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Miniatur-Zeitmaschinen in Genf

Astronomie|Physik Technik|Digitales

Miniatur-Zeitmaschinen in Genf
Zeitreisen lassen sich vielleicht bald im Labor bewerkstelligen – im Teilchenbeschleuniger LHC. Denn beim Zusammenstoß energiereicher Protonen könnten dort Zeitschleifen und Tunnel durch die Dimensionen entstehen, so spekulieren Physiker. Das Gewebe von Ursache und Wirkung, das scheinbar die Welt zusammenhält, würde dann löchrig oder aber völlig neu geknüpft – und eine Theorie von Stephen Hawking wäre widerlegt.

„Wo bleiben denn die Touristen aus der Zukunft, wenn Zeitmaschinen möglich sind?“ fragte Stephen Hawking einmal scherzhaft. „Sie sollten uns doch längst besucht haben, um unser drolliges altmodisches Leben neugierig zu betrachten und unsere Streitigkeiten zu beenden.“ Mit den „Streitigkeiten“ meinte der berühmte britische Physiker die wissenschaftlichen Diskussionen darüber, ob Zeitreisen möglich sind oder aber den Naturgesetzen widersprechen. Letzteres glaubt Hawking, und hat eine „Vermutung zum Schutz der Zeitordnung“ formuliert: Zeitmaschinen könnten nicht gebaut werden oder von selbst entstehen – und wenn doch, würden Quantengravitationseffekte sie sofort wieder zerstören.

Seither haben Physiker zwar einige Beispiele berechnet, die die Vermutung bestätigen, aber ein Nachweis, dass sie allgemeingültig ist, steht noch aus. Doch nun lässt sich Hawkings Hypothese bald im Experiment überprüfen. Denn vielleicht ist der Weg zu einer funktionierenden Zeitmaschine gar nicht mehr weit. Darüber berichtet Rüdiger Vaas, Physik-Redakteur der populären Monatszeitschrift bild der wissenschaft, in seinem eben erschienenen Buch „Tunnel durch Raum und Zeit“ (Kosmos Verlag).

Die erste irdische Zeitmaschine könnte in Genf entstehen. Dort ist am Europäischen Kernforschungszentrum CERN seit November 2009 der Large Hadron Collider (LHC) in Betrieb, der größte Teilchenbeschleuniger der Welt. In einem unterirdischen Tunnel, 27 Kilometer im Umfang, kreisen Protonen mit fast Lichtgeschwindigkeit und kollidieren an ausgewählten Orten – inmitten von hochgezüchteten Detektoren, jeder so groß wie ein Mehrfamilienhaus. Dabei werden so hohe Energien an einem winzigen Ort entfesselt, dass die Materie einen Augenblick lang in Zustände versetzt wird, wie sie weniger als eine Milliardstel Sekunde nach dem Urknall herrschten – überall im Weltraum.

Dass der LHC könnte als Fabrik für Miniaturzeitmaschinen fungieren könnte, ist eine Idee von Igor Volovich und Irina Aref’eva. Die beiden Wissenschaftler am Steklov-Mathematik-Institut in Moskau haben ausgerechnet, dass der LHC unter speziellen Umständen winzige Wurmlöcher bohren könnte, die dann vielleicht eine Schleife in die Zeit biegen würden. Das klingt sehr spekulativ, ist jedoch eine faszinierende Möglichkeit, die den bekannten Naturgesetzen nicht widerspricht.

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Jedes Teilchen, das im LHC zirkuliert, erzeugt eine Art Stoßfront in der Raumzeit, eine Gravitationswelle. Sie macht sich als ein extrem schwaches Vibrieren der Grundfesten des Alls bemerkbar. Wenn zwei solcher Wellenfronten auf eine bestimmte Weise zusammentreffen, reißen sie ein winziges Loch in die Raumzeit, ein sogenanntes Wurmloch.
Unter normalen Umständen ist dies nicht möglich, denn dazu wären Energien nötig, die ein Billiardenfaches über der Leistungsfähigkeit des LHC liegen. Doch Physiker haben entdeckt, dass solche Effekte schon bei wesentlich niedrigeren Energien auftauchen können, wenn zusätzliche Dimensionen neben den drei bekannten (Höhe, Breite, Tiefe) existieren.

Im Rahmen der Stringtheorie, die Stephen Hawking für den besten Kandidaten einer „Weltformel“ zur einheitlichen Beschreibungen aller Elementarteilchen und Naturkräfte hält, werden solche Extradimensionen tatsächlich vorausgesagt. Wenn mindestens zwei dieser Miniaturdimensionen „groß“ sind – vielleicht ein Tausendstel Millimeter – reicht die Energie im LHC aus, um Schwarzen Minilöcher zu erzeugen – oder deren Verwandte, die Wurmlöcher. „Mini“ ist hier wirklich mini: etwa ein Billiardstel Millimeter im Durchmesser.

Volovich und Aref’eva haben nun berechnet, dass die Chancen für die Entstehung eines Schwarzen Minilochs – das aufgrund eines von Stephen Hawking berechneten Effekts sofort wieder zerstrahlen würde – und eines Wurmlochs gleich groß sind, zumindest unter den Bedingungen im LHC. Wurmlöcher könnten mehrfach in jeder Sekunde in die Raumzeit gestanzt werden, wenn der Beschleuniger auf Hochtouren läuft.
Nichts davo
n bedeutet allerdings, dass bereits zur nächsten Silvester-Feier Spritztouren durch die Zeit möglich sind. Mehrere Probleme stellen sich dem in den Weg, wie Rüdiger Vaas in seinem Buch erläutert.

Erstens wären die Wurmlöcher so winzig, dass nur Elementarteilchen durch die Raumzeit-Tunnel flitzen könnten. Und um dies nachzuweisen, müssten die Physiker messen, dass die Energiebilanz im LHC nicht aufgeht – die fehlende Energie würde mit den Teilchen verschwinden, die buchstäblich in den Detektoren des Ringbeschleunigers abtauchen. Dann wäre eine Mini-Zeitmaschine Realität.

Zweitens: Für den praktischen Gebrauch müssten die Wurmlöcher allerdings stabil sein, sie dürften sich nicht sofort wieder schließen. Dies lässt sich nur verhindern, wenn ihr Schlund durch exotische Materie oder Energie versteift wird, die einen „Gegendruck“ ausübt. Tatsächlich scheint das Vakuum einiges an solcher antigravitativer Qualität zu besitzen, wie Astronomen entdeckt haben: Über zwei Drittel der Gesamtenergie des Universums entfällt auf eine mysteriöse Dunkle Energie, die die Ausdehnung des Weltraums zwischen den Galaxienhaufen messbar beschleunigt. Wenn die Dunkle Energie bestimmte Eigenschaften hat und in der richtigen „Dosis“ durch das Wurmloch zieht, könnte dieses sogar groß und damit für Menschen passierbar werden. Also doch ein Silvester-Ausflug nicht ins neue Jahr, sondern zur Abwechslung in ein anderes Zeitalter?

Allerdings gibt es noch eine dritte Schwierigkeit: Selbst ein offenes, stabiles Wurmloch kann nur als Zeitmaschine fungieren, wenn die Zeit an den beiden Schlünden verschieden schnell abläuft. Das ist möglich, wenn sich beispielsweise eine starke Schwerkraftquelle in der Nähe eines Schlunds befindet, etwa ein Schwarzes Loch, oder sich der Schlund fast lichtschnell bewegt. Eine makroskopische Zeitmaschine werden die Physiker mit dem LHC also beim besten Willen nicht zustande bringen.

Doch wer weiß, vielleicht kommt ja unerwartete Hilfe aus dem All? Wurmloch-Zeitmaschinen haben die Eigenschaft, dass man mit ihnen nur zu dem Zeitpunkt zurück in die Vergangenheit reisen kann, an dem die Wurmlöcher erstmals entstanden sind und eine Zeitdifferenz an ihren Schlünden aufgetreten ist. Wer auf Dinosaurier-Jagd gehen möchte, braucht also nicht beim LHC vorstellig zu werden. Allerdings könnte eine außerirdische Superzivilisation der Zukunft von den LHC-Forschungen erfahren. Und beschließen, den denkwürdigen Moment eines ersten Wurmlochs auf Erden aus geschichtswissenschaftlichen oder rein touristischen Gründen in Augenschein zu nehmen. Wenn sie das andere Ende des Wurmlochs entsprechend manipulieren, von uns aus in der Zukunft gesehen, tauchen sie vielleicht schon bald in Genf auf. Vielleicht sollten sich die Angestellten in der Touristeninformation der Stadt auf solche weit gereisten Besucher schon einmal vorbereiten.

wissenschaft.de – Rüdiger Vaas

Rüdiger Vaas: „Tunnel durch Raum und Zeit – Von Einstein zu Hawking: Schwarze Löcher, Zeitreisen und Überlichtgeschwindigkeit“, Kosmos, Stuttgart 2010, 400 Seiten, zahlreiche Fotos und Illustrationen, 19,90 Euro, ISBN: 978-3440122938

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===Rüdiger Vaas
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