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Die seltsame Grenze des Sonnensystems

Astronomie|Physik Geschichte|Archäologie

Die seltsame Grenze des Sonnensystems
Die Raumsonde Voyager 1 fliegt derzeit durch die Übergangszone zwischen dem Sonnensystem und dem interstellaren Raum. Wie die Messungen zeigen, ist das Grenzgebiet völlig anders, als die Astrophysiker bislang dachten.

Bis zum Rand des Sonnensystems kann es nicht mehr weit sein. „ Die Vorboten der sogenannten Heliopause sind bereits zu spüren“, sagt Eberhard Möbius von der University of New Hampshire. Die Raumsonde Voyager 1, 1977 zu einer Reise ohne Wiederkehr aufgebrochen, hat sich mittlerweile gut 18 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt – das ist 120 Mal so weit wie der Abstand zwischen Erde und Sonne. Funksignale brauchen für die Strecke mehr als 16 Stunden. Bereits seit 2004 durchquert Voyager 1 die Heliosheath (übersetzt etwa: Sonnenumhüllung), ein rätselhaftes Niemandsland zwischen dem Herrschaftsbereich der Sonne und dem interstellaren Raum. Noch befindet sich das Raumschiff innerhalb der Heliosphäre – jener riesigen Blase, die der Sonnenwind im Interstellaren Medium erzeugt. Doch der Einfluss der Sonne schwindet.

PARTIKEL-HAGEL AUS DER GALAXIS

Seit Anfang Mai 2012 wird Voyager 1 von immer mehr Protonen und Alphateilchen bombardiert, die in der Umgebung von fernen Supernova-Überresten, Neutronensternen und Schwarzen Löchern ins All geschleudert wurden und nahezu mit Lichtgeschwindigkeit durch die Galaxis rasen.

„In einer einzigen Woche ist die Zahl der Treffer um fünf Prozent gestiegen“, berichtet Ed Stone vom California Institute of Technology, der die Voyager- Mission seit 40 Jahren wissenschaftlich begleitet. Ein weiteres mögliches Anzeichen für den bevorstehenden Übertritt registrierte Voyager 1 bereits im April 2010: Der Sonnenwind rund um die Sonde kam fast zum Erliegen – eine „Windstille“, die bis heute anhält.

Ungeduldig erwarten die Forscher den Tag, an dem das Magnetometer einen plötzlichen Anstieg der Feldstärke zeigen wird. „Dann wissen wir, dass Voyager 1 die Heliopause durchstoßen hat und sich im interstellaren Raum befindet“, sagt Eberhard Möbius. Der deutsche Plasmaphysiker rechnet schon bald mit diesem Ereignis: „Vielleicht ist es bereits in einigen Monaten soweit, spätestens aber in drei bis vier Jahren.“

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Jenseits der Grenze werden Voyager 1 und bald auch ihre Schwestersonde Voyager 2 als erste menschengemachte Objekte in ein fremdes Reich vorstoßen: den nahezu leeren Raum zwischen den Sternen. Die kosmischen Weiten sind von einem unfassbar dünnen Stoff erfüllt, dem Interstellaren Medium. In einem Volumen von einem Liter befinden sich dort gerade mal etwa 200 Teilchen: zum einen Wasserstoff und Helium, die noch vom Urknall übrig geblieben sind, zum anderen schwerere Atome, Moleküle und Staubteilchen, die aus dem Wind fremder Sonnen oder den Überresten explodierter Sterne stammen.

GALAKTISCHER GEGENWIND

Neue Beobachtungen geben jetzt eine erste Ahnung davon, wie der kaum spürbare Gegenwind aus der Milchstraße das Sonnensystem prägt. Eine handfeste Überraschung meldete ein Forscherteam um Eberhard Möbius und David McComas vom Southwest Research Institute in der Fachzeitschrift Science: Daten des 2008 gestarteten NASA-Satelliten IBEX (Interstellar Boundary Explorer) hatten gezeigt, dass sich das Sonnensystem nicht mit Überschallgeschwindigkeit durch das Interstellare Medium bewegt, wie es fast alle Forscher bisher angenommen hatten. Es schiebt also keine Stoßwelle vor sich her wie ein Überschallflugzeug, sondern lediglich eine Bugwelle wie ein Schiff. Ob der heliosphärische Schutzschild die Erde so besser oder schlechter vor der energiereichen Kosmischen Strahlung schützt als mit einer Stoßwelle, ist noch unklar. Die Beobachtung erwischte die Wissenschaftler kalt: „Bislang gibt es keine Modelle dafür“, sagt Eberhard Möbius.

IBEX-Daten zeigen auch, dass sich das Sonnensystem wohl noch in der „Lokalen Interstellaren Wolke“ befindet, einer von vielen Gaswolken in der näheren Sonnenumgebung. Frühere Ergebnisse hatten vermuten lassen, dass es diese Wolke verlassen hat. Der Satellit IBEX kreist zwar in der Erdumlaufbahn, kann aber dennoch interstellare Teilchen auffangen (bild der wissenschaft 3/2010, „ An der Grenze des Sonnensystems“).

TEILCHEN AUS DEM SKORPION

Geladene Teilchen können nicht gegen den Strom des magnetisierten Sonnenwind-Plasmas ins Sonnensystem eindringen. Das Interstellare Medium besteht aber zu mehr als der Hälfte aus neutralen Atomen, die auf ihrem Weg nicht durch Magnetfelder behindert werden. Die meisten verlieren freilich irgendwann ein Elektron durch Zusammenstöße oder UV-Strahlung und werden dann vom Sonnenwind wieder in die Gegenrichtung mitgerissen. Nur wenigen gelingt die lange Reise von der Grenze des Sonnensystems bis zur Erdumlaufbahn, wo IBEX sie messen kann.

Die Daten zeigen, dass der interstellare Wind dem Sonnensystem mit einer Geschwindigkeit von 23 Kilometern pro Sekunde „ entgegenbläst“. Er kommt etwa aus Richtung Sternbild Skorpion. Das war eine Überraschung. „Daten der Raumsonde Ulysses hatten zuvor eine höhere Geschwindigkeit und eine etwas andere Richtung angezeigt“, sagt Möbius. Die IBEX-Forscher stellten noch etwas fest: Das Interstellare Medium enthält viel weniger Sauerstoff als das Sonnensystem – und auch als der Rest der Milchstraße. Dieses Defizit könnte bedeuten, dass ein größerer Teil des Sauerstoffs in Staubkörnern eingeschlossen ist – oder dass die Sonne nicht in ihrer heutigen galaktischen Nachbarschaft entstanden ist.

Auch das klassische Bild der Heliosphäre musste in den letzten Jahren wesentlich korrigiert werden. In dieser Schutzhülle des Sonnensystems ist der Sonnenwind die dominierende Strömung. Der immerwährende Teilchenstrom besteht fast ausschließlich aus geladenen Teilchen, es sind vor allem Protonen und Elektronen. Das Plasma strömt mit einer Geschwindigkeit zwischen 300 und 800 Kilometern pro Sekunde von der Sonne aus in alle Richtungen und schleppt dabei das Magnetfeld der Sonne mit.

Selbst die langsameren Teilchen erreichen nach nur etwas mehr als einem Jahr eine Entfernung von etwa 90 Astronomischen Einheiten – also den 90- fachen Abstand zwischen Sonne und Erde. Das ist weit jenseits der Bahn des Planeten Neptun. Dort spüren sie zum ersten Mal einen nennenswerten Widerstand. Ihre Geschwindigkeit, die vorher im Überschallbereich lag, sinkt abrupt auf Unterschall-Werte.

Diese erste Grenze des Sonnensystems nennen die Forscher Termination Shock. Bislang dachte man, dass es sich um eine sphärische Grenze handelt. Aber: Voyager 1, die sich oberhalb der Ebene der Planeten aus dem Sonnensystem entfernt, traf 2004 in einer Entfernung von 94 Astronomischen Einheiten auf die unsichtbare Barriere. Doch Voyager 2, etwas langsamer und unterhalb der Planeten unterwegs, erreichte die Grenze 2007 bei nur 84 Astronomischen Einheiten. Dies war der erste Hinweis darauf, dass die Heliosphäre eine asymmetrische Form hat. Jenseits des Termination Shock befindet sich die Heliosheath. In dieser Übergangszone, dem derzeitigen Aufenthaltsort der beiden Voyager-Sonden, mischt sich der abgebremste Sonnenwind mit dem Interstellaren Medium. „Diese Region ist mysteriös – viel mehr, als wir bislang dachten“, sagt Merav Opher von der Boston University.

PULSIERT die HELIOSPHÄRE?

Die Messungen der beiden Sonden sind verwirrend: Die Messdaten von Voya-ger 1 zeigen, dass sich die Sonnenwindteilchen schon seit zwei Jahren kaum nach außen weiterbewegen und nur langsam zur Seite driften. Voyager 2 misst dagegen weiterhin einen kräftigen Fluss nach außen.

Den bisherigen Modellen zufolge sollte der Sonnenwind erst an der Heliopause vollständig zum Erliegen kommen und dort mit dem interstellaren Wind verschmelzen. Voyager-Forscher Ed Stone hält es für denkbar, dass die Heliosphäre im Rhythmus des elfjährigen Sonnen-zyklus pulsiert. Dann wäre die Windstille nur ein vorübergehendes Phänomen.

Eine andere mögliche Erklärung liefert ein Modell, das Merav Opher zusammen mit ihren Kollegen entwickelt hat. Demnach ist die vorderste Front der Heliosphäre mit riesigen magnetischen Blasen gefüllt, deren Durchmesser eine Astronomische Einheit betragen kann. Die Blasen sind sozusagen Ableger des Magnetfelds der Sonne, das sich spiralförmig vom Gestirn nach außen windet. Dem Modell zufolge bilden die Linien des interplanetaren Magnetfelds in einem etwa 60 Grad großen Sektor vor der „Nase“ der Heliosphäre zahlreiche Wirbel. Dabei entstehen abgetrennte magnetische Inseln. Das Modell, sagt die Astrophysikerin, erkläre zum einen den Stillstand des Sonnenwinds, zum anderen auch den Anstieg der Kosmischen Strahlung: „In unserer Theorie ist die Heliopause kein Schild, sondern eine poröse, durchlässige Grenze.“

Auch die IBEX-Messungen zeigen, dass sich an der Heliopause seltsame Dinge ereignen. Das überraschendste Ergebnis der Mission war die Entdeckung eines breiten Bands am Himmel – einer Region, aus der zwei- bis dreimal so viele neutrale Wasserstoff-Atome zur Erde strömen wie vom Rest des Firmaments. „Diese Struktur hat kein Modell vorhergesagt. Damit hat wirklich niemand gerechnet“, staunt Eberhard Möbius immer noch.

Nach wie vor ist unklar, durch welchen Mechanismus die Wasserstoff-Atome in diesem „IBEX-Ribbon“ konzentriert werden. Die Forscher wissen immerhin, dass es sich um ehemalige Sonnenwind-Teilchen handelt und nicht um interstellare Teilchen. Wahrscheinlich tauschen Protonen aus dem Sonnenwind mehrfach dies- und jenseits der Heliopause Elektronen mit interstellaren Teilchen aus. Dadurch wären sie mal der Kraft des jeweils herrschenden Magnetfelds ausgesetzt und mal nicht.

Womöglich werden einige Teilchen auf ringförmige Bahnen um das interstellare Magnetfeld gelenkt, das sich entlang des „ IBEX-Ribbon“ parallel zur Heliopause anschmiegt und damit senkrecht zu unserer Blickrichtung liegt. Wenn diese Ionen dann ein Elektron aufnehmen und wieder neutral sind, werden sie auf geradem Weg nach vorn katapultiert wie ein Stein mit einer Schleuder – manchmal auch in Richtung Erde. Anscheinend legen sich die Magnetfeldlinien wie Gummiseile um die Heliopause und quetschen sie zusammen.

„Das IBEX-Band ist der bisher genaueste Kompass, den wir für das interstellare Magnetfeld haben“, sagt der Physiker. Dieses Feld der „Lokalen Interstellaren Wolke“ ist wesentlich stärker als angenommen und verursacht die asymmetrische Form der Heliosphäre. Die Sonne höhlt demnach keine parabelförmige Blase ins Interstellare Medium wie ein Komet mit Schweif. Die Heliosphäre sieht vielmehr ziemlich verunstaltet aus: Auf einer Seite ist sie zusammengequetscht – „wie ein Ball, auf dem jemand sitzt“, sagt IBEX-Chefwissenschaftler David McComas.

Genauere Informationen aus dem hinteren Bereich der Heliosphäre mit dem langgestreckten Schweif haben die Forscher bislang nicht. Vielleicht könnte die NASA-Sonde New Horizons diese Lücke füllen. Als erste Mission ins äußere Sonnensystem seit mehreren Jahrzehnten wird sie 2015 den Zwergplaneten Pluto erreichen und dann in Richtung Heliosphärenschweif weiter fliegen. Ein wenig Geduld ist allerdings erforderlich: Den Termination Shock wird New Horizons erst in den 30er-Jahren erreichen. ■

UTE KEHSE, Wissenschaftsjournalistin in Delmenhorst, berichtete zuletzt in bdw über Lebensnischen im Sonnensystem (12/2012).

von Ute Kehse

Kompakt

· Raumsonden erkunden die Heliopause, die Grenze des Sonnensystems – der Satellit IBEX vom Erdorbit aus und die beiden Voyager-Sonden vor Ort.

· In den kosmischen Außenbezirken geht es turbulenter zu als bislang gedacht. Die erwartete Stoßwelle scheint jedoch nicht zu existieren.

· Das Magnetfeld des Interstellaren Mediums quetscht die Heliosphäre zusammen.

Mehr zum Thema

INTERNET

Informationen der NASA zu Voyager: voyager.jpl.nasa.gov

Die kurze Geschichte einer weiten Reise

20. August: 1977 Start von Voyager 2

5. September 1977: Start von Voyager 1

5. März 1979: Voyager 1 fliegt am Jupiter vorbei

9. Juli 1979: Voyager 2 fliegt am Jupiter vorbei

12. November 1980: Voyager 1 passiert Saturn und fliegt aus der Ekliptik (Bahnebene der Planeten); sie verlässt das Sonnensystem in einem Winkel von 35 Grad in nördlicher Richtung

25. August 1981: Voyager 2 passiert Saturn

24. Januar 1986: Voyager 2 fliegt an Uranus vorbei

25. August 1989: Voyager 2 passiert Neptun und taucht um 48 Grad unterhalb der Ekliptik ab, gewissermaßen in südliche Richtung

1. Januar 1990: Beginn der interstellaren Mission – fünf der elf Instrumente beider Sonden bleiben angeschaltet und registrieren unter anderem die Geschwindigkeit der Sonnenwindteilchen, die Stärke des Magnetfelds und die Energie der Kosmischen Strahlung

17. Februar 1998: Voyager 1 überholt die 1972 gestartete Raumsonde Pioneer 10 und ist seitdem das fernste von Menschen gemachte Objekt im All

15. Dezember 2004: Voyager 1 durchquert den Termination-Schock

5. September 2007: Voyager 2 durchquert den Termination-Schock

2020 bis 2025: Die Batterien der Voyager-Sonden werden so schwach, dass keine Kommunikation mehr möglich ist

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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