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Die verbotenen Kristalle

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Die verbotenen Kristalle
Quasikristalle sind eine rätselhafte Form der Materie, die man bisher nur aus dem Labor kannte. Nach jahrzehntelanger Detektivarbeit haben Forscher sie nun auch in der Natur aufgespürt.

Theoretische Physiker verbringen ihre Tage meist am Computer. Manchmal auch am Schreibtisch, mit spitzem Bleistift und einem großen Blatt Papier – wenn sie über komplizierten Formeln brüten. Doch Paul Steinhardts Arbeit im Sommer 2011 entsprach nicht dem typischen Berufsbild der Zunft: Der Professor von der Princeton University durchwühlte den Schlamm des Listvenitovyi-Flusses in den Korjakenbergen, einem Gebirgszug im „Autonomen Kreis der Tschuktschen”, kurz Tschukotka, im Nordosten Sibiriens. Steinhardt versuchte sich als Goldwäscher und sortierte die Funde unter dem Mikroskop. Er streifte durch das unwegsame Gelände der sibirischen Tundra, suchte nach guten Stellen für weitere Proben und erkundete die Geologie.

Für den Theoretiker war der Abenteuertrip eine einzigartige Erfahrung. „Ich hatte vorher noch nicht einmal gezeltet, und plötzlich musste ich mit Kettenfahrzeugen Flüsse durchqueren”, sagt er. Die Expedition, die der US-Forscher zusammen mit dem Mineralogen Luca Bindi von der Universität Florenz auf die Beine gestellt hatte, war der Endpunkt einer jahrzehntelangen Suche. Steinhardt, Bindi und ihre elf Mitstreiter fahndeten nach etwas, das es eigentlich gar nicht geben dürfte – nach natürlichen Quasikristallen.

Quasikristalle sind eigenartige Festkörper. In ihnen sind die Atome weder in einem regelmäßigen Gitter angeordnet wie in gewöhnlichen Kristallen, noch ungeordnet wie in Glas. Stattdessen bilden die Atome ein hübsches Muster, das an ein Kaleidoskop erinnert oder an die Ornamente in manchen Moscheen. Es wiederholt sich nie, ist aber dennoch faszinierend regelmäßig.

WIDER ALLE REGELN

Als der israelische Forscher Daniel Shechtman diese neue Form der Materie 1982 durch Zufall entdeckte, stieß er bei vielen Kollegen auf große Skepsis. Denn Quasikristalle verletzen die strengen Regeln der Kristallografie. Insbesondere weisen sie Symmetrien auf, die für Kristalle verboten sind (siehe Kasten „ Gut zu wissen”, S. 58). Inzwischen sind mehr als 100 verschiedene Quasikristalle bekannt. Die Verbindungen werden als vielversprechende neue Werkstoffe geschätzt. Und Daniel Shechtman erhielt 2011 für seine Entdeckung den Nobelpreis.

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Dennoch galten Quasikristalle bislang als Kuriositäten, die nur unter idealen Bedingungen im Labor erzeugt werden können. Die Zutaten müssen in der richtigen Zusammensetzung gemischt, geschmolzen und dann unter kontrollierten Bedingungen abgeschreckt werden, damit sie sich zu einem Quasikristall und nicht zu einem gewöhnlichen Kristall verbinden. „Man vermutete, dass sie zu kompliziert sind, um auf natürliche Weise entstehen zu können”, sagt Steinhardt.

Er selbst hatte schon 1985, kurz nach der Bestätigung von Shechtmanns Fund, den Verdacht, dass Quasikristalle genauso stabil sind wie echte Kristalle, und dass sie auch in komplexen Gesteinen vorkommen können. Steinhardt begann 1999 mit der Suche. Zunächst durchforstete er eine Datenbank, die Röntgenbeugungsmuster von 80 000 Mineralpulvern enthielt. Doch keine einzige Probe zeigte die verräterische Signatur von Quasikristallen. Danach konzentrierte er sich auf Mineralien aus solchen Elementen, von denen man Quasikristalle kennt.

2009 wurde er, inzwischen unterstützt durch Luca Bindi, endlich fündig. Einige Körnchen in einem Gesteinsbrocken von drei Millimeter Durchmesser aus dem Museum der Universität Florenz zeigten im Beugungsmuster die charakteristische, für Kristalle verbotene Fünffach-Symmetrie, berichteten die beiden Forscher und Kollegen in der Fachzeitschrift Science.

Die chemische Analyse ergab, dass die verdächtigen Mineralkörnchen aus Aluminium, Kupfer und Eisen bestehen mit der Summenformel Al63Cu24Fe13. Ein künstlicher Quasikristall mit dieser Zusammensetzung ist seit 1987 bekannt. Doch es gab Zweifel. „Führende Geologen sagten, dass unser Quasikristall unmöglich natürlichen Ursprungs sein könne”, erinnert sich Steinhardt. Die Forscher hatten nur eine Möglichkeit, um die Skeptiker zu überzeugen: Sie mussten die Herkunft des winzigen Brockens ergründen und, wenn möglich, weitere Proben beschaffen.

EIN AUSSERIRDISCHER!

Der erste Teil des Plans erwies sich noch als vergleichsweise einfach. Als die Forscher die Probe genauer analysierten, stießen sie im Inneren auf ein Korn des Minerals Stishovit – einer Hochdruckvariante von Quarz, die nur bei Meteoriteneinschlägen entsteht. „Das war ein eindeutiger Beweis für einen außerirdischen Ursprung der Probe”, sagt Luca Bindi. Weitere Analysen ergaben, dass das Steinchen einmal zu einem primitiven Meteoriten gehört hatte, der vermutlich vor 4,5 Milliarden Jahren aus dem Staub des solaren Urnebels kondensiert war. Wieso sich darin Quasikristalle bildeten, ist unbekannt. Höchst ungewöhnliche Vorgänge müssen sich dabei abgespielt haben.

Bindi und Steinhardt gehen davon aus, dass der Hochdruck-Quarz bei einem Zusammenstoß zweier Planetoiden im All entstand und nicht beim Aufprall auf die Erde. Darauf deutet auch der Fund mehrerer Kupfer-Aluminium-Legierungen in dem Bruchstück hin. Aluminium ist extrem unedel: Es oxidiert schnell. Und es wurde bislang noch nie in metallischer Form in einem primitiven Meteoriten entdeckt. „Womöglich wurde das metallische Aluminium erst durch die Kollision im All stabil”, vermutet Luca Bindi. Um die Entstehungsgeschichte zu entschlüsseln, reifte bei Steinhardt und Bindi die Idee, weitere Proben zu beschaffen. Dazu brauchte es detektivischen Spürsinn. Denn das Gesteinsbröckchen war 1990 auf verschlungenen Wegen nach Florenz gelangt, und niemand kannte den Entdecker.

ein russischer Agent

Zunächst machten die Forscher die Witwe eines Privatsammlers aus Amsterdam ausfindig, der dem Museum damals 10 000 Gesteinsproben verkauft hatte. Sie erfuhren von einer Schmuggeloperation in Rumänien, an der ein russischer Geheimdienstagent beteiligt war. Schließlich gelang es Bindi und Steinhardt, den Entdecker der Probe aufzuspüren, den Russen Valery Kryachko. Er hatte 1979 im Flussbett des Listvenitovyi nach Platin gesucht und dabei auch das winzige, metallisch glänzende Meteoritenbruchstück zutage gefördert.

Bei der Expedition im Sommer 2011 fanden die Forscher tatsächlich weitere Fragmente des seltsamen Meteoriten, berichteten sie in der Zeitschrift „Reports on Progress in Physics”. Die ers-ten Analysen legen nahe, dass er vor 15 000 Jahren auf die Erde gestürzt ist. Die neuen Proben enthalten wahrscheinlich noch weitere unbekannte Mineralien. Den ersten natürlichen Quasikristall, das Al63Cu24Fe13, hat die Internationale Mineralogische Vereinigung inzwischen offiziell als neues Mineral anerkannt. Es hat den Namen Icosahedrit bekommen, „Zwanzigflächner”.

Die Entdeckung hat Paul Steinhardt neuen Antrieb gegeben. Er sucht weiter nach natürlichen Quasikristallen und hofft dabei auf Verbindungen, die noch nicht aus dem Labor bekannt sind. „Jedes Mal, wenn wir irgendetwas an Quasikristallen untersucht haben, ob es nun theoretisch, experimentell oder geologisch war, kam etwas Unerwartetes heraus”, sagt er. „Und es gibt noch viele ungelöste Rätsel.” ■

von Ute Kehse

Gut zu wissen: Quasikristalle

Quasikristalle sind symmetrisch, weisen aber Symmetrien auf, die bei normalen Kristallen nicht vorkommen. Kristalle sind gewöhnlich aus Elementarzellen aufgebaut, die sich endlos wiederholen. Das setzt dem Aufbau enge Grenzen: Nur zwei-, drei-, vier- und sechsfache Symmetrien sind erlaubt. Die Atome sind so angeordnet, dass das Kristallgitter nach einer halben, einer Drittel-, Viertel- oder Sechsteldrehung wieder auf sich selbst zu liegen kommt. Bei allen anderen Symmetrien ließe sich das Gitter nicht aus identischen Elementarzellen aufbauen – so wie sich eine zweidimensionale Fläche nicht vollständig mit fünfeckigen Kacheln bedecken lässt.

Da Quasikristalle nicht aus Elementarzellen bestehen, gilt diese Einschränkung nicht. Viele weisen eine Fünffach- Symmetrie auf. Das Vorbild dafür ist der sogenannte abgestumpfte Ikosaeder, anschaulicher: ein klassischer Fußball – ein Körper, in dem jeweils fünf Sechsecke um ein Fünfeck angeordnet sind. Man kann einen Fußball um sechs verschiedene Achsen jeweils um einen Fünftel Kreisausschnitt (72 Grad) drehen und erhält wieder die ursprüngliche Anordnung. Bei Quasikristallen ist die Symmetrie freilich nicht perfekt, sondern eben nur quasi vollkommen.

Weil Quasikristalle einige besondere Eigenschaften haben, wird ihnen ein großes Anwendungspotenzial zugeschrieben. Sie zeichnen sich zum Beispiel durch sehr niedrige Wärmeleitfähigkeit, hohe Korrosionsbeständigkeit, kleinen Reibungswiderstand und gute katalytische Eigenschaften aus.

Anwendungen finden sie bereits in widerstandsfähigen Antihaftbeschichtungen oder stabilen Rasierklingen. Materialien, die wie Quasikristalle aufgebaut sind, haben zudem Eigenschaften, die für zukünftige optische Computer wertvoll sein könnten.

Kompakt

· Quasikristalle entstanden schon bei der Geburt des Sonnensystems. Sie sind über Milliarden Jahre stabil.

· Die ersten natürlichen Quasikristalle wurden in Tschukotka im Nordosten Sibiriens gefunden.

Paul Steinhardt

Der Direktor des Princeton Center for Theoretical Science gilt als einer der Väter des Szenarios der Kosmischen Inflation: Anfang der 1980er-Jahre, als junger Assistenz-Professor an der University of Pennsylvania, beschrieb er gemeinsam mit Kollegen, wie sich das Universum innerhalb von Bruchteilen der ersten Sekunde nach dem Urknall extrem stark ausgedehnt haben muss. 2002 erhielt Paul Steinhardt (Jahrgang 1952) dafür die Dirac-Medaille.

Heute sucht Steinhardt nach alternativen Erklärungen für die Architektur des Kosmos. Er führte dazu das Konzept der Quintessenz ein, einer zeitlich veränderlichen Form der Dunklen Energie. Sie könnte erklären, wieso sich der Kosmos immer schneller ausdehnt. Außerdem hat Steinhardt mit mehreren Kollegen die Theorie des „Zyklischen Universums” entwickelt.

Die Forschung zu Quasikristallen hat für den vielseitigen Physiker den gleichen Stellenwert wie die Kosmologie. Für seine Pionierarbeit auf diesem Gebiet erhielt er 2010 den Oliver-Buckley-Preis der American Physical Society.

Mehr zum Thema

internet

Web-Seite zu Quasikristallen von Paul Steinhardt: www.phy.princeton.edu/~steinh/ naturalquasicrystals.html

Beispiele für islamische Kacheln: www.physics.princeton.edu/~steinh/ peterlu_SOM7_sm.pdf

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Zy|to|ge|ne|tik  〈f.; –; unz.; Biol.; Med.〉 Teilgebiet der Genetik, das die Zusammenhänge zwischen Feinbau der Zelle u. Vererbung erforscht

Er|nied|ri|gungs|zei|chen  〈n. 14; Mus.; Zeichen: b od. bb〉 Zeichen zum Erniedrigen eines Tones um einen halben Ton od. um zwei halbe Töne

si|mi|le  〈[–le:] Adv.; Mus.〉 ebenso, in gleicher Weise [ital.]

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