmt: Die Galaxien rotieren dort nämlich fast genauso schnell wie nahe am Zentrum. Das dürften sie aber laut den Kepler’schen Gesetzen nicht, die Isaac Newtons Gravitationstheorie erklärt: Im Sonnensystem bewegen sich sonnenfernere Planeten ja auch viel langsamer als sonnennähere. Um die Galaxien-Messungen zu verstehen, folgern viele Astrophysiker, dass es in den Außenbezirken weitaus mehr Masse gibt, als dort leuchtet – dass die Galaxien von einem Dunklen Halo unsichtbarer Materie eingehüllt werden, der zehn Mal so groß und rund fünf Mal so massereich ist wie alle Sterne, Gas- und Staubwolken zusammen. Diese sogenannte Kalte Dunkle Materie unterliegt nicht der Elektromagnetischen Wechselwirkung, sondern sollte aus einer noch nicht nachgewiesenen neuen Sorte von langsam umherfliegenden Elementarteilchen bestehen (bild der wissenschaft 12/2011, „ Dunkle Materie“).

Diese wahrhaft weitreichende Schlussfolgerung setzt die Gültigkeit des Gravitationsgesetzes voraus – und mithin der Allgemeinen Relativitätstheorie, die Isaac Newtons Gravitationstheorie und somit die Kepler’schen Gesetze als Spezialfall für kleine Geschwindigkeiten oder Massen enthält. Diese Annahme aber könnte für sehr geringe Beschleunigungen nicht zutreffen. Denn es lässt sich durch Laborexperimente bislang nicht ausschließen, dass die Schwerkraft nicht überall linear proportional zur Beschleunigung ist, wie es Newton postuliert hat. Die Gültigkeit eines solchen universellen Gesetzes – „eine sensationelle Extrapolation“, wie Jim Peebles von der Universität Princeton betont – sollte man Milgrom zufolge nicht einfach weltweit voraussetzen.

Im Sonnensystem ist zwar gleichsam kein Platz für so schwache gravitative MOND-Verhältnisse. Bei Sternen fern vom Zentrum ihrer Galaxie, wo der Schwereeinfluss gering ist, könnte das aber anders sein. Dann wäre die mutmaßliche Existenz von Dunkler Materie schlicht ein Trugschluss, basierend auf einer falschen theoretischen Voraussetzung.

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Genau diese kühne Spekulation ist die Grundidee von MOND, die Milgrom bereits 1981 ersonnen und 1983 nach einigen Schwierigkeiten publiziert hatte. Seither hat sich immer genauer gezeigt: MOND kann die gemessenen Rotationskurven der Galaxien erstaunlich gut beschreiben – sogar besser, als es mit Dunkler Materie möglich ist, weil bei dieser auch komplizierte galaktische Entwicklungseffekte und Rückkopplungen eine Rolle spielen. Doch man würde ja auch nicht die Statistische Thermodynamik ablehnen, bloß weil man mit ihr keine genauen Wettervorhersagen machen kann, entgegnen die Anhänger der Dunklen Materie, etwa Simon White, Direktor am Max-Planck- Institut für Astrophysik in Garching.

Vorschlaghammer, Oldtimer und Blasphemie

Das jedoch überzeugt Milgrom nicht. „Alle MOND-Vorhersagen auf galaktischen Skalen sind einfache, unvermeidliche Folgerungen. Sie hängen nicht von den chaotischen Entstehungsmodellen der Galaxien ab – ähnlich wie sich Keplers Gesetze, die alle Planetensysteme beschreiben, aus Newtons Theorie ableiten lassen und nicht aus den komplexen Szenarien zur Bildung von Planetensystemen“, sagt er. „Zu denken, dass sich die universellen MOND- Regularitäten der Galaxien eines Tages irgendwie aus deren Entwicklungsgeschichte ergeben, wie die Advokaten der Dunklen Materie sagen, ist ein Irrglaube.“ Das stößt unter vielen Forschern auf große Skepsis. Unbekannte Elementarteilchen zu postulieren, ist bereits kühn – aber an einem seit Jahrhunderten bekannten Gesetz herumzuschrauben, klingt für manchen Physiker fast schon nach Blasphemie. Entsprechend harsch und teilweise unfair ist die Kritik.

Die Kontroversen zwischen den MONDianern und den Advokaten der Dunklen Materie werden sehr vehement geführt. „Da ist fast religiöser Eifer im Spiel“, meint Pedro Ferreira von der Universität Oxford. „Entfernte man die Dunkle Materie und die Dunkle Energie des Weltalls aus dem Bild, dann müsste man Einsteins schöne Theorie modifizieren. Diese Aussicht gefiel vielen Astrophysikern nicht – es ist, als würde man einen Oldtimer mit dem Vorschlaghammer bearbeiten, damit er in die Garage passt.“

Umgekehrt wirft Stacy McGaugh von der Case Western Reserve University in Cleveland, Ohio, den Anhängern der Dunklen Materie vor: „Ich renne oft gegen eine irrationale Wand, die manchmal fast wie ein religiöses Gefühl wirkt.“ Er hat Jahre damit verbracht, die Dynamik der Galaxien mit der Annahme der Kalten Dunklen Materie zu modellieren. „Ich habe nie etwas dazu veröffentlicht, weil meine Resultate nicht befriedigend waren.“ Man kann zwar jede Galaxie mithilfe der Annahme von Kalter Dunkler Materie beschreiben – auch auf dem Papier konstruierte, völlig unphysikalische Systeme, wie McGaugh zeigte. Aber das erfordert individuelle Justierungen und mehr freie Parameter als bei den eindeutigen Prognosen von MOND, die nicht so flexibel sind und trotzdem überall passen.

Auch Pavel Kroupa von der Universität Bonn ätzt: „Das Versagen des Standardmodells auf galaktischen Skalen entspricht dem von Wettermodellen, die einen konstanten Schneefall in der Sahara voraussagen.“ Denn mit der Vorstellung von Dunkler Materie, so zeigte er in einer Reihe von Arbeiten mit Marcel Pawlowski und weiteren Kollegen, lässt sich die Zahl und Entwicklung von Zwerggalaxien nicht verstehen. MOND hingegen hat hierzu die richtige Dynamik vorausgesagt, ebenso wie für die lichtschwachen großen Galaxien, deren Existenz 1983 noch gar nicht bekannt war.

Die größte Revision seit Einstein

In der Theorie steht MOND allerdings selbst auf schwankendem Grund, da hier das Gesetz von der Impulserhaltung unterminiert wird und MOND auch nicht mit der Relativitätstheorie kompatibel ist. Doch vielleicht ist MOND lediglich eine effektive Näherungsbeschreibung – ein Grenzfall einer umfassenderen Theorie, so wie Keplers Gesetze in Newtons Theorie aufgingen und diese in Einsteins Jahrhundertwerk.

Jacob Bekenstein von der Universität Jerusalem hat 2004 – nach Vorarbeiten mit Robert Sanders von der Universität Groningen ab 1994 – eine Erweiterung vorgeschlagen. Sie ist relativistisch, respektiert Erhaltungssätze und kann im Gegensatz zu MOND sogar Gravitationslinseneffekte und kosmologische Szenarien beschreiben. Diese Tensor-Vektor-Skalar-Gravitationstheorie (TeVeS) wäre, falls sie richtig ist, die größte Revision im Verständnis der Gravitation seit Einstein. „Sie würde unser Verständnis vom Universum drastisch verändern“, räumt Bekenstein ein. Und sein Wort hat Gewicht, ist er doch ein Pionier der Thermodynamik Schwarzer Löcher – deren Verdampfung Stephen Hawking auf der Grundlage von Bekensteins Arbeiten vorausgesagt hat.

Allerdings postuliert TeVeS die Existenz zahlreicher neuer Felder und ist Kritikern zufolge schlicht zu kompliziert, um wahr zu sein. Andererseits könnte TeVeS vielleicht auch die Dynamik von Galaxienhaufen beschreiben, die Bildung der großräumigen Strukturen und Eigenschaften der Kosmischen Hintergrundstrahlung – alles Fälle, in denen MOND versagt, das kosmologische Standardmodell mit Dunkler Materie und Energie jedoch brilliert. Freilich wäre TeVeS hier nur erfolgreich und eine Alternative, falls es zusätzlich Heiße Dunkle Materie in Gestalt von Teilchen mit einer Masse von rund zwei oder sogar zehn Elektronenvolt gäbe, etwa Sterile Neutrinos. Das zeigte Garry Angus von der Universität Turin mit Modellrechnungen. Doch selbst dann hat TeVeS noch Probleme angesichts neuer kosmologischer Daten. Scott Dodelson vom Fermilab in Batavia, Illinois, spricht sogar von einer „gewaltigen Nichtübereinstimmung“.

Fest steht: Konkurrenz belebt das Geschäft, und das ist für den wissenschaftlichen Fortschritt essenziell. Letztlich wird sich die Kontroverse nur durch Beobachtungen und Experimente sowie die Erklärungs- und Voraussagekraft der Modelle entscheiden lassen. Vielleicht helfen große Kugelsternhaufen wie Omega Centauri weiter, die Zwerggalaxien ähneln, aber keine Dunkle Materie enthalten. In ihren Außenbezirken ist die Gravitation ebenfalls schwach und könnte MOND-Effekte zeigen. Aber bislang gibt es keine eindeutigen Resultate. Bekenstein und João Magueijo vom Imperial College in London zufolge lässt sich MOND eventuell sogar im Sonnensystem testen: mithilfe von Laser-Messungen zwischen Raumsonden an den sogenannten Lagrange-Punkten, wo sich die Schwerkraft von Sonne und Erde gerade aufhebt.

Wenn ein direkter Nachweis der Dunklen Materieteilchen gelingt – und nach ihnen suchen inzwischen Dutzende von Detektoren weltweit –, haben MOND und TeVeS ein großes Problem. Milgroms Idee bleibt aber, so oder so, von großer Bedeutung. Denn auf jeden Fall müssen die Astronomen noch erklären, warum die MOND-artige Beschreibung der Galaxien so gut funktioniert. •

von Rüdiger Vaas

Kompakt

· Während viele Forscher die Existenz einer – bislang nicht direkt nachgewiesenen – Dunklen Materie postulieren, bezweifeln andere Isaac Newtons ehrwürdiges Gravitationsgesetz.

· Die „Modifizierte Newton‘sche Dynamik“ (MOND) kann die sonderbare Rotation von Galaxien auf einfache Weise erklären.

MOND für Mehrwisser

Isaac Newtons Bewegungsgesetz zufolge errechnet sich eine Kraft F auf eine konstante Masse m, die die Beschleunigung a erfährt, durch F = ma. Ist F die Schwerkraft und G die Gravitationskonstante, dann beschreibt Newtons Gravitationsgesetz die Schwerewirkung auf einen Stern mit der Masse m und dem Abstand r vom Schwerpunkt der Galaxie, die die Masse M hat, folgendermaßen: F = GMm/r2. Das entspricht einer Beschleunigung des Sterns mit der Geschwindigkeit v auf einer idealisierten Kreisbahn gemäß a = v2/r.

Der Astrophysiker Mordehai Milgrom postulierte eine neue Naturkonstante a0 in der Größenordnung von 10-10 Meter pro Sekunde im Quadrat für sehr kleine Beschleunigungen (bei größeren gilt Newtons Gesetz). Daraus ergibt sich ein modifiziertes Bewegungsgesetz: GM/r2 = a2/a0. Damit wird die Rotationsgeschwindigkeit der Sterne weit entfernt vom Galaxienzentrum konstant – v = (GMa0)1/4 – hängt also nicht mehr von r ab. Folglich ist die Rotationskurve für die Außenbezirke der Galaxien flach – im Einklang mit vielen astronomischen Messungen. Eigenartigerweise hat a0 auch einen Bezug zur Kosmologie. Es gibt nämlich einen einfachen Zusammenhang mit der Lichtgeschwindigkeit c, der Kosmologischen Konstante L und der Hubble-Konstanten H0 (der gegenwärtigen Ausdehnungsrate des Weltalls): 2pa0 = cH0 = c2(L/3)1/2. Außerdem liegt die MOND-Länge lM = c2/a0 bei knapp 1029 Zentimetern, also in der Größenordnung des Durchmessers des beobachtbaren Universums, und die MOND-Masse MM P 2pc3/GH0 P 2pc2/G(L/3)1/2 P 1057 Gramm in der Größenordnung der kritischen Masse, also an der Grenze zwischen ewiger Expansion und Kollaps des Weltraums. Die Bedeutung dieser Koinzidenzen ist rätselhaft. Immerhin folgt daraus, dass es keine Überschneidung zwischen MOND-Systemen und lokalen relativistischen Systemen gibt, etwa Schwarzen Löchern im MOND- Regime. Daher lassen sich MOND-Effekte wohl nur in Galaxien beobachten. Ob sich a0 im langsam verändert, ist ebenfalls unklar.

Kosmische Geschwindigkeiten

Alles bewegt sich – und anscheinend noch viel schneller, als es die Relativitätstheorie erlaubt. Das gilt sowohl für Zwerggalaxien (Quadrate) als für auch gasreiche (hellgraue Kreise) und von Sternen dominierte (dunkelgraue Kreise) Spiralgalaxien sowie für Gruppen (hellgraue Dreiecke) und Haufen (dunkelgraue Dreiecke) von Galaxien. Die Messungen erfordern entweder eine große Menge an zusätzlicher Dunkler Materie oder eine Modifizierte Newton’sche Dynamik (MOND). Letztere passt besser zu den kleinräumigen Verhältnissen. Das Kosmologische Standardmodell LCDM mit Dunkler Energie (L) und Materie (CDM, Cold Dark Matter) ist hingegen auf den großen Skalen überlegen.

Die Giraffen-Galaxie

Die Rotationskurve der elf Millionen Lichtjahre entfernten Galaxie NGC 1560 im Sternbild Giraffe: Sterne weit entfernt vom Zentrum der 35 000 Lichtjahre großen Spiralgalaxie bewegen sich viel schneller (Messpunkte), als sie es nach Isaac Newtons Gravitationsgesetz dürfen (rote Kurve). Damit die Beobachtung mit der Theorie übereinstimmt, müsste sich fünf Mal so viel „finstere“ wie sichtbare Masse in der Galaxie verbergen (lila Kurve). Eine Modifizierte Newton‘sche Dynamik (MOND) kann die Messungen jedoch auch ohne diese ominöse Dunkle Materie aus hypothetischen Elementarteilchen erklären (blaue Kurve). Sie passt sogar besser zu den Beobachtungen – vor allem, wenn man die ähnlichen Verhältnisse in vielen Dutzend anderen Galaxien berücksichtigt – und braucht dazu auch weniger freie Parameter. Das ist ein großer Vorteil, wenn auch zum hohen Preis eines abgeänderten Naturgesetzes.

Von Kepler zu MOND

Isaac Newtons Gravitationstheorie zufolge nimmt die Bahngeschwindigkeit der Planeten um die Sonne proportional zum Quadrat ihrer Entfernung ab. Das hat schon Johannes Kepler Anfang des 17. Jahrhunderts beschrieben. Sterne, die in großer Distanz um das Zentrum ihrer Galaxie kreisen, verhalten sich jedoch seltsamerweise anders: Ihre Orbitalgeschwindigkeit ist nahezu konstant. Viele Astronomen erklären das durch den Effekt einer unbekannten Dunklen Materie. Leichter verständlich wäre dies jedoch durch eine Abänderung von Newtons Gesetz. Die Grafik veranschaulicht die Voraussage einer solchen Modifizierten Newton‘ schen Dynamik (MOND) durch die blaue Kurve – allerdings um den Faktor 107 verstärkt. In den Schwerkraftverhältnissen des Sonnensystems treten MOND-Effekte nicht auf, denn dafür müssten die Planeten viele Tausend Mal so weit von der Sonne entfernt sein wie die Erde.

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