Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Zwerge im Vorgarten

Astronomie|Physik

Zwerge im Vorgarten
Die Milchstraße und der Andromeda-Nebel werden von einigen Dutzend Satellitengalaxien umschwärmt. Astronomen sind den Geheimnissen dieser kosmischen Fossilien auf der Spur, die von der ominösen Dunklen Materie beherrscht werden.

Astronomen sind wie Archäologen: Sie blicken in die Vergangenheit und können nicht einfach Experimente mit früheren Epochen machen. Und sie versuchen, aus den mühsam zusammengeklaubten Spuren komplexe Entwicklungen zu rekonstruieren, die zum Verständnis der Gegenwart beitragen. Ähnlich wie Prähistoriker die Relikte früher Kulturen erforschen, studieren Astronomen die Struktur, Bewegung, Zusammensetzung und Entwicklung der Galaxien. Eva Grebel spricht sogar von einer „ galaktischen Archäologie”: „Die Sterne sind unsere Fossilien”, sagt die Direktorin des Astronomischen Rechen-Instituts der Universität Heidelberg. „Wir wollen mit ihrer Hilfe die detaillierte Entwicklungsgeschichte des Alls rekonstruieren.” Dabei gab es jüngst große Fortschritte.

Indizien der kosmischen Evolution

Zu verdanken sind sie vor allem der einzigen „ kosmoarchäologischen Grabungsstätte”, die im Detail zugänglich ist: der Lokalen Galaxiengruppe. Sie ist unsere weitere kosmische Heimat, zu der auch die Milchstraße gehört (siehe „Gut zu wissen: Die Lokale Gruppe”). „Die Anfänge der Galaxienentwicklung lassen sich in großen Entfernungen studieren – also in frühen Zeiten, nur wenige Millionen Jahre nach dem Urknall”, sagt Eva Grebel. „ Doch dies geht nur mit den leuchtkräftigsten Objekten und sehr eingeschränkter Auflösung. Unverzichtbar aber ist, auch die nähere Umgebung zu erkunden und die Relikte der kosmischen Evolution zu untersuchen. Hier ist die Lokale Gruppe vielversprechend.” Die Astronomie-Professorin betrachtet sie geradezu als Stichprobe der kosmischen Evolution. „Der Vorteil: Die sehr nahen und relativ weit entwickelten Galaxien können mit großer Auflösung inspiziert werden. Anhand der verschiedenen Generationen von Sternen lässt sich ihre Entwicklungsgeschichte ableiten. Und man bekommt fast alle Galaxien ins Visier – auch sehr leuchtschwache.”

Das gilt besonders für die Zwerggalaxien, die Winzlinge unter den Sternsystemen (siehe „Gut zu wissen: Zwerggalaxien”). Sie wurden in den letzten Jahren akribisch untersucht, denn sie ähneln den Bausteinen, aus denen sich die großen Galaxien wie unsere Milchstraße einst gebildet haben. „Keine zwei Zwerggalaxien in der Lokalen Gruppe haben die gleiche Sternentstehungsgeschichte, nicht einmal innerhalb desselben Typs” , sagt Eva Grebel. Sie betont aber auch: „Trotz ihrer Unterschiede zeigen die Zwerge viele gemeinsame Entwicklungstrends.”

Dass die Erforschung der Verhältnisse in der Lokalen Gruppe Schlussfolgerungen für die Evolution der Galaxien insgesamt erlaubt, ergab jüngst eine Studie von Daniel R. Weisz an der University of Washington und seinen Kollegen. Die Forscher verglichen die Zwerge der Lokalen Gruppe mit weiter entfernten, die das Hubble-Weltraumteleskop in einer aufwendigen Durchmusterung inspiziert hatte. Ergebnis: Die fernen Zwerge, deren Distanz zur Lokalen Gruppe bis zu zwölf Millionen Lichtjahre beträgt, haben sehr ähnliche Eigenschaften wie die nahen Zwerge. Die Erforschung der Lokalen Gruppe ist also nicht nur kosmische Heimatkunde. Doch Beobachtungen allein können nicht verraten, wie die galaktische Geschichte verlaufen ist. Dazu sind auch theoretische Modelle und Computersimulationen nötig. Inzwischen ergibt sich ein umfassendes Bild. Die Zwerggalaxien spielen dabei eine Hauptrolle.

Anzeige

Die häufigsten Sternsysteme

Weil die nahen Zwerge die einzigen sind, die sich genau analysieren lassen – quasi Stern für Stern –, ist die Lokale Gruppe auch ein hervorragendes Testfeld für die Entwicklungsgeschichte unseres Universums insgesamt und somit für kosmologische Modelle. Das betont auch Eva Grebel: „Die Zwerggalaxien sind die häufigsten Sternsysteme im Universum. Sie sind wohl die Galaxien, die am stärksten von der Dunklen Materie dominiert werden.” Diese sogenannte Kalte Dunkle Materie (Cold Dark Matter, CDM) macht ein Mehrfaches der gewöhnlichen Materie aus. Sie ist jedoch unsichtbar, da sie nicht der elektromagnetischen Wechselwirkung unterliegt, also nicht leuchten kann. Dass es sie gibt, verrät nur die Wirkung ihrer Schwerkraft. Die sichtbare Materie – vor allem Gas und Sterne – ist also im Universum in der Minder- heit. Damit nicht genug: Hauptbestandteil im All ist eine noch ominösere Dunkle Energie. Die einfachste Erklärung dafür ist Albert Einsteins Kosmologische Konstante L (sprich: Lambda), eine Naturkonstante – aber es gibt noch verrücktere Möglichkeiten (bild der wissenschaft 4/2010, „ Das Universum ist ganz anders”).

Aus dem kosmologischen Standardmodell, auch LCDM-Modell genannt, folgt eine klare Voraussage: Während die Dunkle Energie überall gleich ist, muss es eine Fülle von Regionen mit einer erhöhten Dichte an Kalter Dunkler Materie gegeben haben und noch geben. Diese geisterhaften Dunklen Halos waren die Kondensationskeime für die Bildung von Zwerggalaxien. Eva Grebel: „Die Zwerggalaxien sind sehr wahrscheinlich Relikte der kosmischen Bausteine: die sichtbaren Gegenstücke der kleinen Halos aus Dunkler Materie, deren Existenz von Theoretikern vorhergesagt wurde.”

Die Kalte Dunkle Materie besteht wohl aus bislang unbekannten Elementarteilchen, die schon im Urknall entstanden sind. Wie auch die sichtbare Materie war sie im frühen Universum zufällig verteilt. Dichtere Regionen verdichteten sich aufgrund ihrer Gravitation im Lauf der Zeit noch mehr. Dabei war und ist die Dunkle Materie stärker konzentriert als die sichtbare – um den Faktor 100 bis 1000. Solche Verdichtungen wirkten gleichsam als Kondensationskeime für die Stern- und Galaxienbildung aus dem fast homogenen Gemisch von Wasserstoff und Helium, das vor 13,7 Milliarden Jahren mit dem Urknall entstanden war. Fotos weit entfernter Himmelsregionen zeigen, dass sich bereits 500 Millionen Jahre später klumpige Strukturen geformt hatten: die Protogalaxien. Ein Teil dieser Protogalaxien verschmolz im Lauf der Zeit zu den großen Spiralgalaxien und Elliptischen Galaxien. Viele Protogalaxien blieben aber mehr oder weniger isoliert und schwirren noch heute als Zwerggalaxien durch den Weltraum. So etwa stellen sich die Kosmologen die Entwicklung des Alls vor.

ZU WENIG ZWERGE IM VORGARTEN

Doch es gibt ein Problem: Mehrere aufwendige Computersimulationen haben seit Ende der 1990er-Jahre gezeigt, dass im Lauf der Zeit viel mehr kleinräumige Strukturen entstanden sein müssten, die als Satelliten die großen Galaxien umkreisen, als bislang in Form von Zwerggalaxien beobachtet wurden. „Wenn das kosmologische Standardmodell stimmt, dann sind die Verklumpungen da – eine eindeutige Voraussage, andernfalls ist das LCDM-Modell widerlegt”, sagt Volker Springel. „Das ist faszinierend: Mit der Astronomie lassen sich Aussagen über die Eigenschaften von Elementarteilchen machen.” Denn deren Geschwindigkeit und Verteilung beeinflusst beispielsweise die kosmische Strukturbildung.

Springel hatte am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching die Millenium- Simulation geleitet, eine Berechnung der gesamten kosmischen Entwicklung nach dem LCDM-Standardmodell (bild der wissenschaft 4/2007, „Garching – Das Zentrum des Universums”). Heute ist er Professor am Astronomischen Rechen-Institut sowie Astrophysik-Gruppenleiter am Heidelberger Institut für Theoretische Studien, das 2010 von der Klaus Tschira Stiftung gegründet wurde.

Wie so oft sind Schwierigkeiten die Keime neuer Erkenntnisse. Das gilt auch für das Problem der fehlenden Satelliten (Substruktur-Problem). Nach den Computersimulationen der Entwicklung von Galaxien und Galaxienhaufen sollte es 10 bis 100 Mal mehr Zwerggalaxien in der Umgebung großer Galaxien geben, als beobachtet wird. Die Milchstraße und der Andromeda-Nebel besitzen wenige Dutzend bislang bekannte Begleiter, doch es müssten theoretisch Hunderte oder Tausende davon existieren. Das Problem dieser fehlenden Satelliten ist zwar noch nicht eindeutig gelöst, aber in den letzten Jahren sind die Forscher ein großes Stück weiter gekommen.

DREI mögliche ANTWORTen

Der erste Lösungsvorschlag des Substruktur-Problems besteht darin, die Existenz der vielen Dunklen Halos zu bezweifeln – sodass die vielen „fehlenden” Zwerggalaxien gar nicht existierten und vermisst würden. Wenn nämlich die Dunkle Materie nicht überwiegend „kalt” wäre – ihre Partikel sich also langsam bewegen würden –, sondern im Urknall „warm” entstanden wäre, das heißt in Form sehr schneller Teilchen, dann hätten die vielen unbeobachtbaren Satellitengalaxien gar nicht entstehen können. Denn Warme Dunkle Materie würde kleine Strukturen verwischen. Kleinräumige Verklumpungen – also die Dunklen Halos als Vorläufer von Zwerggalaxien – wären daher seltener. Die Bildung der großen Galaxien sollte das kaum beeinträchtigt haben. Doch die Warme Dunkle Materie passt nicht zum kosmologischen Standardmodell und auch schlecht zu anderen astronomischen Beobachtungen. Die meisten Kosmologen halten sie für einen Notnagel, an den sie die Beobachtungen nur „hängen” würden, wenn alle Alternativen versagen.

Der zweite Lösungsvorschlag klingt viel einfacher: Demnach gibt es viele Zwerge im Vorgarten der Milchstraße, aber die Astronomen haben sie bislang schlicht übersehen. Tatsächlich sind mit der Himmelsdurchmusterung SDSS (Sloan Digital Sky Survey) in den letzten Jahren viele bislang unbekannte, sehr lichtschwache Zwerggalaxien entdeckt worden. Und da SDSS nur die nördliche Himmelssphäre im Visier hat und die Empfindlichkeit des SDSS-Teleskops begrenzt ist, dürften 5 bis 20 Mal mehr verborgene Nachbarn sowohl bei der Milchstraße als auch beim Andromeda-Nebel herumstreunen, als Astronomen zurzeit kennen. Mehrere neue Himmelsdurchmusterungen sind bereits in der Vorbereitung.

Doch es gibt noch einen anderen Ausweg aus dem Problem, für den auch Volker Springel argumentiert: Die Dunklen Halos schwirren zwar durch die Lokale Gruppe, wie es die Modellrechnungen voraussagen – aber sie sind unsichtbar, weil sich darin gar keine Sterne gebildet haben. Für diesen Mangel an Sternen kommen verschiedene Ursachen in Betracht. Zum einen die Reionisation des Alls: Als sich einige Hundert Millionen Jahre nach dem Urknall die ersten Sterne und Schwarzen Löcher gebildet haben, schlug deren energiereiche Strahlung nach und nach Elektronen aus dem neutralen Wasserstoff-Urgas überall im All heraus (bild der wissenschaft 4/2009, „Das Ende des Dunklen Zeitalters”). Ein solchermaßen ionisiertes Plasma verdichtet sich viel schwerer zu Sternen als neutraler Wasserstoff. Vor allem in kleinen Wolken, Proto-Zwerggalaxien, wird so die Sternbildung drastisch unterdrückt. Darauf hatte unter anderem Martin Rees von der Cambridge University schon 1986 hingewiesen.

DER ANFANG VOM ENDE

Eine weitere Möglichkeit ist das negative Feedback von Sternen: Die Stoßwellen von Supernovae können die Sternbildung in der Nachbarschaft unterdrücken, weil sie das interstellare Gas aufheizen und verschieben. So hat der Anfang der Sternentstehung vielleicht schon deren Ende eingeleitet. Die massereichsten Sterne verbrauchen ihren Rohstoff nämlich schnell und detonieren daher bald – schon nach einigen Dutzend Millionen Jahren. Eine solche Idee wurde von Martin Rees und Simon White bereits 1978 entwickelt.

Auch die Kosmische Strahlung, die von solchen Sternexplosionen und deren Stoßwellen erzeugt wird, behindert die Sternbildung. Das hat Volker Springel Anfang des Jahres genauer untersucht. „ Die schnellen Teilchen der Kosmischen Strahlung werden dabei von Magnetfeldern in der Galaxie gehalten und tragen zum Druck des Gases bei”, erklärt er. „Anders als der gewöhnliche thermische Druck geht dieser Druckanteil nicht schnell durch Kühlung verloren, sodass er die weitere Verdichtung des Gases und damit die Sternentstehung recht effizient verhindert.”

Die Kombination dieser verschiedenen astrophysikalischen Prozesse scheint genügend Spielraum für eine Lösung des Problems der fehlenden Zwerggalaxien zu schaffen. Daher blicken inzwischen viele Wissenschaftler recht zuversichtlich auf ihre Modelle. Eine Forschergruppe um Simon White vom Max-Planck-Institut für Astrophysik, zu der auch Volker Springel gehört, hat sich jüngst sogar daran gemacht, ein neues Szenario für die Milchstraßen-Satelliten im Rahmen der LCDM-Kosmologie zu entwerfen, das die verschiedenen Faktoren berücksichtigt und ohne Warme Dunkle Materie auskommt. Ausgehend von einer kompletten Reionisation der prägalaktischen Region eine halbe Milliarde Jahre nach dem Urknall reproduziert das Computermodell die beobachtbaren Verhältnisse gut: etwa die räumliche Verteilung der Zwerggalaxien, ihre Massen, Helligkeiten und Häufigkeiten an schweren Elementen.

Probleme mit der Konzentration

Die größten Sorgen macht den Forschern das sogenannte Konzentrations-Problem. Darauf ist erst kürzlich Mike Boylan-Kolchin gestoßen, der früher in Garching arbeitete und jetzt am California Institute of Technology ist. Auch dieses Problem besteht darin, dass es eine Diskrepanz zwischen Computersimulation und Beobachtungen gibt. Die Rechnungen sagen voraus, dass Zwerggalaxien am ehesten bei den höchsten Konzentrationen Dunkler Materie entstanden sind. „Doch wir haben festgestellt, dass viele Satellitengalaxien nicht diese hohen vorausgesagten Konzentrationen besitzen”, wundert sich Boylan-Kolchin. Unklar ist, warum die konzentriertesten Vertreter der massereichen Dunklen Satelliten – Boylan-Kolchin nennt sie „ massive Versager” – keine Galaxien hervorgebracht haben, obwohl sie dafür am besten geeignet sein sollten. Die Existenz Warmer Dunkler Materie würde vielleicht helfen, weil sie die Masseverteilung „verwischt”. Aber dann wäre die LCDM-Kosmologie in Schwierigkeiten.

Es besteht freilich immer die Möglichkeit, dass die Lokale Gruppe nicht typisch im All ist. Die Wissenschaftler würden sich dann über eine Ausnahme den Kopf zerbrechen, die sie irrtümlicherweise für eine Regel halten. Ist die Milchstraße mit ihrer Umgebung also ein Sonderfall und das Fehlen der vielen Zwerge bloßer Zufall? „Das ist eine schwierige Frage”, sagt Volker Springel. „Wir haben unsere Computersimulationen in dieser Hinsicht detailliert analysiert und eine große Variationsbreite festgestellt. Die Milchstraße wirkt etwas ungewöhnlich: Sie liegt nicht im Zentrum der Galaxiengruppe und hat mit den Magellanschen Wolken überdurchschnittlich schwere Begleiter. Und der Andromeda-Nebel ist kein Abbild der Milchstraße. Aber wir haben keinen guten Hinweis darauf, dass die Lokale Gruppe wirklich aus dem Rahmen des Üblichen fällt.” Eva Grebel sieht es auch so: „ Galaxiengruppen mit nur einer einzigen massereichen Galaxie im Zentrum sind recht selten – es gibt sie aber. Viel verbreiteter, auch in unserer weiteren Umgebung, sind jedoch Systeme, die der Lokalen Gruppe ähneln und aus mehreren massereichen, dezentral verteilten Galaxien bestehen.”

Kosmische Karambolagen

Dass die Lokale Gruppe keine kosmische Ausnahme ist, legen auch andere Erkenntnisse der galaktischen „Archäologen” nahe. Ihre Rekonstruktionen haben nämlich aufgedeckt, dass es in unserer weiträumigen Heimat im All Spuren gigantischer Verwerfungen gibt, wie sie auch bei ferneren Galaxien beobachtet wurden. Dazu gehören nahe Vorbeiflüge mit wechselseitigen gravitativen Verzerrungen, Streifschüsse, gegenseitige Durchdringungen und sogar Kollisionen, die ganze Galaxien miteinander verschmelzen lassen.

Besonders häufig scheinen sich große Sternsysteme ihre kleineren Nachbarn einzuverleiben. Von einem solchen galaktischen Kannibalismus zeugen sowohl in der Milchstraße als auch im Andromeda-Nebel mehrere Sternströme – die Relikte zerrissener und aufgefressener Zwerggalaxien (bild der wissenschaft 5/2001, „Die kannibalische Milchstraße”).

Selbst der Andromeda-Nebel, der König der Lokalen Gruppe, ist wahrscheinlich durch eine brachiale Kollision zweier Vorläufergalaxien entstanden – vor knapp sechs Milliarden Jahren. Das schließt ein Team französischer und chinesischer Astronomen aus numerischen Computersimulationen. Die Wissenschaftler unter der Leitung von François Hammer vom Pariser Observatorium erstellten zum ersten Mal ein detailliertes Entwicklungsmodell der bekannten Strukturen unseres großen Nachbarn im All. Ihre Simulationen konnten die Beobachtungsdaten gut reproduzieren. Dazu gehören die dünne Scheibe, der gigantische Staubring, die massereiche Zentralregion und mehrere Sternströme sowie die Altersverteilung der Sterne. Die Simulationen mit Hochleistungscomputern in Paris und Peking umfassten fast 100 einzelne, bis zu 20 Tage dauernde Modellrechnungen mit bis zu 8 Millionen Elementen (Sterne, Gas, Dunkle Materie). Diese sehr aufwendigen Rechnungen ergaben, dass der galaktische Crash wohl vor etwa neun Milliarden Jahren begonnen haben muss, als eine Galaxie mit etwas mehr als der Masse unserer Milchstraße nahe an einer zweiten mit ungefähr einem Drittel der Masse vorbeiflog. Nach einem turbulenten Gravitationstanz der Sternsysteme kam es vor etwa 5,5 Milliarden Jahren zur Verschmelzung.

Eine solche kosmische Karambolage wäre das wichtigste und spektakulärste Ereignis in der Geschichte der Lokalen Gruppe. Sie müsste auch recht vehement erfolgt sein. Andernfalls wäre nicht genug Drehimpuls konzentriert worden, um die rotierende galaktische Scheibe der Andromeda-Galaxie zu bilden. Die Simulationen sagen außerdem voraus, dass eine große Menge an Materie – etwa ein Drittel der Masse unserer Milchstraße – bei dem Galaxien-Crash davongeschleudert worden ist. Wie sich bei anderen Galaxienkollisionen heute noch beobachten lässt, entstehen aufgrund der enormen Gezeitenkräfte oft riesige „ Schwänze” aus Gas.

Ein überraschendes Resultat der Simulation war, dass einer dieser Gezeitenschwänze in Richtung Milchstraße gezielt haben könnte und die Magellanschen Wolken erschuf. Wenn das stimmt, wären diese beiden ungewöhnlichen Zwerggalaxien nicht direkt aus Dunklen Halos entstanden, sondern gleichsam auf einem zweiten Bildungsweg. Mit einer Geschwindigkeit von rund 350 Kilometern pro Sekunde wäre die extragalaktische Gasschwade ins Gravitationsfeld der Milchstraße gelangt und darin eingefangen worden, wie Hammers Simulationsrechnungen zeigen. Dabei, und auch schon vorher, hätten sich aus Verdichtungen im Gas Sterne gebildet – ein Prozess, der teilweise heute noch andauert. Dieses – freilich keineswegs gesicherte – Szenario kann auch erklären, warum die Große und die Kleine Magellansche Wolke die einzigen gasreichen und irregulär geformten Milchstraßen-Begleiter sind. Ihre Bahndaten, sagt Hammer, lassen sich mit einem Ursprung aus Richtung Andromeda vereinbaren. Die „Reise” hätte je nach den Randbedingungen vier bis acht Milliarden Jahre gedauert.

Das Andromeda-Ereignis wird allerdings kein Einzelfall in der Lokalen Gruppe bleiben. Der spektakuläre Höhepunkt kommt noch: Gegenwärtig nähert sich die Andromeda-Galaxie nämlich mit rund 120 Kilometern pro Sekunde unserer Milchstraße. In zwei bis drei Milliarden Jahren werden die beiden großen Spiralen zu einer riesigen Elliptischen Galaxie verschmelzen (bild der wissenschaft 2/2008, „Andromeda auf Kollisionskurs”). Kosmisch gesehen ist das keine allzu ferne Zukunft. Selbst die vermutlich in einen Randbezirk geschleuderte Sonne wird noch auf die Erde scheinen, die allerdings dann völlig ausgetrocknet ist.

Kollisionsprodukt Milkomeda

Bei dem galaktischen Rendezvous werden die Gas- und Staubwolken heftig durcheinander gewirbelt. Die Folge: ein neuer Schub der Sternentstehung setzt ein – eine galaktische Verjüngungskur. Insofern steht die Glanzzeit der Milchstraße erst noch bevor. Bei der kosmischen Kollision werden auch die Zwerge im galaktischen Vorgarten „mitgenommen” und durcheinandergeschüttelt. Manche werden dabei in Fetzen gerissen, andere weit in den intergalaktischen Raum geschleudert oder von Milkomeda – wie Astronomen das Kollisionsprodukt nennen – einverleibt. Doch einige himmlische Gartenzwerge werden übrig bleiben und vielleicht sogar die Neugierde von galaktischen Archäologen der fernen Zukunft wecken. ■

von Rüdiger Vaas

Gut zu wissen: Die Lokale Gruppe, unsere kosmische Heimat

Wir sind nicht allein im All. Vielmehr gehört unsere Milchstraße, die Galaxis, zu einer Ansammlung weiterer Galaxien, die Astro- nomen „Lokale Gruppe” nennen. Sie hat eine Ausdehnung von knapp 7 Millionen Lichtjahren. Beherrscht wird sie von der 100 000 Lichtjahre durchmessenden Milchstraße und dem noch etwas größeren, rund 2,5 Millionen Lichtjahre fernen Andromeda-Nebel. Diese Dominanz lässt sich in Zahlen ausdrücken: Auf die beiden prächtigen Spiralgalaxien entfallen rund neun Zehntel der gesamten Masse der Lokalen Gruppe – über zwei Billionen Sonnenmassen an Sternen, Gas und Staub sowie der ominösen Dunklen Materie. Drittgrößtes Objekt ist mit gut 50 000 Lichtjahren Durchmesser die kleine Spiralgalaxie M 33. Sie befindet sich knapp 2,7 Millionen Lichtjahre entfernt im Sternbild Dreieck. Hinzu kommen über 60 bekannte Zwerggalaxien, die größtenteils entweder die Milchstraße oder den Andromeda-Nebel umkreisen. Mehr als zwei Drittel davon werden als sphäroidale Zwerggalaxien klassifiziert. Sie sind deutlich größer als Kugelsternhaufen und enthalten wie diese kaum interstellares Gas, jedoch sehr viel Dunkle Materie. Außerdem gibt es vier elliptische Zwerge, die ebenfalls wenig Gas besitzen, acht irreguläre Zwerge mit relativ viel Gas sowie jüngeren Sternen und schließlich noch einige Übergangstypen. Die prominentesten Zwerggalaxien sind die Große und die Kleine Magellansche Wolke, die sich als verwaschene Lichtfleckchen leicht mit bloßem Auge am Südsternhimmel erkennen lassen. Sie sind rund 160 000 beziehungsweise 200 000 Lichtjahre entfernt und 20 000 beziehungsweise 15 000 Lichtjahre groß.

Gut zu wissen: Zwerggalaxien

Abgesehen von den schon mit bloßem Auge sichtbaren Magellanschen Wolken, die sich um die Milchstraße bewegen, sind Zwerggalaxien nur mit Teleskopen zu erspähen. Wie viele sich in der Lokalen Gruppe tummeln, ist unbekannt. Denn die dunklen Gestalten sind schwer zu erkennen. Rund die Hälfte davon wurde erst im letzten Jahrzehnt durch ausgefuchste Beobachtungsmethoden aufgespürt. Das Problem: Die Sterne sind so spärlich, dass sie sich nicht leicht von den Sternen der Milchstraße im Vordergrund unterscheiden lassen. Die 260 000 Lichtjahre entfernte sphäroidale Draco-Zwerggalaxie zum Beispiel wurde lange schlicht übersehen, obwohl sie am Himmel so groß ist wie der Vollmond.

Die meisten Zwerggalaxien sind nahe Satelliten der Milchstraße oder des Andromeda-Nebels. Nur zwei sphäroidale Zwerge ziehen eine einsame Bahn in der Ferne: Die Cetus- und Tucana-Zwerggalaxie mit 2,5 beziehungsweise 2,2 Millionen Lichtjahren Distanz von der Milchstraße und 2,9 beziehungsweise 4,4 Millionen Lichtjahren von Andromeda. Die meisten sphäroidalen Zwerge enthalten kaum Gas und nur wenig schwere Elemente, außerdem haben sie wahrscheinlich seit über zehn Milliarden Jahren keine neuen Sterne mehr gebildet. Es handelt sich bei ihnen wohl um archaische Fossilien aus der Urzeit der Lokalen Gruppe.

Zwerggalaxien variieren sehr stark in ihrer Masse und Leuchtkraft. Manche bringen es nur auf 1000 Sonnenmassen, andere auf 10 Millionen, manche lediglich auf die Leuchtkraft von 1000 Sonnen, andere auf 100 Millionen. Auch ihr Anteil an schweren Elementen ist unterschiedlich – bei Leo A zum Beispiel sehr niedrig, bei M 32 recht hoch –, aufgrund der geringeren Sternbildung ist er aber im Schnitt beträchtlich niedriger als in der Milchstraße.

KOMPAKT

· Die Zwerggalaxien der Lokalen Gruppe eignen sich gut für die Erforschung der kosmischen Evolution. Ein Rätsel ist nur, warum es nicht viel mehr von ihnen gibt.

· Die Magellanschen Wolken sind wahrscheinlich aus Gasfetzen entstanden, die bei der Bildung des Andromeda-Nebels in Richtung Milchstraße geschleudert wurden.

MEHR ZUM THEMA

Lesen

Eline Tolstoy, Vanessa Hill, Monica Tosi Star Formation Histories, Abundances and Kinematics of Dwarf Galaxies in the Local Group Ann. Rev. Astron. Astrophys., Bd. 47 S. 371–425 (2009)

Eva K. Grebel Satellites in the Local Group and Other Nearby Groups In: Philippe Prugniel, Mina Koleva (Hrsg.) A Universe of Dwarf Galaxies European Astronomical Society (im Druck) arxiv.org/abs/1103.6234

Internet

Vorträge zur Milchstraße und Umgebung: www.cfa.harvard.edu/events/2010/dyn/

Homepage von Eva Grebel: www.ari.uni-heidelberg.de/mitarbeiter/ grebel/

Homepage von Volker Springel: www.h-its.org/english/homes/springel/ index.php

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Zwölf|fin|ger|darm  〈m. 1u; Anat.; Biol.〉 bei Säugetieren u. Menschen der an den Magenausgang sich anschließende, hufeisenförmig gebogene Anfangsteil des Dünndarms: Duodenum [Lehnübersetzung von grch. dodekadaktylon: … mehr

mol|to  〈Mus.〉 viel, sehr, z. B. ~ vivace [ital.]

Au|git  〈m. 1; Min.〉 ein Silikat–Mischkristall [zu grch. auge … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige