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Fragender Blick auf „künstliche Gletscher“

Erde|Umwelt

Fragender Blick auf „künstliche Gletscher“
Künstlicher Gletscher auf 4450 Meter über dem Meeresspiegel, errichtet oberhalb des Dorfes Igoo in Nordindien. (Foto: Marcus Nüsser)

Die Gletscher schwinden und damit auch ein wichtiger Effekt der eisigen Wasserreservoirs der Berge: die Versorgung der Landwirtschaft mit Schmelzwasser. Vor diesem Hintergrund haben Forscher nun die Informationen eines Langzeitprojekts ausgewertet, das der Frage nachgeht, inwieweit künstlich angelegte Eisreservoirs im südasiatischen Hochgebirge die schwindenden natürlichen Lagerstätten ausgleichen können. Ihr Fazit lautet: Die „künstlichen Gletscher“ können durchaus zur Verbesserung der Wasserversorgung beitragen – natürliche Gletscher können sie aber keinesfalls ersetzen.

Die Eisschmelze im Frühjahr war seit Urzeiten eine verlässliche Quelle für die Landwirtschaft in einigen Bergregionen der Erde – vor allem im Bereich des Himalaya. Doch im Zuge des Klimawandels schwindet bekanntlich der eisige Wasserschatz der Hochgebirge – die Gletscher ziehen sich zurück oder verschwinden ganz. Um auszuloten, ob sich sogenannte künstliche Gletscher zum Ausgleich saisonaler Wasserengpässe eignen, wurden in den vergangenen 30 Jahren in der nordindischen Hochgebirgswüste Ladakh verschiedene Typen von Eisreservoirs errichtet.

Fragender Blick auf die künstlichen Eislager

Das Konzept: Es handelt sich bei den Eisreservoirs um kaskadenartig angelegte Mauer-Systeme oder Kegel, die an topographisch und mikroklimatisch geeigneten Stellen errichtet werden. In ihnen soll sich zwischen November und März Eis ansammeln – es soll sich ein kleiner künstlicher Gletscher bilden. In den trockenen Frühjahrsmonaten können diese Speicher dann bei Tauwetter Wasser abgeben und somit zur Versorgung der Gemeinden im Tal beitragen, deren Landwirtschaft auf das Schmelzwasser aus den Bergen angewiesen ist.

Soweit die Theorie – ob das Konzept allerdings tatsächlich hält, was es verspricht, haben nun die Forscher um Marcus Nüsser vom Südasien-Institut der Universität Heidelberg untersucht. Unklar war vor allem, ob sich genügend Eis ansammelt und ob die Konstruktionen tatsächlich einen merklich positiven Einfluss auf die Landwirtschaft der Menschen im Tal haben. Um diesen Fragen nachzugehen, führte das Team Messungen vor Ort durch, wertete Satellitenbilder aus und führte Befragungen zum Effekt der Reservoirs bei der lokalen Bevölkerung durch.

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Positiver Effekt bestätigt

Wie die Forscher berichten, variierte das Speichervolumen der künstlichen Gletscher wegen der jährlich unterschiedlichen Bedingungen von 1010 bis 3220 Kubikmetern. Als besonders wirkungsvoll erwiesen sich Reservoirs in Form von mehreren kaskadenartig angeordneten Becken, berichten die Forscher. „Das Speichervolumen ist nicht immer gleich, da es von den klimatischen Bedingungen in der Region abhängt, die von Jahr zu Jahr variieren“, erklärt Nüsser. Es handelt sich ihm zufolge aber im Durchschnitt um einen durchaus beachtlichen Vorrat: „Im Optimalfall entspricht das gespeicherte Wasser einer Menge, mit der man die Feldfluren im Testgebiet bis zu dreimal vollständig bewässern könnte“, sagt Nüsser. Klar ist dabei allerdings natürlich auch, dass das Wasser nicht beliebig auf und abdrehbar ist – wie viel vom Eis abperlt, ist von den jeweiligen Bedingungen abhängig.

Die Auswertungen der Interviews mit Vertretern der lokalen Kleinbauern zeigten, dass der Einsatz der künstlichen Gletscher als vorteilhaft wahrgenommen wird. Vor dem Hintergrund ihrer langen Erfahrung sagen die ansässigen Menschen, dass sich Ernteausfallrisiken verringern und die Möglichkeiten zum Anbau von Nutzpflanzen steigen. Die Forscher kommen deshalb nun zu einem positiven Fazit: „Die künstlichen Gletscher sind als bemerkenswerte Anpassungsmaßnahme an die spezifischen Umweltbedingungen in dieser nordindischen Hochgebirgswüste zu verstehen“. Möglicherweise eignet sich der Einsatz des Konzepts auch in anderen Regionen der Welt mit ähnlichen Strukturen, sagen die Forscher.

Kein Ersatz für Gletscher!

Übertriebene Begeisterung für das Konzept ist Nüsser und seinen Kollegen zufolge aber nicht angebracht. Die Eisreservoirs wurden in den vergangenen Jahren über die lokale Anwendung hinaus auch als generelle Antwort auf die negativen Auswirkungen des Klimawandels, insbesondere des Gletscherrückgangs, diskutiert. Den Forschern zufolge ist der Nutzen dieser Strategie im großen Maßstab jedoch fraglich. Klimatische Variabilität und Naturgefahren wie Flutkatastrophen, Rutschungen und Lawinen sind zu beachten. Außerdem machen lokale sozioökonomische Bedingungen den Sinn des Baus von künstlichen Gletschern fraglich. „Der Begriff ,künstliche Gletscher‘ erscheint zudem irreführend, da diese Eisreservoire keinesfalls die natürlichen Gletscher ersetzen können“, betont Nüsser abschließend.

Quelle: Universität Heidelberg, Regional Environmental Change, doi: 10.1007/s10113-018-1372-0

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