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Blitze aus der Schleuder

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Blitze aus der Schleuder
Ein neuer Großbeschleuniger in den USA erzeugt die stärksten Neutronenpulse weltweit. Forscher können damit tiefer als je zuvor ins Innere der Materie blicken.

Frank Kornegay steht in der fensterlosen Kontrollzentrale voller Flachbildschirme und Computertastaturen. Er zeigt auf die Wand – auf ein unscheinbares, eingerahmtes Stück Papier. „Eine Urkunde aus dem Guinness-Buch der Rekorde“, schmunzelt der Physiker. „Darauf steht: ,Die SNS ist die stärkste Neutronenquelle der Welt.‘ Das Ding haben wir uns natürlich an die Wand gehängt!“

Kornegay ist der Betriebsleiter einer ganz besonderen Maschine im US-Bundesstaat Tennessee – der „Spallation Neutron Source“, kurz SNS. Von „Spallation“ sprechen die Physiker, wenn hochenergetische Teilchen auf einen Atomkern treffen und aus ihm Kernbausteine herausschlagen. Und genau darum geht es hier. Kornegays Riesenanlage steht am Oak Ridge National Laboratory, füllt mehrere Hallen und erzeugt durch Spallation Unmengen an Neutronen. Wissenschaftler nutzen die winzigen Kernteilchen, um die verschiedensten Stoffe zu durchleuchten und deren Innenleben bis ins letzte Detail zu erkunden.

Die Technik namens Neutronenstreuung ist schon lange etabliert. Tausende von Physikern, Biologen, Chemikern und Materialforschern analysieren ihre Proben mit Neutronen. Doch die meisten von ihnen arbeiten an Forschungsreaktoren. Dort entstehen die Neutronen bei der Kernspaltung in Uran-Brennstäben. Aber diese Reaktoren sind umstritten. Bevor 2004 in Garching bei München der Reaktor FRM II in Betrieb ging, gab es heftige Proteste. Der damalige Bundesumweltminister Jürgen Trittin hatte die Erteilung der Betriebsgenehmigung jahrelang verzögert. Der Grund für den Unmut: Um möglichst viele Neutronen aus dem FRM II herauszuholen, hatten ihn seine Konstrukteure mit Brennstäben aus hochangereichertem Uran ausgestattet. Dieses jedoch, führten die Kritiker an, sei waffenfähig. Zwar soll der Reaktor bis Ende 2010 auf weniger stark angereichertes Uran umgerüstet werden. Doch da es die entsprechenden Brennelemente noch nicht gibt, haben die FRM-II-Betreiber und die Bundesregierung beim bayerischen Umweltministerium eine Verlängerung der Genehmigung bis 2016 beantragt. Mit neuen Protesten ist zu rechnen.

Ein GAU ist ausgeschlossen

Die SNS hingegen basiert nicht auf einem Reaktorkern, sondern auf einem Teilchenbeschleuniger. Und: Sie liefert seit Kurzem die stärksten Neutronenblitze der Welt. „Bei einem Reaktor machen sich die Leute Sorgen, dass das Kühlsystem ausfallen und der Reaktorkern schmelzen könnte“, sagt Kornegay. „Ein Beschleuniger dagegen kann nicht durchgehen. Wenn bei ihm etwas ausfällt, funktioniert er einfach nicht mehr.“ Das Prinzip der Anlage: Zunächst ionisieren die Forscher Wasserstoff-Atome, die sie mit zusätzlichen Elektronen aufladen. Diese Ionen lassen sich dann in einem 300 Meter langen, zum Teil supraleitenden Linearbeschleuniger auf Trab bringen. Am Ende der Rennstrecke erreichen die Wasserstoff-Ionen 86 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Damit jagen sie durch eine dünne, aber sehr stabile und haltbare Diamant-Folie. Hier streift der Wasserstoff sämtliche Elektronen ab. Übrig bleiben die Kerne, die Protonen. „ Die schicken wir dann in einen 250 Meter großen Ringbeschleuniger“ , erklärt Kornegay. Während die Protonen durch den Kreisverkehr rasen, werden sie zu Pulsen gebündelt. In jeder Sekunde verlassen 60 Pulse aus jeweils Abermilliarden Protonen den Ringbeschleuniger. Kornegay: „Jeder Puls hat die Energie eines schweren Maschinengewehrs.“

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Die Protonen-Salven schießen auf das „Target“ zu – einen Spezialtank mit flüssigem Quecksilber. Hier passiert das Entscheidende: Die Protonen treffen auf Quecksilber-Kerne und lassen sie durch ihre Wucht zerplatzen. Ein hocheffektiver Prozess: Jedes Proton erzeugt 20 bis 30 Neutronen. Pro Puls entstehen auf diese Weise mehr als 1016 Kernteilchen. Dieses Konzept der Spallation ist nicht neu. Doch bislang gibt es auf der Welt nur einige wenige, relativ kleine Anlagen – in Europa die Spallationsquellen ISIS in England und SINQ am Paul-Scherrer-Institut (PSI) in der Schweiz. „SINQ läuft seit Jahren sehr zuverlässig und liefert etwa so viele Neutronen wie ein mittelstarker Forschungsreaktor“, sagt PSI-Forscher Peter Allenspach. Mit den besten Reaktoren der Welt, etwa dem Rekordhalter ILL im französischen Grenoble, können diese älteren Spallationsquellen jedoch nicht mithalten.

Praktisch verlustfrei

Mittlerweile hat sich die Technik deutlich verbessert. Zum einen lassen sich heute dank supraleitender Technik Teilchenbeschleuniger bauen, die sehr viele Protonen gleichzeitig durch den Beschleunigungsring jagen können. Da die supraleitenden Spezialröhren praktisch verlustfrei arbeiten, können sie die Protonen besonders effektiv und stromsparend beschleunigen. Zum anderen haben die Forscher Zielscheiben konstruiert, die nicht mehr aus festen Metallen bestehen, sondern durch die Quecksilber fließt. „Da Quecksilber flüssig ist, lässt es sich umwälzen und gut kühlen“, erläutert Frank Kornegay. „Eine feste Zielscheibe würde sich bei dem Protonen-Hagel, den unser Beschleuniger erzeugt, viel zu stark erhitzen.“ 18 Tonnen Quecksilber drückt eine mächtige Pumpe unablässig durch den Zielscheiben-Tank – pro Sekunde nahezu 500 Kilogramm.

Angespornt von diesen Fortschritten wagten es die US-Forscher in Oak Ridge, erstmals eine Spallationsquelle zu bauen, die den leistungsfähigsten Forschungsreaktoren Paroli bieten sollte. Der Grundstein für die SNS wurde im Dezember 1999 gelegt. Fertig war sie im Mai 2006 – einen Monat früher als geplant, und innerhalb des Budgets von 1,4 Milliarden Dollar (rund 700 Millionen Euro). Mitverantwortlich für den Erfolg war der deutsche Physiker Norbert Holtkamp, der den Beschleuniger der SNS aufbaute. Vor drei Jahren wurde er zudem stellvertretender Direktor des internationalen Fusionsexperiments ITER, das in Südfrankreich entstehen soll (bild der wissenschaft 8/2006, „Wahrhaft historisch“).

Allerdings hat die SNS ihre volle Leistung bislang nicht erreicht, und von den 24 Messplätzen ist erst knapp die Hälfte fertig. Zurzeit sind die Experten noch dabei, die Leistung der Neutronenkanone allmählich hochzufahren. Angefangen haben sie 2006 mit einigen Watt. Im Moment läuft die Maschine mit 880 Kilowatt. Bis Ende 2010 soll sie ihre endgültige Leistung erreichen: 1,4 Megawatt. „Dann ist SNS die stärkste Neutronenquelle der Welt“, sagt SNS-Chef Ian Anderson. „Und wir hoffen, dass sie es für einige Zeit bleiben wird.“ Er hält die Spallation für die Methode der Zukunft, das Reaktorkonzept dagegen für ein Auslaufmodell. Denn seit den 1960er-Jahren hat der Neutronenfluss – die Zahl der Neutronen, die man aus einem Reaktor herausholen kann – praktisch kaum noch zugenommen. Der Grund: Die maximale Leistungsdichte eines Reaktorkerns lässt sich nicht viel weiter hochschrauben, sonst könnte man den Kern nicht mehr sicher kühlen. „Dieses Problem haben wir bei der Spallation nicht“, betont Anderson. „Deshalb sind wir bei den Spitzenwerten etwa 100 Mal besser!“ Diese Spitzenintensität ist extrem hoch, weil die SNS kurze heftige Neutronenblitze erzeugt. Diese Blitze eignen sich vor allem für jene Experimente, bei denen die Forscher Bewegungen und Prozesse im Inneren von Materialien erfassen wollen: das Wandern von Ionen in einer Batterie, die Aktion eines Enzyms bei der Spaltung von Alkohol, das Diffundieren von Wasser-Molekülen in einem Mineral. Dabei fungieren die Neutronenblitze ähnlich wie ein Stroboskop, das die Bewegungen tanzwütiger Diskobesucher in einer Folge von Einzelbildern festhält. Reaktoren dagegen geben ihre Neutronen als kontinuierlichen Fluss ab. „Gewisse Experimente profitieren sehr von diesem konstanten Fluss, etwa wenn man das Innere eines Motors dreidimensional aufnehmen will“, sagt Richard Wagner, Direktor des Instituts Laue-Langevin in Grenoble, wo der leistungsfähigste Neutronenreaktor der Welt steht. „Deshalb würde ich sagen: Reaktoren und Spallationsquellen ergänzen sich.“

Gesichert wie eine Festung

In Tennessee gewährt Betriebsleiter Frank Kornegay einen kurzen Blick ins Zentrum der SNS. Die Mauern sind so dick wie in einem Luftschutzbunker, die Fenster bestehen aus Bleiglas, die Türen erinnern an einen Banktresor. „Wir sind hier im letzten Zugangsbereich vor dem Target“, erklärt Kornegay. „Es ist nur noch zehn Meter von uns entfernt, direkt hinter der dicken Betonmauer da.“ Der Protonenstrahl läuft direkt unter den Füßen des Physikers hindurch. Zehn Meter weiter trifft er auf die Zielscheibe aus flüssigem Quecksilber und erzeugt 60 Mal pro Sekunde den stärksten Neutronenblitz der Welt. Nur: Im Lauf der Zeit wird der Stahlmantel der Zielscheibe durch den Neutroneneinfang radioaktiv – deshalb die dicken Mauern und Türen. Zwar entsteht hier – anders als bei einem Reaktor – kein langlebiger Atommüll. Trotzdem darf man dem Target selbst bei abgeschaltetem Beschleuniger keinesfalls zu nahe kommen. „Deshalb machen wir in diesem radioaktiven Bereich alles per Fernsteuerung“ , erklärt Kornegay: „Glühbirnen auswechseln, Kameras austauschen, Schrauben und Dichtungen lösen.“ Der Physiker zeigt auf den „ Manipulator“ – einen Sitz, in dessen Armlehnen mehrere Sensoren und Spezial-Joysticks eingelassen sind. Die Experten, die ihn beherrschen, können mit dem Roboterarm hinter der Betonmauer ein Streichholz aus einer Schachtel nehmen und anzünden.

Gefragt ist so viel Geschicklichkeit vor allem dann, wenn das Target gewechselt werden muss. Unter dem Hagel der Protonen nämlich wird die Zielscheibe im Laufe einiger Monate mürbe und muss ausgetauscht werden. Kosten: rund eine Million US- Dollar. „ Zuerst wird das alte Target weggerollt“, beschreibt Kornegay. Danach kann der Operator die Zielscheibe mit seinem Joystick abstöpseln, losschrauben und mit einem Kran beiseite stellen. Anschließend rollt er die neue Zielscheibe hinein, befestigt sie und schließt sie an. Dann kann es mit den Experimenten weitergehen.

Zwei Dutzend Strahlröhren

Diese Experimente finden in einer Halle statt, die so groß ist wie ein Fußballfeld. Das Target mitsamt Betonmantel steht genau in der Mitte. Sternförmig davon gehen 24 „Beamlines“ ab. Das sind rechteckige Röhren, in denen die Neutronen, die zuvor durch Flüssigwasserstoff abgebremst wurden, zu den jeweiligen Messplätzen fliegen. Auch die Röhren stecken hinter Stahlbeton, denn Neutronen sind radioaktiv. „Insgesamt gibt es hier Unmengen an Beton und Stahl“, erzählt Kornegay. „Deshalb wiegt diese Halle, obwohl sie nur vier Stockwerke hoch ist, genauso viel wie ein 40-stöckiger Wolkenkratzer!“ Die Beamlines sind bis zu 80 Meter lang. An ihrem Ende treffen die Neutronen auf die Probe, werden von deren Atomen abgelenkt und mit Detektoren aufgefangen. Mit den intensiven Neutronenpulsen der SNS laufen viele Experimente besonders schnell. „Zum Teil kann man hier Messungen in 15 Sekunden erledigen, für die man woanders Stunden braucht“, meint Kornegay.

Seit 2007 konnten Forscher aus aller Welt an der Maschine experimentieren – und ernteten schon erste wissenschaftliche Früchte. So gab es eine Überraschung, als US-Physiker einen neuen, erst im letzten Jahr entdeckten Hochtemperatur-Supraleiter namens Eisenarsenid mit den SNS-Neutronen untersuchten. „Wir entdeckten, dass bei diesem Supraleiter nicht – wie von der Theorie vorausgesagt – bestimmte Wärmeschwingungen die Supraleitung verursachen“, erläutert Oak-Ridge-Forscher Mark Lumsden. „Sondern es muss einen anderen, bislang rätselhaften Mechanismus geben.“

Wissenschaftler der University of Alabama untersuchen mit Neutronen, ob bestimmte neuartige magnetische Schichten als Datenspeicher taugen. Diese Schichten könnten nicht nur wie heute auf der Oberfläche, sondern auch in der dritten Raumdimension mit Daten beschrieben werden und ermöglichen dadurch höhere Speicherdichten. „Das ist noch Grundlagenforschung, aber die Ergebnisse sehen vielversprechend aus“, meint Physiker Gary Mankey. „Wir halten es durchaus für möglich, dass sich mit den Erkenntnissen neue Speichermedien bauen lassen.“

Hormon-Sensoren und Arznei-Taxis

Ein Team des Georgia Tech aus Atlanta nimmt extrem dünne Kunststofffilme unter die Neutronenlupe. Spickt man diese Filme mit Nanoteilchen oder Eiweiß-Molekülen, reagieren sie sehr empfindlich auf Umwelteinflüsse und fungieren damit als Sensoren, um beispielsweise Hormone oder Pflanzenschutzmittel aufzuspüren. Andere Nanokunststoffe bieten sich als winzige Medikamenten-Taxis an, die den Wirkstoff erst dort freisetzen, wo er im Körper eingreifen soll. „SNS ist die perfekte Maschine, um Prozesse, die sich im Nanometerbereich abspielen, zu untersuchen“, sagt Georgia-Tech-Expertin Eugenia Kharlampieva.

Der Physiker George Reiter von der University of Houston schließlich plant, an der SNS neue Elektrolyt-Materialien auf ihre Tauglichkeit für Brennstoffzellen zu untersuchen. Bei diesen Elektrolyten kommt es besonders auf eine möglichst hohe Leitfähigkeit für Protonen an. „Mithilfe von Neutronen können wir genau beobachten, wie schnell sich die Protonen in diesen Materialien bewegen“, sagt Reiter. „Das Experiment, das wir hier in Oak Ridge planen, ist um einen Faktor 100 besser als alle, die es bisher gibt.“

Ein Messplatz für die Europäer

Auch deutsche Wissenschaftler planen, mit den starken Neutronenblitzen aus Tennessee zu arbeiten. Im Bedienstand von „ Beamline 15″, einem schlichten Metallcontainer mit einigen Fenstern, hockt Nikolas Arend, ein junger Physiker des Forschungszentrums Jülich, vor seinem Laptop. „Hier fehlt noch das Mobiliar, selbst die Tische und die Stühle“, sagt er fast entschuldigend. „Wir sind erst dabei, unseren Messplatz in Betrieb zu nehmen.“ Mit dem Laptop testet Arend die einzelnen Komponenten des höchst komplexen, zehn Millionen Euro teuren Instruments auf ihre Funktionstüchtigkeit.

Das „Neutron Spin Echo Spectrometer“ ist die bislang einzige europäische Außenstelle an der SNS – gebaut und finanziert vom Forschungszentrum Jülich. Im Herbst soll das Instrument in Betrieb gehen. „Wir werden damit sehr gut beobachten können, wie sich Molekülketten in einem Polymer bewegen“, erklärt Arend. „Das sind ausgesprochen langsame Bewegungen.“ Als praktische Anwendung kann er sich Untersuchungen von Gummimischungen für Autoreifen vorstellen, etwa um eine möglichst große Haltbarkeit zu erzielen. Eigentlich hätten die Jülicher ihr Instrument lieber in Europa aufgebaut statt in den Südstaaten der USA. Denn auf dem Alten Kontinent gibt es zwar mehrere leistungsfähige Forschungsreaktoren, aber nur zwei relativ kleine Spallationsquellen.

Bereits in den 1990er-Jahren hatte ein Team um den Jülicher Materialforscher Dieter Richter Pläne für eine gewaltige europäische Neutronenkanone geschmiedet, European Spallation Source (ESS) genannt. 2002 waren die Entwürfe fertig. Die Mega- Anlage sollte 1,4 Milliarden Euro kosten und am Forschungszentrum Jülich gebaut werden. Mit fünf Megawatt sollte sie fast viermal so viel leisten wie die SNS. Doch ein Jahr später lehnte die Bundesregierung das Projekt ab und entschied stattdessen, zwei andere Großgeräte in Deutschland zu bauen: den Europäischen Röntgenlaser XFEL (X-Ray Free-Electron Laser) in Hamburg sowie den Schwerionenbeschleuniger FAIR (Facility for Antiproton and Ion Research) in Darmstadt.

„Damals meinte der Wissenschaftsrat, man brauche die ESS nicht, weil man praktisch sämtliche Materialforschung mit Röntgenstrahlen machen könne“, kommentiert Dieter Richter. „ Offenbar wird das in anderen Gegenden der Welt anders gesehen.“ Denn nicht nur die USA haben eine große Spallationsquelle gebaut. Auch Japan nimmt derzeit mit J-PARC (Japan Proton Accelerator Research Complex) nördlich von Tokio eine große, ein Megawatt starke Anlage in Betrieb. Richter: „Beide Geräte sind den europäischen Spallationsquellen weit überlegen.“

Jetzt, nach Jahren der Stagnation, scheint wieder Schwung in das Projekt zu kommen. Seit Ende Mai gibt es mit der südschwedischen Universitätsstadt Lund einen neuen Bewerber für die ESS. Immerhin hat Schweden gemeinsam mit dem benachbarten Dänemark in Aussicht gestellt, mit rund 700 Millionen Euro etwa die Hälfte der Kosten zu tragen. „Ich habe den Eindruck, dass diesmal die Chancen gut stehen“, meint Richter. Ob die Riesenmaschine tatsächlich gebaut wird, ist aber noch völlig offen. „Die Frage ist, ob und wann sich weitere europäische Länder an diesem Projekt beteiligen werden“, sagt Richard Wagner, Direktor am Institut Laue-Langevin ILL in Grenoble. „Ohne die Mitwirkung von Deutschland, Frankreich und Großbritannien wird es nicht gehen.“ Denn in diesen Ländern finden sich sowohl die besten Neutronenquellen als auch die wichtigsten Institute der europäischen Neutronenforschung.

Ausbau schon beschlossen

Bislang hat noch keiner der „großen Drei“ konkret verlauten lassen, in welchem Umfang er bei der ESS einzusteigen gedenkt. Die Bundesregierung hat ihre Beteiligung zwar grundsätzlich zugesagt, aber noch nicht über die Höhe ihres Beitrags entschieden. Fertig wäre die ESS wohl kaum vor 2020. Dann dürfte auch das Ende des bisherigen Paradepferds der europäischen Neutronenforschung absehbar sein, des 1971 in Betrieb gegangenen Hochflussreaktors am ILL. „Noch ist Europa in der Neutronenforschung führend“, meint Dieter Richter. „Aber wenn wir diese Führung behalten wollen, brauchen wir eine neue, moderne Quelle.“ Diese neue Quelle dürfte kein Forschungsreaktor mehr sein.

„Ich denke, man wird keine neuen Reaktoren mehr bauen“, ist auch Richard Wagner, Chef des ILL-Reaktors, überzeugt. „ Langfristig sind Spallationsquellen schlicht und einfach effizienter.“ Das beweist die SNS, die Teilchenkanone von Tennessee, sehr eindrucksvoll: Die Technik funktioniert, der Betrieb läuft wie geplant, und die nächste Ausbaustufe gilt bereits als beschlossen. In einigen Jahren soll die SNS eine zweite Zielscheibe erhalten und damit ihre Leistung noch verdoppeln. Und vom Prinzip her gibt es sogar noch Luft nach oben. Manche Forscher können sich vorstellen, eines Tages Spallationsquellen zu bauen, die mit Leistungen von bis zu 15 Megawatt die SNS um das Zehnfache übertreffen. ■

FRANK GROTELÜSCHEN, Wissenschaftsjournalist in Hamburg, staunte: Der SNS-Bau lag bei Termin und Kosten im Plan – eine Seltenheit.

von Frank Grotelüschen

KOMPAKT

· In einem neuen Beschleuniger in Tennessee entstehen extrem starke Neutronenblitze, indem Wasserstoff-Kerne auf flüssiges Quecksilber prallen.

· Die Technik ist heutigen Forschungsreaktoren überlegen, und sie kommt ohne Radioaktivität aus.

Wann kommt die „ESS“?

Ende Mai haben sich die EU-Forschungsminister für Lund als Standort der Europäischen Spallationsquelle ESS ausgesprochen. Eine gute Wahl?

Lund erfüllt alle Kriterien. Es bietet eine sehr gute Infrastruktur und ein hervorragendes Umfeld an Industrieunternehmen und Universitäten. Auch Bilbao in Spanien und das ungarische Debrecen hatten sich beworben und meiner Meinung nach ebenfalls die Kriterien erfüllt. Den Ausschlag für Lund dürfte gegeben haben, dass dort das Projekt politisch wohl die größten Chancen hat, realisiert zu werden. Deshalb bin ich mit der Wahl sehr zufrieden.

Was muss geschehen, damit die ESS tatsächlich gebaut wird?

Eine spannende Frage. Das Problem: In Europa gibt es keinen festen Rahmen für den Bau einer internationalen Gemeinschaftsanlage. Die EU finanziert Geräte dieser Größenordnung nicht. Deshalb muss man sich bei jedem Großgerät auf neue Verhandlungen mit wechselnden Partnern und Interessen einlassen. Das ist ein langer, komplizierter Prozess – meist viel mühsamer als bei Großgeräten in Japan oder den USA.

Welche Länder sind bisher mit an Bord?

Schweden hat andere Ostsee-Anrainer interessieren können, etwa Dänemark. Spanien will ebenfalls mitmachen. Jetzt hängt vieles davon ab, inwieweit die großen Länder wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien die ESS unterstützen. Ich denke, wir brauchen bis Ende 2009 eine Entscheidung, wie es weitergeht. Wenn sie sich verzögert, könnte es noch 15 Jahre dauern, bis die ESS fertig ist. Deshalb mein Vorschlag: Sobald wir 60 Prozent des Geldes zusammen haben, sollten wir einfach mit dem Bau beginnen. Dann nämlich sehen die anderen Staaten, dass es mit der ESS vorangeht. Und dann werden sie sich auch beteiligen.

GUT ZU WISSEN: NEUTRONEN-MIKROSKOP

Neutronen sind winzige Kernteilchen. Gemeinsam mit den Protonen bauen sie die Atomkerne auf. Entdeckt wurden sie 1932. Bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg bemerkten Forscher an den ersten Kernreaktoren der Welt, dass sich mit Neutronen ein neuartiges Mikroskop konstruieren lässt: Da die Winzlinge elektrisch neutral sind, können sie sehr tief in ein Material eindringen. Dort werden sie an den Atomen gestreut, oder sie verlieren einen Teil ihrer Energie und werden langsamer. Spezielle Detektoren fangen die gestreuten Neutronen auf. Aus den Messdaten kann man schließen, wie die Probe im Detail aufgebaut ist und welche Prozesse sich in ihr abspielen. Auf der Grundlage dieses Wissens lassen sich Materialeigen-schaften optimieren und neue Werk- stoffe kreieren.

Forscher setzen vor allem dann auf Neutronen, wenn sie zum Beispiel mit Röntgenstrahlung nicht weiterkommen. In Metalle etwa dringt diese kaum ein – sie blitzt förmlich an der Oberfläche ab. Neutronen hingegen können selbst einen kompletten Motorblock durchleuchten, während die Maschine auf Hochtouren läuft. Außerdem besitzen die Teilchen Nord- und Südpol und eignen sich deshalb zum Studium magnetischer Materialien. Schließlich kann man mit ihnen sehr gut Wasserstoff aufspüren – etwa Protonen, die in einer Brennstoffzelle oder einem Wasserstoffspeicher hin- und herwandern.

MEHR ZUM THEMA

Internet

Homepage der Spallation Neutron Source (SNS) in Tennessee: neutrons.ornl.gov/aboutsns/aboutsns.shtml

Physiknobelpreis für Neutronenstreuung 1994: nobelprize.org/nobel_prizes/physics/ laureates/1994/press.html

Das europäische ESS-Projekt: ess-scandinavia.eu

Forschung mit Neutronen in Deutschland: www.weltderphysik.de/_media/ Forschung-mit-Neutronen_Web.pdf

Das Jülicher Zentrum für Neutronenforschung: www.jcns.info

Komitee „Forschung mit Neutronen“: www.physik.uni-kiel.de/kfn

Der Garchinger Forschungsreaktor FRM II: www.frm2.tum.de/technik/index.html

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