Die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Beschleunigung an einem Ort auftritt, kann man berechnen, sagt Scherbaum. Und zwar mit einem aufwendigen Verfahren mit sperrigem Namen, der “probabilistischen seismischen Gefährdungsanalyse” (genaueres dazu finden sie beispielsweise hier). Es funktioniert folgendermaßen: Zunächst wird die Wahrscheinlichkeit dafür bestimmt, dass ein Erdbeben einer bestimmten Stärke an einer Störungszone innerhalb eines Jahres auftritt. Anschließend werden die resultierenden Beschleunigungen am Standort ausgerechnet. Schließlich muss man für jeden Beschleunigungswert die Wahrscheinlichkeit für alle denkbaren Erdbeben aufsummieren. So erfährt man schließlich, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine bestimmte Beschleunigung innerhalb eines Jahres überschritten wird. “In Deutschland wurde das Risiko aber bislang nicht nach dieser Methode bestimmt”, sagt Scherbaum.
Derzeit wird die sogenannte “deterministische Gefährdungsanalyse” angewandt. Sie geht vom Konzept des schlimmsten denkbaren Erdbebens aus. In der Praxis wird dafür meist das stärkste Erdbeben gewählt, das in der Vergangenheit aufgetreten ist. Anschließend wird noch einen Sicherheitsspielraum aufgeschlagen. “Bei dieser Betrachtungsweise ignoriert man aber sogenannte ‘Black-Swan-Ereignisse’, die sehr selten, aber nicht unmöglich sind”, sagt Scherbaum. Er glaubt, dass sich Menschen bei der Frage, was im ungünstigsten Fall passieren kann, zu leicht von ihren eigenen Erfahrungen irreführen lassen ? ein Phänomen, das Psychologen Verfügbarkeitsfalle nennen. Da das stärkste bekannte Beben in Japan in der Vergangenheit die Magnitude 8,4 erreichte, wurde beim Bau der Kraftwerke davon ausgegangen, dass es auch in Zukunft keine stärkeren Beben geben wird. Ein Trugschluss, wie sich nun zeigte. “Es ist schlicht eine Illusion, zu glauben, dass man die Gefährdung mit einem einzigen Szenario sicher abschätzen kann. Das ist nun in Japan auf tragische Weise klargeworden”, sagt Scherbaum.
Dass sich ein zehn Meter hoher Tsunami ereignen könnte, hatte dort offenbar niemand berücksichtigt. “Wenn man diese Möglichkeit bei der Planung einbezogen hätte, hätte man sehr schnell gemerkt, dass man ein Problem hat”, sagt Scherbaum. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Notstromaggregate im Kraftwerk Fukushima I unterirdisch einzubauen, damit die schlimmste denkbare Störung, der Stromausfall, auch bei einem Tsunami nicht hätte eintreten können.
Wie das Risiko für die deutschen Kraftwerke nun neu bestimmt werden könnte, zeigt ein Blick in die Schweiz. Das Nachbarland legte bereits 2007 die Pegasos-Studie vor, in der die Erdbebengefährdung für die vier eidgenössischen Kernkraftwerke mit der probabilistischen Methode neu bewertet wurde. Darin heißt es: “Die standortnahen Erdbeben mit relativ kleinen Magnituden zwischen 5 und 6 [bestimmen] die Gefährdung stärker (?) als weiter entfernte starke Beben mit Magnituden größer als 7.” So etwas wie Christchurch könnte also auch in der Schweiz passieren, heißt das wohl. Als Konsequenz aus dem Bericht werden die Kraftwerke nun nachgerüstet, in fünf Jahren sollen die Arbeiten beendet sein, melden Schweizer Zeitungen.
Letztlich müsse hierzulande die Gesellschaft entscheiden, was sie als sicher erachtet, meint Frank Scherbaum: “Risiko ist nicht nur das, was wir als Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer bestimmten Gefahr errechnen, sondern es ist ein gesellschaftliches Konstrukt.” Welche Gefahren akzeptabel sind, ist letztlich keine wissenschaftliche Frage mehr.