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Wie sich das Universum selbst erschuf

Astronomie|Physik

Wie sich das Universum selbst erschuf
Im Anfang war die Zeitschleife.

Es kann ganz schön verstörend sein, jeden Morgen in der exakt gleichen Welt aufzuwachen, wie der von Bill Murray gespielte Wetteransager Phil Connors im pennsylvanischen Provinzkaff Punxsutawney zu seinem Entsetzen erleben muss. „Und täglich grüßt das Murmeltier“ heißt die deutsche Fassung des 1993 in den USA gedrehten Kultfilms, der mit viel Witz das Thema Zeitschleife auslotet.

Murmeltier-Raumzeiten gibt es auch – kein Witz! – in den Weltmodellen der Allgemeinen Relativitätstheorie. Und damit erschuf Gott womöglich unser Universum.

Gott ist John Richard Gott III und arbeitet nicht im Himmel, sondern an der Princeton University in New Jersey. Und sein Helfershelfer ist nicht Luzifer, sondern der Chinese Li-Xin Li. Auf der Grundlage von Albert Einsteins Feldgleichungen ersannen die beiden Physiker ein raffiniertes Ursprungsmodell unserer Welt, das sowohl die Schwierigkeit einer „Entstehung aus dem Nichts“ als auch das gleichermaßen problematische Postulat einer Ewigkeit der Zeit vermeidet, und das doch ein durchgängiges Ursache-Wirkungs-Gefüge voraussetzen kann. Die abenteuerlich anmutende These der beiden Forscher: Das Universum schuf sich mit Hilfe einer Zeitschleife selbst – also quasi durch einen Rückgriff in seine eigene Vergangenheit. „Das Universum ist gewissermaßen seine eigene Mutter“, pointiert es Gott. „Es hat einen Anfang, aber kein frühestes Ereignis.“

Gott wurde 1947 in Louisville, Kentucky geboren. Sein Vater leitete ein Krankenhaus, seine Mutter den Kentucky-Gartenclub. Gott kam 1969 zur Promotion nach Princeton und kehrte 1976 nach Postdoc-Aufenthalten am California Institute of Technology und in Cambridge dorthin zurück. Er zeigte schon früh wissenschaftliche Neigungen. Als er als Dreijähriger vom Baum fiel, soll er gesagt haben: „Ei, die Schwerkraft zieht einen kräftig hinab.“ Mit acht Jahren sah er eine Himmelskarte im Buchladen, seither ist er begeisterter Sternengucker. „Ich habe noch immer mein 3-Inch-Teleskop und betrachtete 2003 damit den Mars in Erdnähe.“ Auch den Venustransit vor der Sonne im Juni 2004 hat er begeistert verfolgt. In der Physik machte er nicht nur mit Arbeiten über die Herkunft des Mondes, die Struktur des Universums und die Kosmische Hintergrundstrahlung auf sich aufmerksam, sondern auch mit scheinbar exotischen Themen wie der Entstehung von Materie-, Antimaterie- und Tachyonen-Universen, Zeitreisen mit Kosmischen Strings, Lebensverlängerungen beim Einsturz in ein Schwarzes Loch mit Hilfe einer Art Rettungsweste und statistischen Analysen zur Lebensdauer und dem Ende der Menschheit.

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Das klingt teilweise eher nach Science-Fiction, und Gott zeigt hier auch keine Berührungsfurcht: „Science-Fiction hat häufig interessante wissenschaftliche Forschungen angestoßen“, sagt er. Und während beispielsweise Zeitreisen fantastisch erscheinen, „ wollen Wissenschaftler wissen, ob so etwas im Prinzip möglich ist. Wir wollen verstehen, wie die Gesetze der Physik unter extremen Bedingungen funktionieren.“ In seinem populärwissenschaftlichen Buch „Zeitreisen durch Einsteins Universum“ beschreibt Gott nicht nur die harte Physik, sondern auch, wie die zukunftsträchtige Literatur zahlreiche Ideen schon vorweggenommen hat. „Die menschliche Neugier ist sehr wichtig. Als Art gibt es uns erst seit 200 000 Jahren. Das ist nicht besonders lang. Tyrannosaurus rex existierte beispielsweise 2,5 Millionen Jahre. Aber in dieser kurzen Zeit war eine der erstaunlichen Leistungen, unsere Stellung im Universum zu erkennen – und wir verstehen einiges von den Gesetzen der Physik. Darauf sollte jeder stolz sein.“

Mitte der neunziger Jahre begann sich Gott über den Ursprung des Universums Gedanken zu machen. Die quantenkosmologischen Modelle von Stephen Hawking, James Hartle und Alexander Vilenkin, die einen absoluten Anfang des Kosmos zu beschreiben versuchten, befriedigten ihn nicht. „Das Universum buchstäblich aus ‚nichts‘ entstehen zu lassen, scheint schwierig zu sein. Wie soll ‚nichts‘ von den physikalischen Gesetzen wissen? Schließlich beginnt jedes Modell, das aus dem Nichts tunnelt, mit einem Quantenzustand, der den Gesetzen der Physik gehorcht – und der ist nicht nichts. Tatsächlich kann der Versuch, das Universum aus nichts zu erschaffen, etwas eigenartig anmuten, dürfte „nichts“ doch definitionsgemäß nicht existieren. Vielleicht ist die Frage, wie das Universum aus nichts geschaffen wurde, einfach falsch gestellt.“ Doch, so überlegte Gott, „vielleicht war das Universum gar nicht aus nichts entstanden. Vielleicht entstand es aus etwas, und dieses Etwas war es selbst. Doch wie könnte das geschehen sein? Durch eine Zeitschleife.“

Auch diese Idee einer Erzeugung des Universums aus seiner eigenen Zukunft ist in der Science-Fiction bereits durchgespielt worden. Stanislaw Lems legendärer Raumfahrer Ijon Tichy beschreibt in der 18. Reise seiner „Sterntagebücher“ (1971), wie er mit ein paar anderen Wissenschaftlern den Kosmos geschaffen hatte, indem er ein Ur-Atom in die Vergangenheit sandte und es explodieren ließ. Weil bekanntlich zu viele Köche den Brei verderben, ist das Universum bei diesem kreativen Experiment so verpfuscht, wie wir es kennen. In der 20. Reise gerät Tichy dann übrigens selbst in eine Zeitschleife, die er nur zu verlassen vermag, weil er andere unliebsame Kollegen in die Vergangenheit verbannt – wo sie dann als Hiob, Homer, Plato, Aristoteles, Hieronymus Bosch, Leonardo da Vinci, Spinoza und so weiter ihre Spielchen treiben.

Fantasie macht Spass. Doch in der Physik zählen Ideen nur, wenn sie sich in eine quantitative Theorie einbetten lassen. Und das ist bei Zeitschleifen besonders tückisch. Denn überall lauern Zeitparadoxien, deren logische Kapriolen das ganze Unterfangen rasch widersprüchlich, unplausibel oder vollkommen unverständlich zu machen drohen (bild der wissenschaft 7/1998, „Der Mord am eigenen Ahnen“). Damals bekam Gott jedoch unerwartete Unterstützung in Form eines Briefs aus China. Li-Xin Li, ein hoffnungsvoller Student von der Universität Peking, bewarb sich in Princeton um eine Doktorandenstelle. Gott stellte ihn sofort ein – „der beste Vorhersagefaktor für künftige Erfolge in der Forschung sind gute Ergebnisse in bisherigen Forschungsarbeiten, nicht Schulnoten oder Empfehlungsschreiben“ –, denn Li war ihm bereits aufgefallen.

Der junge Mann hatte schon eine Arbeit in der Fachzeitschrift „ Physical Review“ veröffentlicht, in der er zeigte, wie sich mit einer reflektierenden Kugel im Schlund eines Wurmlochs verhindern lässt, dass sich dort unendliche Energiemengen aufstauen und das Wurmloch zerstören. Nicht gerade ein besonders alltagstaugliches Thema, könnte man einwenden – und deshalb kam es Gott gerade recht. Denn Wurmlöcher sind hypothetische „Tunnel durch die Dimensionen“, die sich aus den Gesetzen der Allgemeinen Relativitätstheorie ergeben und im Prinzip überlichtschnelle Fortbewegungen und auch Zeitreisen ermöglichen (bild der wissenschaft 2/2003, „Warp-Antrieb und Wurmlöcher“). Zwar weiß niemand, ob Wurmlöcher wirklich existieren. Aber Stephen Hawking und andere haben zu zeigen versucht, wie die Natur die damit verbundenen Paradoxien verhindern könnte: durch Quanteneffekte, die jede Zeitmaschine zerstören, bevor sie zum Einsatz kommt. Allerdings ist diese von Hawking 1992 aufgestellte „Vermutung zum Schutz der Zeitordnung“ noch nicht erwiesen – und Li gehört zu jenen, die sie nicht akzeptieren und zu widerlegen versuchen.

Mit Gott fand Li einen idealen Mentor und gleichgesinnten Mitarbeiter. „Li-Xin Li und ich trafen uns einmal in der Woche zum Mittagessen, und wir erzählten niemandem, woran wir arbeiteten. Das waren denkwürdige Treffen“, beschreibt Gott die fast schon verschworene Zusammenarbeit. „Bei einem Essen erhielten wir einen Glückskeks, in dem es hieß: ‚Vertrauen Sie Ihrer Intuition. Das Universum lenkt Ihre Geschicke.‘ Wir nahmen das als Zeichen der Ermutigung.“ Zunächst untersuchten die beiden verschiedene Weltmodelle der Relativitätstheorie mit geschlossenen zeitartigen Weltlinien, wie es im Fachjargon heißt – kurz: einer kreisförmigen Zeit. Das hatte erstmals der österreichische Mathematiker Kurt Gödel 1949 getan, als er wie Albert Einstein in Princeton forschte.

Solche Zeitkreise gibt es auch in der Murmeltier-Raumzeit. „In diesem Raumzeit-Szenario können Sie gegen sich selbst Fußball spielen – tatsächlich können Sie in beiden Mannschaften jede Position besetzen und obendrein noch alle Zuschauer stellen“, schmunzelt Gott. Dabei gibt es selbstkonsistente Lösungen, die nicht zu Paradoxien führen. „Wir haben ein Gegenbeispiel zu Hawkings Vermutung gefunden“, sagt Gott. „Quanteneffekte führen nicht automatisch zum Zeitschutz.“ Freilich enthalten die Rechnungen grobe Näherungen und müssen nicht unbedingt realistisch sein, entgegnen Kritiker wie Deborah A. Konkowski von der U.S. Naval Academy in Annapolis. Die Diskussion geht also weiter.

Indessen trieben Gott und Li ihre Überlegungen auf die Spitze, indem sie sie auf die Frage nach dem Ursprung des Kosmos anwendeten: „Das Universum könnte eine Geometrie haben, die es erlaubt, in die Vergangenheit zu gehen und sich selbst zu erschaffen“, ließen sie schließlich die Bombe platzen. Unter dem Titel „Can the Universe create Itself?“ veröffentlichte die renommierte „Physical Review“ tatsächlich die abenteuerlichen Überlegungen. Der Artikel hatte 155 Gleichungen und 187 Literaturangaben. Aber die Grundidee war einfach.

„In unserem Modell gibt es keinen ersten Moment. Jedes Ereignis im frühen Universum hätte Ereignisse, die ihm vorangehen“ , sagt Gott. „Die Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt gekrümmte Geometrien, in denen ein Universum einen Anfang haben kann ohne einen ersten Moment.“ Das geht dann, wenn sich, metaphorisch gesagt, ein Zweig aus dem Stamm der Raumzeit in einer Schleife rückwärts biegt und gleichsam zur Wurzel des Stammes wird – eine Zeitschleife also. „Dies ist ein Modell, in dem das Universum seine eigene Mutter ist. Es ist ein Modell, das mit einer Zeitschleife beginnt“, sagt Gott. „Eine Zeitmaschine arbeitete am Anfang des Universums, aber dann hörte sie auf.“ In ihrem Artikel schreiben Gott und Li: „Zu fragen, was der früheste Zeitpunkt ist, wäre wie die Frage nach dem östlichsten Punkt auf der Erde. Man kann immer weiter und weiter nach Osten um die Erde reisen – es gibt keinen östlichsten Punkt.“

Die Raumzeit der Zeitschleife war nicht heiß, sondern winzig, leer und bitterkalt – fast am absoluten Nullpunkt. Das Vakuum musste ganz bestimmte Eigenschaften besessen haben. Es war ein so genanntes Rindler-Vakuum. Der Name ehrt Wolfgang Rindler, Physik-Professor an der University of Texas, Dallas, der die zugehörige Raumzeit erstmals beschrieben hat. Das Rindler-Vakuum hatte der ebenfalls in Texas forschende Physiker Stephen Fulling 1973 entdeckt. Es hat eine negative Energiedichte. Wenn sich diese mit der positiven Energiedichte durch die enorme Krümmung der Schleife gerade ausglich, blieb überall ein so genannter inflationärer Vakuumzustand mit einer positiven Energiedichte und einem negativen Druck übrig.

Das klingt kompliziert – und ist es auch. Aber Physiker sind damit gut vertraut, denn genau ein solcher Zustand wird seit mehr als zwei Jahrzehnten für die ersten Sekundenbruchteile des Universums angenommen. Die Forscher nennen ihn die Epoche der Kosmischen Inflation. In ihr hat sich der Weltraum exponentiell – das heißt: überlichtschnell – ausgedehnt. Ohne eine solche Aufblähung wäre das Universum nie groß geworden und hätte nicht die Eigenschaften, die wir beobachten können (bild der wissenschaft 12/2001, „Modell Klassik“). Messungen der Kosmischen Hintergrundstrahlung haben die Inflation bislang glänzend bestätigt (bild der wissenschaft 8/2003, „Das erste Licht“). Sobald diese Inflation begann, war die Zeitschleife zu Ende. Die Zeit konnte im Modell von Gott und Li also nicht endlos mit und um sich selbst kreisen.

Das Modell erlaubt recht exakte Vorstellungen: Die Zeitschleife vergrößerte ihren Umfang von zunächst einer Planck-Länge (10–33 Zentimeter) um den Faktor e2R=535,491655… binnen einer Planck-Zeit (10–43 Sekunden). Wenn die Zeitschleife nur eine Milliardstel Sekunde währte, besaß das Vakuum die Planck-Dichte von 5 . 1093 Gramm pro Kubikzentimeter. Das ist die höchste Dichte, die die Physik erlaubt. Bei einer Zeitschleife von 10–36 Sekunden und einem Umfang von 3 . 10–25 Zentimeter (2 . 108 Planck-Längen) wäre die Dichte schon so niedrig, dass die – noch nicht berechenbaren – Quantengravitationseffekte keine Rolle mehr spielen würden. Bei diesen Energien war die Gravitation bereits abgespalten von den übrigen drei Naturkräften, welche Teilchenphysiker mit einer noch nicht bestätigten „Großen Vereinheitlichten Theorie“ („Grand Unified Theory“) mit Supersymmetrie beschreiben (bild der wissenschaft 5/2004, „SUSY, Higgs und Technicolor“). Auch dieses Vakuum-Modell führt zur Inflation.

Überhaupt ist die Länge der Zeitschleife nicht so entscheidend. „Es gibt einen Skalierungsparameter in unserer Lösung, den ‚Radius‘ der Raumzeit“, erläutert Li. „Wenn die Kosmologische Konstante null ist, dann liegt der Parameter in einer selbstkonsistenten Lösung in der Größenordnung der Planck-Länge, aber diese Konstante muss nicht notwendig null sein.“ Auch lässt sich nicht angeben, wie viele Runden die Zeit gedreht hat. „Sie könnte unendlich oft im Kreis gelaufen sein“, meint Li.

Wenn das Modell die Realität trifft – „und wir werden wohl eine funktionierende Theorie der Quantengravitation brauchen, um zu sehen, ob es möglich ist“, räumen die Forscher ein –, hat sich der Kosmos gleichsam selbst am Schopf gepackt und aus dem Sumpf der Nichtexistenz herausgezogen. „Es ist die Ursache seiner selbst. Diejenigen, die in der Vergangenheit argumentiert haben, das Universum müsse entweder eine erste Ursache haben oder seit ewiger Zeit existieren, wussten noch nichts von gekrümmten Raumzeiten. Die Möglichkeit solcher Raumzeiten löst das Problem der ersten Ursache in einer Weise, die vor der Allgemeinen Relativitätstheorie undenkbar gewesen wäre.“

Mit einem Bild lassen sich die abstrakten Gedanken sehr anschaulich machen: Das Universum schuf sich selbst ähnlich wie die beiden sich gegenseitig zeichnenden Hände in der Lithographie „Zeichnen“ des holländischen Künstlers Maurits Cornelis Escher von 1948.

Gott erschuf noch eine andere Veranschaulichung, von der Neil de Grasse Tyson, der Direktor des Hayden-Planetariums in New York, sagte, sie würde wie eine neue Art von Musikinstrument aussehen, ein exotisches Flügelhorn. Gott stimmt zu und schmunzelt: „Es ist ein Horn, das sich selbst spielt!“ Von diesem Horn können weitere „Trichter“ abzweigen, die zu separaten Universen werden. Ein solches Bild von sich gleichsam voneinander abnabelnden Universen ist eine fast zwingende Konsequenz der Theorie von der Kosmischen Inflation. Unser Universum wäre dann sehr wahrscheinlich sehr spät dem weitverzweigten Baum des Kosmos entsprungen, die Zeitschleife wäre demnach unbeobachtbar weit in der Vergangenheit verborgen.

Das Selbsterschaffungsmodell von Gott, dem Menschen, macht Gott, das Überwesen, als Schöpfer überflüssig. Auch deshalb sorgte es für Kontroversen. John Richard Gott III versucht sich aus diesen weltanschaulichen Diskussionen herauszuhalten. „Li-Xin Li und ich haben nie über Theologie gesprochen, wir haben nie irgendwelche theologischen Fragen im Sinn gehabt. Ich würde sehr vorsichtig sein, irgendwelche theologischen Schlussfolgerungen aus unserem Modell zu ziehen. Die Ergebnisse sprechen für sich selbst. Als religiöser Mensch würde ich nicht behaupten, dass das Konzept eines sich selbst erschaffenden Universums keine beunruhigende Vorstellung ist – aber vielleicht sollten wir das Universum auch als beunruhigend empfinden“, überlegt Gott. „Ich bin ein Presbyterianer, ich glaube an Gott. Ich habe immer gedacht, dass man diese demütige Einstellung haben muss.“

Er versteht sein Modell als „allgemeines Paradigma“, das jedes inflationäre Babyuniversen-Modell ergänzen könnte. Er hält es sogar für denkbar, dass intelligente Hochtechnologie-Zivilisationen eine solche Zeitschleife im Labor herstellen können. Außerdem könnte es viele, total voneinander isolierte Multiversen aus zahllosen Einzeluniversen geben. „Jedes Multiversum würde mit einer eigenen Zeitschleife starten und wäre von unserem vollständig getrennt.“

In der Kontroverse von Anfangs- gegen Ewigkeitskosmologien nimmt das Zeitschleifen-Modell eine frappierende Zwischenposition ein. Das macht es als „dritte Möglichkeit“ attraktiv. Seine Exotik ruft freilich auch Skeptiker auf den Plan. Doch handwerkliche Fehler konnte niemand Gott und Li nachweisen. „Wir sollten lieber fragen: Verhindern die Gesetze der Physik, dass das Universum seine eigene Mutter sein kann?“, versucht Gott die Beweispflicht umzukehren.

Wie so oft bei den großen Fragen der Physik und Kosmologie ist freilich auch hier das letzte Wort nicht gesprochen, sondern muss mindestens erst den Jargon der Quantengravitation erlernen, um sich überhaupt verlautbaren zu können. Darauf weist auch Lee Smolin vom Perimeter Institute im kanadischen Waterloo hin: „Das Modell basiert auf der semiklassischen Quantenkosmologie. Das bedeutet, es behandelt Materie und Raumzeit unterschiedlich: Materie wird quantenmechanisch und die Raumzeit klassisch betrachtet. So funktioniert die Idee und ist legitim. Aber in einer vollständigen Theorie der Quantengravitation muss alles quantenmechanisch behandelt werden – Schwerkraft, Raumzeit und Materie. Und in diesem Fall könnten geschlossene zeitartige Kurven nicht erlaubt sein. Ich glaube, dass die Idee nicht funktioniert.“

Weitere Studien zeigten immerhin, dass das Modell auch mit komplexeren Annahmen nicht zusammenbricht. Li berechnete es mit zusätzlichen Feldern, etwa dem elektromagnetischen Feld, das ursprünglich nicht berücksichtigt wurde. Und Pedro F. González-Díaz von der Cambridge University fand weitere Indizien dafür, dass eine Zeitschleife stabil gewesen sein könnte.

Und noch einen grossen Erfolg konnten Gott und Li für sich verbuchen: die Erklärung der Zeitrichtung. Dass sie immer von der Vergangenheit in die Zukunft läuft, scheint zwar eine Binsenweisheit zu sein, ist physikalisch aber keineswegs trivial, sondern sogar äußerst rätselhaft (bild der wissenschaft 12/2003, „ Wenn die Zeit rückwärts läuft“).

„Unser Modell sagt voraus, dass ein Zeitpfeil existiert, der mit unseren Erfahrungen in Einklang ist“, freut sich Li, der zur Zeit am Harvard Smithsonian Center for Astrophysics in Cambridge, Massachusetts arbeitet. Dort forscht er auch über Schwarze Löcher, Gravitationslinsen-Effekte und Gammastrahlen-Ausbrüche, ohne bei dieser Fülle aber seine Hobbies zu vernächlässigen: Fotografieren, Schwimmen, das Brettspiel Go und die Gedanken des Philosophen Tschuang-Tse. „Ich finde alle Arten von Rätseln in Physik und Astronomie interessant“, bekennt Li, der demnächst ans Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching bei München wechseln wird. „Deshalb erweitere ich meine Forschungsgebiete ständig. Doch nichts ist faszinierender als das Wechselspiel von Relativitätstheorie und Quantenphysik.“

Gott und Li haben den Zeitpfeil nicht ins Modell eingebaut. „ Er war implizit im Modell enthalten, aber sein Auftauchen überraschte uns. Er ist eine wichtige Voraussage des Modells, die zu den Beobachtungen passt“, freut sich Gott. Die Erklärung ist, dass die Temperatur in der Zeitschleife am absoluten Nullpunkt liegt. „Damit beginnt das Universum automatisch im Zustand niedriger Entropie, und das ist erforderlich, um den Zeitpfeil hin zu größerer Entropie zu erklären, den wir noch heute beobachten.“ Die Temperatur stieg am Ausgang der Zeitschleife – einem so genannten Cauchy-Horizont – an, und zwar aufgrund eines Quanteneffekts, den der britische Physiker Stephen Hawking in den siebziger Jahren vorausgesagt hatte und der auch zur langsamen Verdampfung Schwarzer Löcher führt. „Die einzige Möglichkeit, ein widerspruchsfreies Modell zu bekommen, ist, wenn die Lichtstrahlen nur in die Zukunft laufen können“, sagt Gott. „Ein Lichtstrahl, der durch die Zweige in den Stamm zurücklaufen könnte, würde die Zeitschleife unendlich oft durchkreisen und sie zerstören. Das wäre dann nicht die Geometrie, mit der wir begonnen haben. Die einzige Art und Weise, eine selbstkonsistente Lösung zu bekommen, ist ein Zeitpfeil, der von der Zeitschleife am Anfang wegzeigt.“

Vielleicht gibt es hier sogar eine Verbindung zur Superstringtheorie, die alle Naturkräfte einheitlich beschreiben kann, aber nur in einer zehn- oder elfdimensionalen Raumzeit. Da wir nur drei Raumdimensionen kennen, müssen die restlichen sechs oder sieben extrem klein sein, kompaktifiziert oder „aufgerollt“, wie die Physiker sagen. „In unserem Modell ist auch die Zeit-Dimension aufgerollt“, zieht Gott eine Parallele. „Wir denken, das passt sehr gut in die Superstringtheorie, aber wir müssen abwarten, ob sie solche Lösungen erlaubt.“

Bis dahin steht den Physikern wohl noch ein weiter, steiniger Weg bevor. Doch immerhin erscheint dieser spannender und aussichtsreicher als Phil Connors Kampf gegen die ständige Wiederkehr des Gleichen im Murmeltier-Kaff Punxsutawney. Und auch den hat er schließlich gewonnen – und die Frau seines Lebens gleich dazu. Rüdiger Vaas■

Ohne Titel

• Wenn die Zeit nicht immer linear war, sondern anfangs kreisförmig in sich selbst zurückgekrümmt, wäre das Universum seine eigene Mutter.

• Dann hätte das Universum zwar einen Beginn, aber keinen ersten Moment.

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Internet

Urknall, Weltmodelle, Philosophie, Mikro- und Makrozeit:

arXiv.org/abs/physics/ 0408111

Einführungen in die Quantengeometrie:

cgpg.gravity.psu.edu/ research/poparticle.shtml

Interview mit John Richard Gott III:

www.science-spirit.org/ articles/Articledetail. cfm?article_ID=270

Homepage von Li-Xin Li:

cfa-www.harvard.edu/~lli/

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