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Das neue Bild der Welt

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Das neue Bild der Welt
Bei Stephen Hawkings jüngsten Forschungen geht es buchstäblich um Gott und die Welt – vor allem aber um die Naturgesetze sowie die Entstehung und Erklärung des Alls.

„Warum gibt es etwas und nicht einfach nichts? Warum existieren wir? Warum dieses besondere System von Gesetzen und nicht irgendein anderes?“ Stephen Hawking, der berühmteste Wissenschaftler der Gegenwart, hat die ganz großen Fragen noch nie gescheut. Aber er gehört zu den wenigen, die dazu beitragen, den Antworten näher zu kommen. Und er setzt sich – angesichts seines tragischen Schicksals eine unermessliche Leistung – mit großem Engagement dafür ein, diese Fragen, Teilantworten und die fulminanten Erkenntnisse der modernen Physik und Kosmologie einem großen Publikum mit Büchern und Filmen zu vermitteln. So gerade wieder: Im September erschien zeitgleich auf Englisch und Deutsch sowohl ein neues Buch von ihm, „Der Große Entwurf“ („The Grand Design“), als auch die insgesamt 4,5 Stunden lange DVD „ Geheimnisse des Universums“, die im britischen Fernsehen zuvor als TV-Sendung zu sehen war.

Im Buch geht es vor allem um die Naturgesetze, um Materie, Energie, Raum, Zeit und die Entstehung sowie Entwicklung des Universums – und auch um philosophische Fragen. Die DVD behandelt teilweise dieselben Themen, freilich bombastischer und weniger tiefgründig, setzt aber auch beliebte Themen in Szene wie außerirdische Intelligenzen, Schwarze Löcher, Zeitmaschinen und die Lebensmöglichkeiten in der fernen Zukunft.

Einst tot gesagt – jetzt emeritiert

Seit seinem Weltbestseller „Eine kurze Geschichte der Zeit“ von 1988 ist Hawking einem Millionenpublikum bekannt. Er wurde zum Medienstar, obwohl sich seine Forschungen um die abstraktesten, entlegensten und kompliziertesten Themen drehten – Schwarze Löcher, Urknall, Zeitreisen, Quantenphysik und die Suche nach einer „Weltformel“, die alle Teilchen und Kräfte erklärt. Außerdem passt Stephen Hawking perfekt ins Klischee des im regungslosen Körper gefangenen genialen Geistes. Denn aufgrund seiner schrecklichen Erkrankung an Amyotropher Lateralsklerose (ALS), bei der fast alle muskulären Nervenzellen absterben, ist er seit Jahrzehnten gelähmt an den Rollstuhl gefesselt. Bei der ALS-Diagnose kurz nach seinem 21. Geburtstag prophezeiten ihm die Ärzte eine Lebenserwartung von höchstens ein paar Jahren. Trotzdem konnte der 1942 in Oxford geborene Stephen Hawking sein Studium sowie danach die Promotion abschließen und Spitzenforschung leisten. 1979 wurde er sogar auf den renommierten Lucasischen Lehrstuhl der University of Cambridge berufen, den vor 300 Jahren Isaac Newton inne hatte.

Im November 2009 wurde Hawking emeritiert. Er war 30 Jahre im Amt, was bei seinem Antritt niemand gedacht hatte. Sein Nachfolger ist Michael Green, der zuvor schon als Physik-Professor in Cambridge wirkte. Doch er wird schon 2014 das Pensionsalter erreichen und gilt als Übergangslösung: Hinter den Kulissen gab es Streit und kaum Bewerber. Greens Verdienste sind allerdings unumstritten: Er gehört zu den Mitbegründern der Stringtheorie, die – auch von Hawking – als beste oder sogar einzige Kandidatin für die „Weltformel“ angesehen wird. Von Ruhestand kann bei Hawking freilich keine Rede sein: Er hält Vorträge, wenn sein Gesundheitszustand es erlaubt. Und er nahm 2010 eine Gastprofessur am Perimeter-Institut für Theoretische Physik in Kanada an. Außerdem forscht er mit seinen Kollegen weiter – erst im September erschien ein Beitrag zu diffizilen Fragen der Kosmologie. Im Gegensatz zu Hawkings aktuellen wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist „Der Große Entwurf“ für das breite Publikum verständlich. Dies und auch Hawkings Name garantieren einen Bestseller. Aufgrund der vielen Vorbestellungen war das Buch schon eine Woche vor dem Erscheinungstermin auf Platz 1 im Naturwissenschaft-Ranking des Internet-Buchhändlers Amazon und blieb es auch danach – in Deutschland wie in England und den USA. Ein großer Wurf also. Doch als Entwurf ist das Buch eher klein. Denn es hat nur 190 Seiten einschließlich Glossar, Register und den großformatigen, aber mitunter viel zu knapp erklärten Illustrationen. In acht kurzen Kapiteln wird die Entwicklung der modernen Physik und Kosmologie zusammengefasst, wobei die wichtigen Entdeckungen, Hypothesen und Probleme der letzten zehn Jahre erstaunlich kurz oder gar nicht dargestellt werden. Schwerpunkt sind die grundlegenden bekannten Naturgesetze und die noch gesuchten Erweiterungen.

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Ein Vier-Jahres-Werk

Wie schon sein voriges Buch, „Die kürzeste Geschichte der Zeit“ von 2005, hat Hawking auch sein neues Werk zusammen mit dem Physiker Leonard Mlodinow vom California Institute of Technology geschrieben (siehe Kurzporträt auf Seite 50). Mlodinow erinnert sich: „Eines Tages rief mich mein Agent an und fragte, ob ich mit Stephen Hawking zusammenarbeiten wolle. Ich sagte zu! Später erfuhr ich, dass er mein erstes Buch ,Euclid’s Window‘ gelesen hatte und es mochte.“ Darin hatte Mlodinow die Geschichte der Geometrie von den Parallelen bis zum Hyperraum geschildert. „Als dann die Idee aufkam, eine einfachere Version von ,Eine kurze Geschichte der Zeit‘ herauszubringen, meinte Stephen, er würde dies nur machen, wenn er es mit mir schreiben könnte, denn ich wäre der Einzige, dessen Stil ihm gefalle und der auch die Physik verstehe. Nachdem wir dieses Buch zusammen geschrieben hatten, kam mir die Idee für das neue. Als ich in sein Büro trat und fragte, ob er es mit mir machen wolle, sagte er: ,Sicher!‘“

Mlodinow war eine große Hilfe für Hawking, für den aufgrund seiner schweren Behinderung schon wenige Seiten eine große Herausforderung darstellen: Mit seinem Computer braucht er für jeden längeren Satz mehrere Minuten. Trotzdem war Mlodinow nicht einfach nur Ghostwriter. „Dass ich die meiste Arbeit hatte, würde ich nicht sagen – oder überhaupt zu quantifizieren versuchen, wie viel jeder leistete“, meint er. „Es ging hin und her, jeder schrieb und änderte den Text des anderen. Es ist nicht möglich zu sagen, von wem welche Teile stammen.“ Ein echtes Gemeinschaftswerk also, auch wenn sich bestimmte physikalische und philosophische Interpretationen klar Hawking zuordnen lassen. „Der gesamte Prozess dauerte vier Jahre“, re- sümiert Mlodinow. „ Wir kommunizierten sowohl per E-Mail als auch persönlich. Stephen besuchte das Caltech jedes Jahr für vier bis sechs Wochen, und wir arbeiteten einen guten Teil dieser Zeit zusammen. Ich war auch mehrfach im Jahr länger in Cambridge.“ Dass Hawkings Name verkaufsträchtig auf dem Cover prangt, akzeptiert Mlodinow neidlos. „Damit kann ich gut leben – mein Name ist so groß geschrieben wie auf meinen anderen Büchern, und so ist es bei seinem auch.“

Die Philosophie ist tot

„Die Hauptbotschaft des Buchs ist“, sagt Mlodinow, „dass die Wissenschaft sowohl den Ursprung des Universums erklären kann als auch, warum seine Naturgesetze so sind, wie sie sind.“ Das klingt nicht gerade bescheiden – und es greift in das Refugium ein, das manche Theologen und Philosophen als ihr ureigenes betrachten. Entsprechend säuerlich reagieren diese, wenn sie lesen, was Hawking und Mlodinow gleich auf der ersten Seite des Haupttextes schreiben: „… die Philosophie ist tot. Sie hat mit den neueren Entwicklungen in der Naturwissenschaft, vor allem in der Physik, nicht Schritt gehalten.“ Das ist keine Feststellung, sondern Provokation. Zwar verstehen viele Philosophen tatsächlich wenig von Physik, doch manche haben sie gut verfolgt und scharfsinnig reflektiert. Einige Philosophen haben Hawkings Aussagen heftig kritisiert, was ihn ärgerte. Teilweise war das unfair, denn populärwissenschaftliche Essays sind nun mal keine subtilen fachphilosophischen Abhandlungen.

Jetzt liefert Hawking, obwohl er die Philosophie als antiquiertes Unterfangen abzuschmettern versucht, sogar selbst einen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Beitrag. Ausgangspunkt ist das Problem der Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen und der Bedeutung von Naturgesetzen. Schon 2001 antwortete Hawking auf die Frage des bdw-Astronomieredakteurs, ob eine Weltformel und die daraus ableitbaren Naturgesetze lediglich menschliche Schöpfungen sind – oder aber wie Platons Ideenwelt unabhängig von uns existieren: „Ich bin Anhänger einer positivistischen Philosophie: Physikalische Theorien sind nur mathematische Modelle, die wir konstruieren. Wir können nicht fragen, was die Wirklichkeit ist, denn wir haben keine modellunabhängigen Überprüfungen von dem, was real ist. Ich stimme nicht mit Platon überein.“

Nun hat Hawking diesen Gedanken weiterentwickelt und seine erkenntnistheoretische Position präzisiert. Er nennt sie den modellabhängigen Realismus und definiert diesen als „die Vorstellung, dass eine physikalische Theorie oder ein Weltbild ein (meist mathematisches) Modell ist und einen Satz Regeln besitzt, die die Elemente des Modells mit den Beobachtungen verbinden. Das liefert uns ein Gerüst zur Interpretation der modernen Wissenschaft.“ Modelle sind nicht auf die Physik beschränkt. „Modellabhängiger Realismus gilt nicht nur für wissenschaftliche Modelle, sondern auch für die bewussten und unbewussten mentalen Modelle, die wir alle schaffen, um unsere alltägliche Welt zu deuten und zu verstehen“, schreiben Hawking und Mlodinow. „Unsere Wahrnehmung – und damit die Beobachtungen, auf die sich unsere Theorien stützen – ist nicht unmittelbar, sondern wird durch eine Art Linse geprägt, die Deutungsstrukturen unseres Gehirns.“ Wir interpretieren also Sinnesreize und fertigen Modelle der Welt an, mit denen sich Ereignisse erklären und voraussagen lassen. Allerdings lässt sich eine Situation sehr verschieden modellieren. Das hängt auch von den Annahmen und der jeweiligen Perspektive ab.

Blick aus dem Aquarium

Hawking und Mlodinow verdeutlichen dies am Beispiel eines Kugelaquariums. Die Fische darin haben ein verzerrtes Bild ihrer Umgebung (was kurioserweise ein Grund war, warum der Stadtrat von Monza in Italien eine solche Tierhaltung verboten hat). „Doch woher wissen wir, dass wir das wahre, unverzerrte Bild der Wirklichkeit sehen?“, fragen Hawking und Mlodinow rhetorisch. Tatsächlich ist die Perspektive der Goldfische ja nicht weniger real. Und aus ihr könnten sich ebenfalls Naturgesetze formulieren lassen, die beschreiben, wie sich Objekte außerhalb des Aquariums verhalten. Denkbar sind auch Voraussagen über deren Bewegung auf gekrümmten Bahnen. „Ihre Gesetze wären komplizierter als die Gesetze in unserem Bezugssystem, aber Einfachheit ist eine Frage des Geschmacks. Würden die Goldfische eine solche Theorie formulieren, so müssten wir ihre Auffassung als ebenso gültiges Bild der Wirklichkeit anerkennen.“

Die Wissenschaftsgeschichte ist reich an Konflikten zwischen sich gegenseitig ausschließenden Modellen. Ptolemäus zum Beispiel beschrieb das Sonnensystem mit der Erde im Zentrum, Nikolaus Kopernikus verstand dagegen alle Planetenbahnen als Kreise um die Sonne, Johannes Kepler ersetzte die Kreise durch Ellipsen, und Isaac Newton machte die Schwerkraft dafür verantwortlich, die Albert Einstein dann nicht als Kraft, sondern als Krümmung der Raumzeit auffasste. Man kann sich auch ganz andere Szenarien vorstellen. Denn ein Modell ist zwar mehr oder weniger praktikabel als ein anderes, nicht aber realer. Mehr noch: „Es gibt keinen abbild- oder theorieunabhängigen Realitätsbegriff“, betont Hawking. Das erinnert an eine Aussage von Albert Einstein zu Werner Heisenberg: „Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann.“

Daraus folgt aber noch lange keine bloße Beliebigkeit nach dem Motto „anything goes“. Denn verschiedene Modelle sind keineswegs gleich gut, effektiv und brauchbar. Hawking nennt vier Qualitätskriterien:

· Eleganz: Ein Modell sollte so einfach wie möglich sein, aber nicht einfacher.

· Sparsamkeit: Ein Modell sollte nur wenige willkürliche Elemente enthalten, die sich gezielt an die Beobachtungen anpassen lassen.

· Erklärungskraft: Ein Modell sollte mit den Daten und Beobachtungen übereinstimmen und sie verständlich machen.

· Vorhersagefähigkeit: Ein Modell sollte künftige Beobachtungen detailliert voraussagen können.

Diese vier Kriterien sind nicht unabhängig voneinander. So erlauben besonders elegante und sparsame Modelle oft auch die klarsten – und am leichtesten zu überprüfenden – Vorhersagen. Und nur so kann ein Modell getestet und widerlegt werden.

Der grosse Gegenentwurf

Wie in seinen früheren Büchern streift Hawking auch im „Großen Entwurf“ die Frage nach Gott. Das überrascht nicht, insofern ein Entwurf streng begrifflich ja einen Entwerfer oder Designer voraussetzt. Ist das Universum also nach einem wahrhaft kosmischen Plan entstanden, trägt es Indizien des Designs in sich, und erlaubt es womöglich Rückschlüsse auf einen Schöpfer? Diese Fragen sind uralt und gipfelten in den – allesamt gescheiterten – Versuchen eines teleologischen Gottesbeweises. Auch der Urknall wurde dafür instrumentalisiert, genau wie die erstaunlichen „Feinabstimmungen“ der Naturkonstanten: Wären deren Werte nur geringfügig anders, gäbe es keine Sterne, keine komplexen Moleküle und somit auch keine Planeten, Lebewesen und Menschen (bild der wissenschaft 8/2006, „Mysteriöses Universum“). Hawking weist einen solchen Gottesbeweis als Irrtum und Projektion zurück: Weder implizierten die Feinabstimmungen einen kosmischen Bauplan und einen jenseitigen Architekten noch erfordere die Entstehung und Entwicklung der Welt einen Schöpfer. Nur die „Unkenntnis der Naturgesetze veranlasste die Menschen früherer Zeiten, Götter zu erfinden, die in jeden Aspekt des menschlichen Lebens hineinregierten“.

Im Mittelalter herrschte die Auffassung, „dass das Universum Gottes Puppenstube und die Religion ein weit lohnenderes Studienobjekt sei als die Naturerscheinungen“, schreiben Hawking und Mlodinow. Religion füllte nicht mehr bloß Erklärungslücken, sondern geriet nach und nach in Konkurrenz zu anderen Erklärungsformen. Insofern war der Streit mit den sich allmählich entwickelnden Naturwissenschaften unausweichlich, außerdem stellten sich Rechtfertigungs- und Machtfragen. Beispielsweise trug der Pariser Bischof Étienne Tempier 1277 auf Weisung von Papst Johannes XXI. eine Liste mit 219 Ketzereien zusammen. Dazu gehörte auch die Ansicht, dass die Natur Gesetzen folgt, denn das sei nicht mit Gottes Allmacht vereinbar. „Interessanterweise wurde Papst Johannes einige Monate später von den Auswirkungen des Gravitationsgesetzes getötet, als ihm das Dach seines Palastes auf den Kopf fiel“, kommentieren Hawking und Mlodinow lakonisch.

KEIN GÖTTLICHER FEINABSTIMMER

Die Feinabstimmungen als eine Art Gottesindiz oder „ Intelligent Design“ zu interpretieren, ist ein alter und weit verbreiteter Gedanke. Doch es ist möglich, betonen Hawking und Mlodinow, „die Feinabstimmung der physikalischen Gesetze zu erklären, ohne einen gütigen Schöpfer bemühen zu müssen, der das Universum zu unserem Nutzen erschuf“. Dazu reicht die Annahme eines Multiversums, was die meisten kosmologischen Szenarien ohnehin nahe legen: Demnach gibt es nicht ein einziges Universum, sondern viele, in denen die Naturgesetze und -konstanten ganz anders beschaffen sein können als in unserem.

„Wir scheinen an einem entscheidenden Punkt der Wissenschaftsgeschichte zu stehen, an dem wir unsere Ziele und das, was eine physikalische Theorie akzeptierbar macht, neu definieren müssen“, glauben Hawking und Mlodinow. „Offenbar werden die fundamentalen Zahlen und sogar die Form der in unserem Kosmos nachweisbaren Naturgesetze nicht von der Logik oder von physikalischen Prinzipien verlangt. Die Parameter können viele Werte und die Gesetze beliebige Formen annehmen, die zu einer selbstkonsistenten mathematischen Theorie führen, und sie besitzen tatsächlich verschiedene Werte und verschiedene Formen in verschiedenen Universen. Das mag unbefriedigend für unser menschliches Verlangen sein, etwas Besonderes zu sein oder alle Gesetze der Physik in einem säuberlich geschnürten Paket serviert zu bekommen, aber so hält die Physik es nun einmal.“

Auch die Frage nach dem Ursprung des Universums – oder Multiversums – wollen Hawking und Mlodinow nicht länger dem Alleinerklärungsanspruch der Gläubigen überlassen. Ein Rückgriff auf einen Schöpfer verschiebe zudem die Probleme nur. Es sei jedoch möglich, „diese Fragen ausschließlich in den Grenzen der Naturwissenschaft und ohne Rekurs auf göttliche Wesen zu beantworten“. Hawkings eigenes quantenkosmologisches Modell ist ein Beispiel dafür. Es eliminiert die Erklärungslücke der Urknall-Singularität, die die Relativitätstheorie nicht zu schließen vermag, und die manche Theologen mit Gott zu füllen versuchen – Papst Pius XII. erwog hierfür sogar einen neuen Gottesbeweis.

Kein Gott beim Urknall

„Die Erkenntnis, dass die Zeit sich wie Raum verhält, liefert eine neue Alternative“, betont Hawking. „Sie entkräftet den uralten Einwand gegen die Auffassung, das Universum habe einen Anfang, bedeutet aber auch, dass der Anfang des Universums von den Gesetzen der Wissenschaft bestimmt wurde und nicht von irgendeinem Gott angestoßen werden musste.“ Mit anderen Worten: Der schon von Aristoteles postulierte „erste Beweger“, der Ausgangspunkt des späteren sogenannten kosmologischen Gottesbeweises, ist Hawking zufolge eine überflüssige und sogar unhaltbare Annahme. „Spontane Erzeugung ist der Grund, warum etwas ist und nicht einfach nichts, warum es das Universum gibt, warum es uns gibt. Es ist nicht nötig, Gott als den ersten Beweger zu bemühen, der das Licht entzündet und das Universum in Gang gesetzt hat.“ Und das gilt auch für das Multiversum – für die Vielzahl der Universen, die gleichsam aus dem Nichts entsprangen. „Ihre Schöpfung ist nicht auf die Intervention eines übernatürlichen Wesens oder Gottes angewiesen. Vielmehr ist diese Vielfalt von Universen eine natürliche Folge der physikalischen Gesetze“. Das behaupten Hawking und Mlodinow jedoch nicht einfach, sondern verstehen es als „eine naturwissenschaftliche Vorhersage“.

Freilich ist Gott im Verständnis der meisten Gläubigen nicht auf einen „Designer“ reduzierbar, der die Naturgesetze erlässt, die Konstanten einstellt oder den Urknall zündet. Er ist nicht nur Erschaffer der Welt, sondern er erhält sie auch, diktiert Wertordnungen, erhört Gebete und greift in den Weltlauf ein. Doch ein solcher Eingriff ist nach Hawkings Verständnis der Naturgesetze unmöglich, und für die anderen Glaubenslehren sieht er weder Anhaltspunkte noch überhaupt eine Notwendigkeit. Er ist überzeugt: Die Wissenschaft braucht Gott zur Erklärung der Welt nicht, sondern schickt sich umgekehrt sogar an, Gott zu erklären – genauer: den Glauben an ihn (bild der wissenschaft 1/2010, „ Warum Menschen glauben“).

Sicherlich können Hawking und Mlodinow die Existenz Gottes nicht ausschließen. Das ist aus rein erkenntnislogischen Gründen unmöglich, denn eine transzendente Nichtexistenz lässt sich prinzipiell nicht beweisen. Wer also das Dasein und Wirken Gottes behauptet, muss Indizien dafür angeben. Wenn sich die Entstehung der Welt aber aus sich selbst heraus erklären lässt, dann ist die Annahme eines Schöpfers schlicht unnötig – lautet Hawkings Argument.

Rückschlag bei der Weltformel

Freilich bleibt die Frage, woher denn die Naturgesetze kommen und warum sie so sind, wie sie sind. Darauf kann weder Hawking noch sonst ein Wissenschaftler eine gesicherte Antwort geben. Hawking setzt auf die Stringtheorie beziehungsweise die verschiedenen Versionen davon, die alle Bestandteile einer noch umfassenderen Theorie zu sein scheinen, der M-Theorie. „Die M- Theorie ist die vereinheitlichte Theorie, die Einstein zu finden hoffte“, schreiben Hawking und Mlodinow am Ende ihres Buchs. „ Wenn die Theorie durch Beobachtung bestätigt wird, ist sie der erfolgreiche Abschluss einer Suche, die vor mehr als 3000 Jahren begonnen hat. Dann haben wir den Großen Entwurf gefunden.“

Doch so weit ist es noch nicht. Es gab sogar Rückschläge bei dieser Suche. Denn selbst wenn sich die verschiedenen Stringtheorien wie Landkarten von derselben Welt überlappen und Teil einer umfassenderen Theorie sind, ist deren Einheitlichkeit und Eindeutigkeit nicht erwiesen – von ihrer empirischen Bestätigung ganz zu schweigen. „Vielleicht ist ja die traditionelle Erwartung der Physiker, dass es eine einzige Theorie der Natur gebe, unerfüllbar“, überlegen Stephen Hawking und Leonard Mlodinow. „Möglicherweise gibt es diese eine einzige Formulierung nicht, und wir müssen zur Beschreibung des Universums verschiedene Theorien auf unterschiedliche Situationen anwenden. Jede Theorie hat vielleicht ihre eigene Version der Wirklichkeit, doch nach dem modellabhängigen Realismus ist das akzeptabel, solange die Theorien in ihren Voraussagen immer dann übereinstimmen, wenn sie sich überschneiden, das heißt, wenn sie beide angewendet werden können.“

Müssen Physiker umdenken?

Damit schränkt Hawking seine vor drei Jahrzehnten in seiner Antrittsvorlesung an der Cambridge University geäußerte Zuversicht stark ein, dass eine „Weltformel“ in greifbarer Nähe sei und daher vielleicht sogar das Ende der Theoretischen Physik bevorstehe. „Die ursprüngliche Hoffnung der Physiker, eine einzige Theorie zu entwickeln, die die scheinbaren Gesetze unseres Universums als die einzige mögliche Konsequenz einiger einfacher Annahmen erklärt, muss vielleicht aufgegeben werden“, räumt er jetzt ein. Trotzdem ist die M-Theorie „der einzige Kandidat für eine vollständige Theorie des Universums. Wenn sie endlich ist – und das gilt es noch zu beweisen –, dann ist sie das Modell eines Universums, das sich selbst erschafft.“

Doch das Universum kam sicher nicht aus dem absoluten Nichts. „ Mit ‚Nichts‘ meinen wir den Vakuumzustand in der Quantenfeldtheorie“, erläutert Mlodinow. Und das wirft die Frage auf, woher denn dieses Quantenvakuum stammt. Der M-Theorie zufolge kommt es aus einem grundlegenderen Vakuum, aus dem quasi fortwährend neue Universen wie Gasblasen im siedenden Wasser hervorblubbern – jedes mit seinem eigenen Urknall und mit seinen Naturgesetzen und -konstanten. Dann wäre es gar nicht so erstaunlich, dass aus dieser Fülle von Möglichkeiten, die vielleicht alle realisiert werden, auch ein lebensfreundliches Universum entstanden ist, einschließlich der Menschen – und einem unter ihnen, der das alles in einem großen Entwurf skizziert. ■

von Rüdiger Vaas

„Sehr optimistisch“

Sie gehören zu den Ersten, die das neue Buch von Stephen Hawking lesen durften, Herr Dr. Pössel. Was ist Ihr Eindruck?

Zwiespältig. Es bietet einen gut lesbaren Rundgang durch Kosmologie und Quantenphysik. Aber die Aussage, auf die Hawking hinarbeitet, mit der M-Theorie hätten wir bereits die lang gesuchte vereinheitlichte Theorie gefunden, ist doch sehr optimistisch. Man kann die offenen Fragen in einem populärwissenschaftlichen Buch nicht im Detail vorstellen, aber man sollte nicht den Eindruck erwecken, alles sei schon geklärt.

Für die deutsche Ausgabe wirkten Sie als Fachlektor. Worin bestand Ihre Aufgabe?

Hauptsächlich darin, sicherzustellen, dass die Übersetzung alle physikalischen Nuancen des Originals richtig wiedergibt.

Schon früher haben Sie Verlage bei Hawkings Büchern unterstützt. Wie hat sich sein Schreiben und Denken entwickelt?

Seine Bücher sind zunehmend allgemein zugänglich geworden. Aber mein Lieblingsbuch ist immer noch „Eine kurze Geschichte der Zeit“. Das hatte trotz fortgeschrittener Kost – wie Schwarze Löcher und Urknall – einen deutlich weitergehenden Anspruch, ohne Formeln das Verständnis für Zusammenhänge zu vermitteln. Auch die Kinderbücher, die Hawking mit seiner Tochter Lucy schreibt, finde ich sehr gelungen.

Bevor Sie in die Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit wechselten, forschten Sie am MPI für Gravitationsphysik in Potsdam. Was halten Sie von Hawkings Ansichten?

Mit seinen Arbeiten etwa zu Schwarzen Löchern zählt er unbestritten zu den ganz Großen. Die Singularitätstheoreme und die Entdeckung, dass Schwarze Löcher strahlen – das sind Meilensteine. Allerdings: Die entscheidenden neuen Impulse bei der Forschung zur Quantengravitation kommen bereits seit einiger Zeit von anderen Wissenschaftlern.

KOMPAKT

· Auch im Ruhestand setzt sich Stephen Hawking nicht zur Ruhe: Er hat ein neues Buch veröffentlicht, und er forscht weiter.

· Mit seinem „modellabhängigen Realismus“ erklärt er das Wesen der Wirklichkeit und dass Gott überflüssig ist.

Leonard Mlodinow

Der 1954 in Chicago geborene Nachfahre zweier polnischer Holocaust-Überlebenden, die sich nach der Befreiung aus Konzentrations- und Arbeitslagern 1948 in Brooklyn kennengelernt hatten, lehrt Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik am California Institute of Technology in Pasadena. Er hat in einem israelischen Kibbuz gearbeitet, an der Brandeis University in Waltham, Massachusetts, studiert, 1981 an der University of California in Berkeley über quantenphysikalische Problemlösungen promoviert und später am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching geforscht. 2001 entkam er knapp den Terror-Anschlägen auf das World Trade Center, als er beim südlichen Tower auf der Straße stand.

Ab 1985 schrieb Mlodinow Drehbücher für TV-Serien wie „ MacGyver“, „Hunter“ und „Star Trek“ sowie Comedy-Skripts – bevor sein erstes Drehbuch angenommen wurde, hatte er nur noch 110 Dollar auf der Bank. Später arbeitete er einige Jahre als Erfinder und Produzent von Computerspielen sowie als Vizepräsident einer Software-Entwicklungsfirma. Neben zwei Kinderbüchern verfasste er mehrere populärwissenschaftliche Sachbücher. Gerade schreibt er an einem Buch über die Neurobiologie des Sozialverhaltens.

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