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Testfall Lutetia

Astronomie|Physik

Testfall Lutetia
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Lutetia hat einen schweren Kern. Am 10. Juni 2010 näherte sich die Raumsonde Rosetta dem kompakten Asteroiden. (Foto:Esa 2010 MPS for OSIRIS Team)
Die Kometensonde Rosetta ist am Planetoiden Lutetia vorbeigeflogen. Ihre Schnappschüsse künden von einer rätselhaften Welt.

Generalprobe für Rosetta: Am Abend des 10. Juli 2010 passiert die Raumsonde zum letzten Mal einen Kleinplaneten, bevor sie 2014 ihr Ziel erreichen wird, den Kometen Tschurjumow-Gerasimenko. Im Darmstädter Kontrollzentrum der ESA würdigt die Europäische Weltraumbehörde den wichtigen Moment für ihre milliardenschwere Vorzeigemission mit einem Empfang. Darmstadt ist einen Sommerabend lang Zentrum der europäischen Planetologie. Viele bekannte Gesichter aus dem Management der ESA und vom Rosetta-Team sind zu Gast. Zeitgleich ringt in Südafrika die deutsche Fußball-Elf mit dem Team von Uruguay um den dritten Platz in der Weltmeisterschaft. Abwechselnd verfolgen die Gäste die Live-Bilder aus dem Fußballstadion und die eintreffenden Schnappschüsse aus dem Planetoidengürtel. Zwei Top-Ereignisse, getrennt durch 455 Millionen Kilometer.

Für die ESA geht es hauptsächlich um einen Praxistest der Bordsysteme vor der Ankunft am Kometen. Die vielen Planetenforscher im Darmstädter Kontrollzentrum wollen dagegen die ersten Bilder und Daten vom Planetoiden Lutetia in Augenschein nehmen. Denn Lutetia, obwohl seit 150 Jahren bekannt (siehe Kasten „Paris im Planetoidengürtel“) ist den Forschern immer noch ein Rätsel. Rita Schultz, Projektwissenschaftlerin der Rosetta-Mission, erklärt den Gästen, dass kein Experte bislang weiß, woraus Lutetia besteht: Ist sie reich an Kohlenstoff, also ein Planetoid vom C-Typ? Oder ist sie ein eisenreiches Exemplar vom Typ M? In diesem Fall wäre Lutetia mit den metallischen Meteoriten verwandt und wahrscheinlich ein Fragment des Metallkerns eines zerbrochenen größeren Planetoiden. Schultz hofft, dass Lutetia sich bei dem fernen Blind Date als Typ C entpuppen wird, denn damit wäre sie aus dem ursprünglichen Baumaterial der Planeten zusammengesetzt und die Forscher könnten mehr über die Entstehung des Sonnensystems lernen.

Stresstest – 11 Jahre lang

Rosettas Bordkamera heißt OSIRIS (Optical, Spectroscopic, and Infrared Remote Imaging System) und hat ein Weitwinkel- sowie ein Teleobjektiv. Mit 72 Zentimeter Brennweite und 9 Zentimeter Öffnung würde die Teleoptik als kleineres Amateurfernrohr durchgehen. Auch ihr lichtempfindlicher Sensor hat gerade 4 Millionen Pixel – für irdische Kameras ist das eher untere Mittelklasse. Doch der Vergleich mit solchen Instrumenten hinkt: OSIRIS ist für den Aufenthalt im Weltraum ausgelegt. Einen solchen Stresstest würde Kaufhausware nie elf Jahre lang überstehen – so lange dauert Rosettas Mission. Das Kamera-Instrument entstand aus einer Kooperation des Max-Planck-Instituts für Sonnensystemforschung (MPS) und des Deutschen Zentrums für Luft und Raumfahrt. Hauptverantwortlich für OSIRIS ist Holger Sierks, der schon früh am Abend erste Fotos zeigt. Auf ihnen ist Lutetia noch Zehntausende Kilometer entfernt. Doch die unregelmäßige Gestalt des Kleinplaneten ist schon deutlich zu erkennen, auch riesige Krater sind während des Anflugs sichtbar.

Unterdessen macht die deutsche Elf eine gute Figur – einen anfänglichen Rückstand hat sie wieder ausgeglichen. „Wir haben aus unseren Fehlern gelernt“, sagt Holger Sierks. Er meint die Fehlfunktion bei Rosettas Vorbeiflug am Planetoiden Steins vor knapp zwei Jahren. Der Tele-Kanal der Bordkamera hatte sich im entscheidenden Moment abgeschaltet, die Fotos von Steins blieben weit unter den Möglichkeiten. Diesmal scheint es besser zu laufen: Je näher die Sonde kommt, umso detailreicher werden die Bilder. Sie zeigen eine von Kratern übersäte Welt, die auf eine Milliarden Jahre alte Oberfläche schließen lässt. In ihrer größten Ausdehnung ist Lutetia etwa 130 Kilometer lang. Die genaue Gestalt müssen die Bildauswerter noch bestimmen. Einige der Krater haben Durchmesser von über 20 Kilometern: Die Einschläge müssen den Planetoiden fast zertrümmert haben.

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Mächtige felsbrocken

OSIRIS ist der Star des Abends. Die Lutetia-Porträts, geschossen bei einer Minimaldistanz von 3160 Kilometern, sorgen für reichlich Jubel. Sie zeigen bis zu 50 Meter kleine Oberflächendetails. Sierks weist auf mächtige Felsbrocken hin, die Rosetta an einem Kraterhang abgelichtet hat: Ihre Ausmaße entsprechen ganzen Wohnblöcken. Vergleichbare Brocken hatte eine NASA-Sonde auf dem Planetoiden Eros entdeckt (bild der wissenschaft 1/2001, „Rendezvous mit Eros“). Unterhalb desselben Kraters auf Lutetia sieht man Furchen und lineare Strukturen, ähnlich wie man sie auf dem Mars-Trabanten Phobos findet (bild der wissenschaft 9/2010, „Mission Mars-Mond“). Den Planetologen steht viel Interpretationsarbeit bevor – auch bei Phobos rätseln sie noch, wie die Strukturen entstanden sein könnten. Plötzlich ertönt lauter Jubel: Der Siegtreffer des Stuttgarter Kickers Sami Khedira sichert Deutschland den dritten Platz. In vier Jahren, wenn Rosetta ihr Finale am Kometen Tschurjumow-Gerasimenko erlebt, wird Khedira vielleicht weitere WM-Tore schießen.

Ob Lutetia vom Typ C oder M ist, können die Forscher allein anhand der Fotos nicht klären. Benötigt werden dazu weitere Daten, insbesondere Spektren, die Rosetta im Vorbeiflug gemessen hat. Deren Auswertung wird noch einige Zeit dauern. Auch die mittlere Dichte, die sich aus Radio- und Bilddaten ermitteln lässt, ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal. Vielleicht gibt eine aktuelle Studie dazu einen Fingerzeig: Zusammen mit Kollegen bestrahlte der ESA-Physiker Pierre Vernazza bestimmte Meteoriten mit Ionen, um die „Verwitterung“ durch den Sonnenwind zu simulieren. Dann maß er die Infrarotspektren des Himmelsgesteins. Es zeigte sich, dass die Lutetia-Spektren und die von sogenannten Enstatit-Chondriten gut übereinstimmen. Folgt man Vernazza, so könnte Lutetia der Mutterkörper dieses Meteoriten-Typs sein, der recht selten ist und das Mineral Enstatit enthält (der „ Neuschwanstein-Meteorit“ ist ein bekanntes Beispiel, siehe bild der wissenschaft 1/2004). Demnach wäre Lutetia eine Unterklasse des M-Typs – und uns einst viel näher gewesen als heute. Sie wäre quasi eine Ex-Nachbarin der Erde. ■

von Thorsten Dambeck

Paris im Planetoidengürtel

Vor der Elektrifizierung konnte man Himmelskörper sogar von einer Großstadt aus aufspüren – Lichtverschmutzung war kein Problem. Die Entdeckung von (21) Lutetia gelang beispielsweise Hermann Goldschmidt am 15. November 1852 in Paris. Die Zahl in Klammern besagt, dass Lutetia der 21. Kleinplanet war, den die Astronomen in ihren Katalog aufnahmen.

Goldschmidt war der Sohn eines Frankfurter Kaufmanns. 1852 logierte er bereits seit einigen Jahren an der Seine. Zunächst hatte Goldschmidt sich als Kunstmaler versucht. Doch ein Vortrag des Pariser Astronomen Urbain Le Verrier, der sechs Jahre zuvor an der Entdeckung des Neptun beteiligt war, begeisterte ihn für die Himmelsforschung. Aus dem Verkauf zweier Bilder finanzierte Goldschmidt ein kleines Fernrohr – ähnlich leistungsfähig wie sie heute als preiswertes Spielzeug zu Weihnachten verschenkt werden. Für Goldschmidt war die Entdeckung von Lutetia das astronomische Gesellenstück. Obwohl er nie offiziell am Observatorium von Paris angestellt war, avancierte er in den folgenden Jahren zum erfolgreichsten Planetoidenjäger seiner Zeit: Insgesamt 14 Exemplare kamen ihm ins Visier, zuletzt 1861. Im selben Jahr erhielt er die Goldmedaille der Britischen Royal Astronomical Society. Der Planetoid Lutetia bekam den Namen seines Entdeckungsorts, in seiner antiken Version.

Bis heute ist die Zahl der bekannten Planetoiden vor allem dank automatischer Suchverfahren stark gewachsen: Fast eine Viertelmillion von ihnen sind mittlerweile nummeriert, hinzu kommt eine ähnliche Zahl von Objekten, deren Bahnen noch nicht so gut bestimmt sind.

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