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Grenzenlose Unordnung lässt die Zeit fließen

Astronomie|Physik

Grenzenlose Unordnung lässt die Zeit fließen
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Prof. Sean Carroll und Jennifer Chen. Skizze im Hintergrund auf der Tafel: Aus einem beliebigem Anfangszustand (geschwungene Fläche in der Mitte) entwickeln sich in beide Zeitrichtungen flache und fast leere de-Sitter-Räume (ebene Flächen). Quantenfluktuationen im Vakuum dieser Räume verursachen "Urknälle" und erzeugen neue Universen (trichterförmige Strukturen) mit eindeutiger Zeitrichtung. (Bildquelle: Lloyd DeGrane / University of Chicago News Office)
Eltern, die dann und wann einen Blick in das Zimmer ihres Nachwuchses werfen, wussten es schon immer: Egal wie groß die Unordnung schon ist, sie kann noch größer werden. Genau dieses Prinzip ? so behaupten es Sean Carroll und Jennifer Chen von der Universität Chicago ? ist die Voraussetzung für den Zeitpfeil in unserem Universum. Die Zeit fließt, weil das Universum keinen Zustand maximaler Entropie erreichen kann. Die beiden Physiker haben ihre Theorie im Internetarchiv arXiv.org (hep-th/0410270) veröffentlicht.

Wissenschaftler, die nach einer Erklärung für die Entstehung des Universums suchen, landen immer wieder bei dem gleichen Problem: Welchen Anfangszustand des Universums kann man als „natürlich“ akzeptieren? Denn um in der Physik irgendetwas erklären zu können, braucht man zwei Dinge: Zum einen physikalische Gesetze, zum anderen die Anfangsbedingungen, die man in diese Gesetze einsetzt, um zu sehen, wohin sich das jeweilige System entwickelt.

Kein Wissenschaftler war beim Urknall dabei ? somit hat niemand eine direkte Kenntnis des Anfangszustandes. Aber aus unzähligen physikalischen und astronomischen Beobachtungen haben Kosmologen die derzeit allgemein akzeptierte Theorie über die Entstehung des Universums erschlossen: die Inflationstheorie, gemäß der das Universum sich Sekundenbruchteile nach dem Urknall um einen ungeheuren Faktor aufgebläht hat. Diese Theorie ist in den letzten Jahren durch zahlreiche astronomische Beobachtungen erhärtet worden und ist ebenfalls weitgehend konsistent mit den Theorien der Teilchenphysik.

Den „Anstoß“ für die Inflationsphase, also die explosionsartige Ausdehnung des Universums, gibt in der Inflationstheorie eine Quantenfluktuation ? eine zufällige Energieschwankung im Quantenvakuum. Solche zufälligen Schwankungen werden von der Quantentheorie vorhergesagt und bedürften somit eigentlich keiner weiteren Erklärung.

„Doch dieses Szenario hat eine Leiche im Keller“, sagt Carroll. Sein Argument ist eine Wahrscheinlichkeitsfrage: Er betrachtet die Entropie des winzigen Raumgebietes, in dem die Quantenfluktuation stattfand und aus dem sich unser Universum entwickelte. „Entropie“ ist im Wesentlichen ein Maß für Unordnung. Dabei gilt: Je „ordentlicher“ ein Zustand ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass er eintritt. Die wahrscheinlichsten Zustände sind die unordentlichen.

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Nun ist eine Quantenfluktuation, die groß genug ist, um die Inflation anzustoßen, ein extrem „ordentlicher“ und damit unwahrscheinlicher Zustand. Viel wahrscheinlicher und „natürlicher“ sind kleinere Quantenfluktuationen. „Die zum Start der Inflation notwendigen Bedingungen sind nicht so einfach zu bekommen“, sagt Carroll. „Es gibt sogar ein Argument, wonach es wahrscheinlicher ist, dass unser heutiges Universum fix und fertig als Ergebnis einer Quantenfluktuation erscheint, als dass eine Quantenfluktuation die Inflation anstößt.“

Carroll und Chen schlagen nun eine Theorie vor, die von einem wahrscheinlicheren ? und damit „natürlicheren“ ? Anfangszustand ausgeht. Sie zeigen, dass sich fast jeder denkbare Zustand des Universums mit der Zeit einem leeren Universum ? einem so genannten de-Sitter-Raum ? annähert. Unter der Annahme, dass die in den letzten Jahren entdeckte Dunkle Energie, die die Ausdehnung des Universums beschleunigt, konstant ist, entstehen in diesem Raum immer wieder neue „Urknälle“ mit Inflationsphasen. Carroll und Chen betonen, dass ihre Theorie sich dramatisch verändern und eventuell hinfällig würde, wenn der Dunklen Energie eine veränderliche Kraft zugrunde liegt.

Ein wesentliches Argument in Carroll und Chens Theorie ist die Annahme, dass das Universum unendlich viele Freiheitsgrade hat. Das macht es unmöglich, dass ein Zustand maximaler Entropie erreicht wird. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt kann die Entropie deshalb noch größer werden und wird aufgrund des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik auch tatsächlich größer. Das Universum kann nie einen Gleichgewichtszustand erreichen. Damit ergibt sich aus Carrolls und Chens Theorie zusätzlich eine Zeitrichtung. Denn die Zeit fließt in Richtung zunehmender Entropie.

Der Zeitpfeil gilt aber nur lokal. Wenn man die großräumige Struktur betrachtet, ergibt sich ein zweiter Zeitpfeil. Denn das Anfangsuniversum, das sich durch den minimalen Entropiegehalt auszeichnet, kann sich in beide Zeitrichtungen entwickeln, so dass in unserer Vergangenheit andere Universen mit entgegengesetztem Zeitpfeil existieren.

Axel Tillemans
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