Ausgelöst hat diese Zweifel Martin Asplund, Direktor am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching, berichtet das Magazin „bild der wissenschaft“ in seiner Dezember-Ausgabe. Wie andere vor ihm auch zerlegte der Forscher das Sonnenlicht in seine Spektralfarben und analysierte die Stärke charakteristischer schwarzer Linien im entstehenden Spektrum. Diese sogenannten Fraunhofer-Linien kommen zustande, weil verschiedene Atome und Moleküle unterschiedliche Anteile des Sonnenlichts verschlucken, so dass sie im Spektrum fehlen. Anstatt nun jedoch wie bisher die Anteile der einzelnen chemischen Elemente mit Hilfe eines relativ einfachen, eindimensionalen Modells aus den Messungen zu ermitteln, verwendete Asplund ein sehr viel komplexeres dreidimensionales Modell.
Das Ergebnis zeigte Erstaunliches: Waren Wissenschaftler bisher davon ausgegangen, dass die Sonne zu 98 Prozent aus Wasserstoff und Helium und zu etwa zwei Prozent aus schwereren Elementen wie Sauerstoff, Kohlenstoff und Stickstoff besteht, kam Asplund nur auf 1,2 Prozent schwere Elemente eine Abweichung von dreißig bis vierzig Prozent. Das wiederum hat dramatische Konsequenzen für das Standardmodell, mit dem die Sonnenforscher und auch die meisten Astrophysiker arbeiten. Setzt man nämlich die neuen Werte in das aktuell verwendete Modell der Sonne ein, stimmen beispielsweise die damit vorhergesagten Mengen an Helium nicht mehr mit den tatsächlich beobachteten überein.
Auch der Sonnenaufbau wird infrage gestellt. Im Moment gehen Wissenschaftler davon aus, dass der Kern von einer kugelförmigen Strahlungszone mit einem Radius von etwa 500.000 Kilometern umgeben ist. In diesem Bereich wird die Energie, die im Kern erzeugt wird, als Strahlung nach außen geleitet. Auf diese Zone folgt dann weiter außen die sogenannte Konvektionszone: Ab hier transportieren heiße Gasblasen die Energie weiter sie steigen zur Oberfläche auf, kühlen dort ab und sinken wieder nach unten.
Der Grund dieser Zone, haben genaueste Messungen mit Hilfe von Schwingungen des Sterns gezeigt, liegt 200.000 Kilometer unter der Sonnenoberfläche, ein Wert, der auch vom bisherigen Modell vorhergesagt wurde. Mit Asplunds Werten erhält man jedoch 10.000 Kilometer weniger, und zudem wäre der Kern nicht 15,67 Millionen Grad heiß, sondern 190.000 Grad kühler undenkbar, sagen die Helioseismologen, die für die Schwingungsmessungen zuständig sind. Und damit hören die Probleme noch nicht auf: „Die solare Häufigkeit ist einer der Ankerpunkte der gesamten Astrophysik und auch entscheidend, wenn man mit Computermodellen die Entwicklung von Sternen berechnet“, erläutert Asplunds Kollege Achim Weiss in „bild der wissenschaft“.
Stimmen also die neuen Zahlen nicht? Ganz so einfach scheint es nicht zu sein, denn während sie zwar einerseits neue Probleme aufwerfen, lösen sie andererseits auch bisher nicht beantwortete Fragen. So erhielten Forscher bislang immer zwei unterschiedliche Werte, wenn sie den Sauerstoffgehalt der Sonne über die Spektrallinien von Sauerstoffatomen und über diejenigen des Moleküls OH berechneten. Asplunds Ansatz liefert hingegen einheitliche Werte. Auch die im Vergleich zur Sonne geringeren Mengen schwerer Elemente im interstellaren Gas in der direkten Umgebung der Sonne, das Astronomen bisher vor ein Rätsel gestellt hat, lassen sich so erklären.
Momentan sind die Sonnenforscher ziemlich ratlos, wie sie das Dilemma lösen können. Alle Erklärungen oder Fehlerquellen, die schon getestet wurden etwa deutlich mehr Neon auf der Sonne als angenommen oder falsche Annahmen bei der Umrechung der Fraunhoferlinienstärken in die Elementmengen können maximal einen Teil der Abweichungen erklären. Möglich wäre auch, dass Asplunds dreidimensionales Modell, in dem die Konvektion berücksichtigt ist, fehlerhaft ist. Doch der Fehler könnte sich auch an einer Stelle verbergen, die an die im Moment niemand denkt. Sicher ist nur eins, betont Asplund: „Egal, wie die Diskussion ausgehen wird. Sie hat uns dazu gezwungen, unser bisheriges Wissen über die Sonne auf den Prüfstand zu stellen.“