„In Grindelwald spielen sich auf engstem Raum viele Prozesse wie im Lehrbuch ab“, sagt auch der Geologe Hans Rudolf Keusen, der das Gebiet seit fast zehn Jahren intensiv beobachtet. Begonnen hat seine Tätigkeit in Grindelwald im Frühjahr 2000, nachdem eine große Gerölllawine in die Gletscherschlucht stürzte. Die Ursache fand sich in 2.700 Metern Höhe: Dort war der Permafrostboden an einer Bergflanke angetaut, in einem Bereich, in dem das Gestein einen hohen Eisanteil enthielt. Das Gestein wurde brüchig und stürzte schließlich donnernd zu Tale ein Vorgang, der sich seitdem regelmäßig während des Sommers wiederholt.
Doch damit nicht genug: Neben dem aufgeweichten Permafrost wird auch das Verschwinden der Gletscher, insbesondere des Unteren Grindelwaldgletschers, für den kleinen Ort zunehmend zum Problem. Noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts füllte das Eis des Gletschers einen großen Teil der Schlucht aus. Mittlerweile hat er jedoch rund 200 Meter an Höhe verloren, und jedes Jahr kommen mehrere Meter dazu.
Das bleibt nicht folgenlos: Die steilen Berghänge verlieren den Halt, den ihnen der Gletscher durch den Druck der Eismassen auf das Gestein jahrhundertelang geboten hat. Eine Konsequenz davon zeigte sich im Frühjahr 2005: Direkt unterhalb der bei Wanderern beliebten Stieregg-Hütte, die auf vom Gletscher zusammengeschobenen Moränenschutt gebaut war, bildeten sich Risse im Hang und kurze Zeit später donnerten mehr als 600.000 Kubikmeter Gestein in die Schlucht. Die Hütte war verloren.
Noch schlimmer erwischte es etwa ein Jahr später den Hang auf der anderen Seite der Gletscherschlucht, an der Ostflanke des Eigers: Obwohl er aus massivem Fels bestand, begann sich ein 200 Meter hohes und 250 Meter breites Stück zu lösen und langsam zur Seite zu kippen zunächst nur um wenige Zentimeter pro Tag, schließlich aber einen ganzen Meter täglich. Im Juli 2006 brach schließlich etwa die Hälfte ab und stürzte in die Schlucht. Die andere Hälfte steht zwar noch, sie versinkt aber langsam und stetig im Eis. Mittlerweile ist sie bereits 100 Meter eingesunken, und zum Berg hin klafft eine Lücke von 40 Metern.
Auch hier war das fehlende Gletschereis das ausschlaggebende Moment, konnte Hans Rudolf Keusen nachweisen: Das Gestein habe sich ohne den Druck durch den Gletscher entspannt, so dass sich winzige Risse bildeten. Diese Risse füllten sich mit Wasser, das nun von innen einen beträchtlichen Druck auf das Gestein ausübte. Verschärft wurde die Situation im Jahr 2005, als es mehrmals sturzflutartig regnete. Einer dieser Regengüsse brachte dann das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen: die Flanke brach und leitete damit den Bergsturz ein.
Die riesigen Schutt- und Geröllmengen, die mittlerweile auf den Resten des Grindelwaldgletschers liegen, bringen zu allem Überfluss noch ein weiteres Problem mit sich: Sie versperren die enge Schlucht, so dass sich oberhalb dieses natürlichen Wehrs durch die Schneeschmelze im Frühjahr Wasser ansammelt und ein See bildet so lange, bis sich die Wassermassen einen Weg unter das Eis gebahnt haben. Dann dauert es nur Stunden, bis der gesamte See leergelaufen ist.
Zum ersten Mal trat dieses Phänomen im Jahr 2007 in Grindelwald auf, damals noch als harmloses Anschwellen des Dorfbaches. Im darauffolgenden Jahr war die Situation bereits nicht mehr ganz so harmlos: 800.000 Kubikmeter Wasser stürzten in kurzer Zeit ins Tal und richteten unter anderem Schäden am Grindelwalder Golfplatz an. In Zukunft, hat Keusen laut „bild der wissenschaft“ berechnet, könnte der See durch das ständige Zurückweichen des Gletschers und die größere Menge Schmelzwasser auf zehn bis zwölf Millionen Kubikmeter anwachsen und damit den gesamten Ort sowie einige weitere Dörfer ernsthaft bedrohen.
Bei alldem ist Grindelwald kein ein Einzelfall. Überall in den Alpen steigen die Temperaturen schneller als im Umland, die Schneefallgrenze, in der Schweiz bereits um 300 Meter nach oben gewandert, wird in den kommenden Jahrzehnten weiter zurückweichen. Überall schrumpfen die Gletscher, pro Jahr um zwei bis drei Prozent. Der Permafrost, der heute etwa fünf Prozent der Schweiz ausmacht, wird über kurz oder lang verschwinden. Die Folgen werden mehr Bergstürze, mehr Muren und mehr Flutwellen sein und den Freizeitwanderer genauso gefährden wie ganze Bergdörfer oder die aufwendig gebauten Bergstationen.