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Schulausflug zu den Sternen

Astronomie|Physik

Schulausflug zu den Sternen
Mit einem Trupp Schüler im Schlepptau wagt sich ein Stuttgarter Lehrer über den großen Teich bis an die Westküste der USA – um von dort den Weltraum zu erkunden.

„Mit zehn Prozent Schwund ist bei solchen Reisen immer zu rechnen“, witzelt Studiendirektor Sven Hanssen mit Blick auf seine Schüler. „Aber noch ist alles okay.“ Es ist ein sonniger Mai-Morgen, dieser erste Tag in Kalifornien. Geduldig stehen die fünf Mädchen und zehn Jungen des Stuttgarter Gottlieb-Daimler-Gymnasiums vor der Bürobaracke ihrer Partnerschule, der German International School of Silicon Valley (GISSV) in Mountain View bei San Francisco. Sie warten auf die langsam aus dem Unterricht trudelnden Schüler. Mit ihnen wollen sie für die kommenden zwei Wochen ein Stück Amerika erleben – vor allem mehr über Astronomie, Raumfahrt und die Unterschiede zu Deutschland erfahren.

Gleich der erste Programmpunkt verspricht, all das zu erfüllen. Insgesamt 28 Jugendliche und zwei Lehrer – die Physiklehrerin der German School Susanne Genz ist dazugekommen – spazieren zum SETI-Institut in Mountain View. SETI steht für „ Search for Extra Terrestrial Intelligence“. Gesucht wird mit Radioteleskopen, die rund 500 Kilometer nordöstlich von hier den Weltraum abhorchen. Doch darum soll es heute nicht gehen. Die Schüler wollen gleich einen öffentlichen „Lunch-Talk“ besuchen, eine in Amerika übliche Art der Öffentlichkeitsarbeit: Ein Forscher referiert, das Publikum lauscht kauend.

Wir allerdings verpassen das Lunch-Spektakel. Der Fußmarsch dauert länger als geplant. Hastig eilen wir in den halb gefüllten Vortragssaal, vorbei an abgegrasten Buffet-Tischen. Doch zum Glück: Man hat auf uns gewartet. Der erste Redner ist Terrence Deacon, Professor für Anthropologie von der University of Berkeley. Für sein Mittagspublikum – überwiegend Männer deutlich jenseits der 50, so wie er selbst – hat Deacon einen Vortrag mit dem Titel „Das Leben vor der Genetik: Autogenese, Information und das äußere Sonnensystem“ ausgesucht.

90 Minuten später ist der Vortrag zu Ende – und alle Schüler sind noch wach. Als nächstes steht eine Institutsbesichtigung an. Auf dem Weg durchs Gebäude machen wir Bekanntschaft mit Lokalprominenz: Eine Frau mit grauer Kurzhaarfrisur und bunter Steppjacke spricht uns an – Jill Tarter, die wohl berühmteste Astronomin Amerikas. „Das ist ja wunderbar, dass heute so viele junge Leute hier sind“, freut sich die 68-Jährige, die erst vor Kurzem die Leitung des SETI-Instituts abgegeben hat. Tarter war sogar Filmvorlage – für die von Jody Foster gespielte Wissenschaftlerin im Science-Fiction-Film „Contact“ von 1997.

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Die Schüler der German School sind längst wieder im Unterricht, als die Stuttgarter endlich in ihr Sandwich beißen. Haben sie etwas von Deacon verstanden? „Nö, nur dass es irgendwie um die Entstehung von Leben ging“, sagt ein 14-Jähriger schulterzuckend. „Aber ja“, meint ein Abiturient. „Ich habe Lust bekommen, ein Computerprogramm zu schreiben, das sich selbst verändert.“ Hanssen kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „ Nennt man das nicht Virus?“

Auf dem Weg zurück zur Deutschen Schule berichtet der Lehrer engagiert über das Programm, das er vor neun Jahren etabliert hat und das hinter dieser Studienreise steht: die SOFIA-Arbeitsgruppe. Ursprünglich ging es nur um jene fliegende Sternwarte SOFIA – ein deutsch-amerikanisches Gemeinschaftsprojekt über das Stratosphären-Observatorium für Infrarot-Astronomie. Die AG ist seit 2004 dank Hanssens Kontakt zum Institut für Raumfahrtsysteme der Universität Stuttgart ganz offiziell SOFIA-Partner. Die Schüler verfolgen alle Forschungsflüge, werten Daten aus und haben sogar ein Modell im Maßstab 1 zu 50 nachgebaut. Zieht dieses Programm nur bei Mathe- und Physik-Assen? „Oh nein“, winkt Hanssen ab. „Astronomie hat etwas Ästhetisches. Und die Bilder, die wir mit unserem 12-Zoll-Teleskop einfangen, begeistern alle.“

Ortswechsel: Es ist kalt und windig. Vom sonnigen Kalifornien ist auf dem höchsten Punkt der Bay Area nichts zu spüren: dem Lick-Observatorium auf dem Mount Hamilton in 1300 Meter Höhe. Bei schönem Wetter schweift der Blick über das am Fuß des Berges liegende San Jose bis nach San Francisco. Heute sind allerdings nur dicke Wattewolken zu sehen. Sie verleihen dem Gelände, auf dem verstreut Kuppelgebäude und Wohnbaracken stehen, etwas Mystisches.

Wir huschen schnell aus der windigen Kühle in eines der Gebäude, wo uns Elinor Gates empfängt. Sie ist eine von 15 Wissenschaftlern, die das ganze Jahr über auf dem Mount Hamilton leben und arbeiten. Zur Einstimmung erzählt sie, was es heißt, an so einem ungewöhnlichen Ort zu wirken: Seit 1998 gab es erst einen einzigen Winter, in dem sie nicht Schnee schippen musste, schon zweimal habe sie einen Berglöwen gesehen, und der Wind sei mit über 150 Kilometer pro Stunde manchmal so heftig, dass er die Türen aus den Angeln reißt.

Neun Teleskope haben hier ihr Zuhause, vier davon sind regelmäßig im Einsatz. Drei sehen wir uns genauer an. Das 40-Zoll-Anna-Nickel-Teleskop zeigt uns Elinor Gates als Erstes. Über eine steile Wendeltreppe geht es in die kleine Nordkuppel des Hauptgebäudes hinauf. Es riecht muffig. Kein Wunder – das Dach stammt aus dem Jahr 1881. Oft regne es sogar hinein, erzählt Elinor. Das Teleskop selbst sei jedoch erst 34 Jahre alt und diene hauptsächlich der Lehre: Jüngst wurde es so aufgerüstet, dass die Studenten der acht verschiedenen Universitäten von Kalifornien direkt von ihrem Campus aus per Computer Zugang haben.

Dann fragt Elinor Gates, ob die Kinder den Unterschied zwischen einem Refraktor und einem Reflektor kennen. Betretenes Schweigen. Hanssen zischt seine Schüler an: „Das wisst ihr!“ Aber die Astronomin ist schneller: Ein Reflektor-Teleskop besteht aus Spiegeln, ein Refraktor-Teleskop hingegen hat Linsen, die das Licht brechen. Hanssen schüttelt ob der Schüchternheit seiner Zöglinge den Kopf. Vielleicht liegt ihnen noch die einstündige Autofahrt im Magen. Zum Observatorium führt eine Landstraße mit 365 Kurven – „eine für jeden Tag im Jahr“, scherzt die Astronomin Gates.

Wir laufen weiter zum Teleskop Nummer 2. Unsere Gruppe betritt das riesige Gebäude. „Wow“, „oh“, und „cool“ entfährt es den Schülern – passende Kommentare für den 145 Tonnen schweren 120-Zoll-Shane-Reflektor, das „Arbeitspferd“ des Observatoriums auf dem Mount Hamilton. Die Forscher arbeiten die meiste Zeit mit diesem Gerät. Aktuell klassifizieren sie damit Supernovae.

Wenig später sitzen wir auf der Besuchergalerie der mächtigen Kuppel. Als Elinor Gates zu ihrem Vortrag ansetzt, hallt ihre Stimme wie in einer Kathedrale über unsere Köpfe hinweg. Begeistert berichtet sie, wie man Ende der 1950er-Jahre das Gerät nutzte: „Man musste vor allem schwindelfrei sein“, sagt sie. Damals wurden die Wissenschaftler mit einem Fahrstuhl nach oben direkt an den Primärfokus des Teleskops transportiert. „Wenn ich früher meinen Kopf hineinsteckte, sah ich eine schwarze Sternensuppe“, erinnert sich die Forscherin. Ganz und gar nicht romantisch sei es gewesen, sich bei Eiseskälte – in eine dicke Jacke gewickelt und mit dem Logbuch in der Hand – die Nacht um die Ohren zu schlagen. Heute muss keiner mehr dort hoch. Die Forscher können „von unten“ in den Himmel schauen – und zwar immer besser dank Elinor Gates‘ Forschungsprojekt. Sie arbeitet an einer Technik, bei der Lichtpulse einer bestimmten Wellenlänge in den Himmel geschickt werden, um atmosphärische Störungen zu minimieren.

Dann führt sie uns zum höchsten Punkt des Gebäudes. Wir steigen über Treppen ins Freie, umrunden die Kuppel und tapsen dann hinunter in den Bauch des Planetariums. Der Geruch von Schmieröl wird intensiver. Schließlich bleibt Elinor Gates vor einem roten Metallmonstrum stehen – einer Vakuumkammer. Darin wird der Shane-Spiegel alle drei Jahre neu beschichtet. Zunächst trennen die Wissenschaftler die Aluminiumhaut mit Salzsäure ab, neutralisieren die Säure anschließend mit Kaliumlauge und ziehen danach in einem Vakuum von 10–6 Torr wieder Aluminium auf. Ganze 15 Gramm des Leichtmetalls genügen.

Wir spazieren zurück zum Hauptgebäude, um Teleskop Nummer 3 unter die Lupe zu nehmen, den 125 Jahre alten Lick-Refraktor. Das 20 Meter lange astronomische Relikt steht in einem mit edlem Rotholz vertäfelten Saal – wie ein Requisit aus einem Harry-Potter-Film. Alles erinnert an Hogwarts, umso mehr, als Elinor Gates wie von Geisterhand den Fußboden fünf Meter hochfahren lässt, um die hohe Auswuchtung des elf Tonnen schweren Apparats zu demonstrieren.

Inzwischen ist es Freitag geworden. Wie fast jeden Morgen haben die Stuttgarter Kinder Unterricht an der German School. „ Das ist total prima“, schwärmen Zelal und Anna. „Die Klassen sind viel kleiner!“ Auch die 14-jährige Oydin ist begeistert, vor allem, weil die Schüler hier Laptops benutzen dürfen. „Die hätte man bei uns gleich konfisziert“, fügt Nico hinzu. Heute ist für die Gruppe der letzte Schultag. Im Anschluss an das Wochenende werden die Schüler weiter Richtung Los Angeles fahren.

Noch ein „süßes Stückle“ vom Schulstand, wie Hanssen das Gebäck auf Schwäbisch nennt, und dann geht es gestärkt zum NASA Ames Research Center in Mountain View. Am Eingang begrüßt uns Jürgen Wolf. Er ist Leiter der deutschen SOFIA-Gruppe bei NASA Ames. Während wir über das kleinstadtgroße Gelände spazieren, verrät er kopfschüttelnd, dass unser Besuch fast Opfer von Sparmaßnahmen geworden wäre. 134 E-Mails zwischen ihm und dem NASA-Hauptquartier konnten das verhindern.

Und so sitzen wir in der Abteilung „Supercomputer“ und starren gebannt auf eine Wand aus 128 Displays, mit denen die Rechenkünste der schnellen NASA-Computer visualisiert werden. Plötzlich ergießen sich alle sieben Weltmeere über die Monitore. In Rot- und Orangetönen leuchten die unterschiedlichen Temperaturen auf, während die Ozeane gegen schwarz-braune Kontinentalplatten wabern. Schülerhände mit Handy-Kameras schnellen in die Luft. Wir hören: Diese Leistung sei dem NASA-Supercomputer Pleiades zu verdanken, weltweit Nummer 14 in Sachen Schnelligkeit. Pleiades schaffe 1015 Rechenoperationen pro Sekunde, das entspräche ungefähr der Leistung von 100 000 Schullaptops. Ein Raunen geht durch das „Kino“.

Pleiades selbst löst allerdings kaum Begeisterung aus: Hunderte von Rechnern hinter Kästen, die aussehen wie Cola-Automaten. Dazu ist es laut und kalt. Es geht weiter zur nächsten Station, den Simulationslaboren. Auf dem Weg frage ich, ob sich einer der Schüler vorstellen könne, hier zu arbeiten. „ Klar“, platzt einer forsch heraus. „Wenn das Geld stimmt!“ Nach dem Gehalt unseres nächsten Referenten zu fragen, traut sich allerdings niemand. Mit indischem Akzent erzählt uns Girish Shashad, dass Flughäfen oft veraltete Computeranlagen besitzen und es notwendig sei, neue Technologien sicher und kostengünstig zu testen. Dann führt er uns in einen kreisrunden Raum, der aussieht wie ein Kontrollturm. „Fenster“ an der Wand öffnen einen 360-Grad-Blick in die Geschäftigkeit eines modernen Flughafens. Es ist eine Simulation des Los Angeles World Airport: Auf einer der Landebahnen rollt ein Airbus auf uns zu, Gepäckwagen bahnen sich ihren Weg. Ehe Shashad uns entlässt, erklärt er uns, dass die Anlage beim Umbau des Chicagoer Flughafens half. Neun weitere US-Flughäfen kann er simulieren.

Kurz danach sitzen wir im Konferenzraum der SOFIA-Gruppe. Es ist 17 Uhr, und die Schüler wirken müde. Doch der letzte Referent hält uns mit einer flotten Präsentation bei Laune – auch wenn die Schüler wohl schon vieles davon wissen. Etwa dass das SOFIA-Teleskop das größte mobile Gerät seiner Art mit einem Spiegeldurchmesser von 2,70 Metern ist, im Rumpf einer umgebauten Boeing 747 steckt und in Höhen von 12 bis 14 Kilometern den Weltraum absucht. Denn so weit oben stört kein Wasserdampf die Infrarot-Strahlung.

In der folgenden Woche werden die Schüler das Flugzeug besichtigen, das in der Nähe von Los Angeles auf dem NASA Dryden Flight Research Center steht. Mitfliegen – ein heimlicher Wunsch Hanssens – dürfen sie leider nicht. Aber dafür zeigt ihnen Herr Wolf hier und jetzt, was für die Vorbereitung eines solchen Einsatzes nötig ist. Zunächst stellt er ein neues Teleskop zu Testzwecken für Kameras und Software vor und führt uns dann ins Umweltlabor. „Denn alles, was in die Luft geht, muss zunächst geprüft werden.“

Wir gruppieren uns um einen Kasten mit Glastür. Es ist eine Vakuum- Temperaturkammer, die Flugbedingungen in zwölf Kilometer Höhe, bei minus 50 Grad Celsius und einem Unterdruck von 0,1 Bar, simulieren kann. Darin: ein Becher mit Wasser und ein leicht aufgepusteter Latexhandschuh. Wenig später – als der Kasten die SOFIA-Flugkonditionen erreicht hat – ist das Wasser auf 55 Grad Celsius erhitzt, und der Handschuh hat sich auf das Dreifache seiner Ausgangsgröße ausgedehnt.

Draußen weht ein frischer Wind, und die untergehende Sonne taucht das Gelände der NASA in warme Gelbtöne. Was war das Beste bisher? Daniel, der nach seinem Abitur auf einen Studienplatz in Luft- und Raumfahrttechnik hofft, überrascht mit: „Der SOFIA-Vortrag – echt klasse, das auf Englisch zu hören und fast alles zu verstehen.“

Nächster Treffpunkt: Houge Park mitten in einem Wohnviertel von San Jose. Dort veranstaltet die Astronomische Gesellschaft der Stadt um 21 Uhr eine „Stargazing Party“ – ein würdiger Abschluss für das Nordkalifornien-Programm der Stuttgarter Schüler. Beim Anblick von einem Dutzend aufgebauter Teleskope gerät Sven Hanssen ins Schwärmen. Er referiert begeistert aus dem Stegreif über den Sternenhimmel von San Jose und bewundert wenig später Mondkrater und Saturnringe aus kalifornischer Perspektive. Und was steht für ihn in den Sternen? Es kommt eine typische Hanssen-Antwort: „Am Montag alle Kinder und Koffer wieder in den Bus kriegen!“

Nachtrag: Nicht 90 Prozent, sondern 100 Prozent der Schüler sind wieder in Stuttgart angekommen. Das Gepäck auch. Und Sven Hanssen darf im Herbst 2013 bei SOFIA mitfliegen. ■

bdw-Korrespondentin Desirée Karge fühlte sich bei der Recherche für die Reportage an ihre eigene Schulzeit erinnert – vor allem, wenn die Schüler nur zögernd Antwort gaben.

von Désirée Karge

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