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Heiße Rülpser

Erde|Umwelt

Heiße Rülpser
Unser Planet pulsiert: Riesige, aus großer Tiefe aufgestiegene Materieblasen beulen die Erdoberfläche immer wieder aus. Spuren davon finden sich am Grund des Nordatlantiks.

Die Insel nördlich von Schottland muss ein hübsches Fleckchen Erde gewesen sein, als sie vor etwa 55 Millionen Jahren aus den Wellen ragte. Tiefe Täler und steile Hänge prägten die vermutlich bewaldete Urzeit-Landschaft. Am Grund eines breiten, von 800 Meter hohen Berghängen gesäumten Tals wand sich ein Fluss in Richtung Meer. Auch zahlreiche kleinere Wasserläufe fraßen sich immer tiefer in den Untergrund.

Die Erosion hatte leichtes Spiel, denn die Insel im Norden des heutigen Europas war recht weicher Meeresboden, der plötzlich aus dem Nordatlantik aufgetaucht war. Innerhalb von nur einer Million Jahren wurde die Unterwasser-Landschaft gut 1000 Meter empor gehoben. Noch eine weitere Jahrmillion lang ragte sie aus den Fluten und war dabei Wind und Wetter ausgesetzt. Dann versank die Insel ebenso schnell, wie sie aufgetaucht war. Heute liegt die Flusslandschaft zwischen den Faröer- und den Shetland-Inseln wieder am Meeresgrund, begraben unter 1000 Meter Wasser und 2000 Meter Sedimenten.

Dass die Erdoberfläche in geologisch relativ kurzen Zeiträumen wie im Fahrstuhl aufsteigen und wieder absinken kann, kannte man bislang nur aus Geschichten wie im Kinderbuch „Jim Knopf und die Wilde 13″ von Michael Ende, wo der versunkene Kontinent Jamballa plötzlich aus dem Meer wächst. Geologen interpretieren einen kurzfristigen Wechsel von marinen und kontinentalen Bedingungen in Sedimenten meist als Folge eines schwankenden Meeresspiegels, verursacht vor allem durch Eiszeiten – und nicht durch Bewegung des Landes. Doch Veränderungen von 500 oder 1000 Metern sind zu groß, um sie durch Meeresspiegel-schwankungen erklären zu können.

Auf und Ab unter der Nordsee

Ein Team von Forschern an der University of Cambridge um den Geologen Nicky White und den Geophysiker Bryan Lovell hat nun den rasanten Aufstieg und Fall des schottischen Meeresbodens in mühsamer Kleinarbeit aus seismischen Daten der Erdölindustrie rekonstruiert. Die Wissenschaftler stellten fest, dass sich die Ereignisse 240 Kilometer weiter östlich etwa eine Million Jahre später wiederholten: Auch dort, am nordwestlichen Ende der Nordsee, hob sich ein Gebiet in geologisch relativ kurzer Zeit um einige Hundert Meter, lag danach eine Zeitlang über Wasser und versank schließlich rasch wieder.

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Die Forscher haben eine faszinierende Erklärung für das merkwürdige Auf und Ab: Die Erde stieß demnach vor 55 Millionen Jahren eine Art heißen Rülpser aus. Aus der Tiefe stieg eine Blase auf, die aber größtenteils nicht bis zur Oberfläche gelangte, sondern sich unterhalb der tektonischen Platten ringförmig unter dem Nordatlantik ausbreitete. Wie eine riesige Welle drückte die heiße Materie – von den Forschern „Hot Blob“ genannt – dabei kurzzeitig den Meeresboden nach oben. „Man kann sich das etwa so vorstellen wie Ratten unter einem Teppich, die sternförmig nach außen rennen“, sagt Bryan Lovell.

Die Quelle des glutheißen Gesteins war wahrscheinlich der „Hot Spot“ („heiße Fleck“), der sich heute unter Island befindet. Hot Spots nennen Geologen relativ eng begrenzte vulkanisch aktive Regionen, die tief im Erdmantel verankert sind.

Vieles deutet darauf hin, dass es im Nordatlantik schon vor 55 Millionen Jahren einen Aufstiegskanal für die heiße Materie aus dem Erdmantel gab. Damals befand sich wahrscheinlich Grönland über dem Hot Spot. Die Insel lag nur 600 Kilometer von Schottland entfernt, weil der Atlantik noch nicht so breit war wie heute. Die Forscher vermuten, dass es im „Blob“ über 1400 Grad Celsius heiß war. Dafür sprechen bestimmte Spurenelemente in den mächtigen Ablagerungen von magmatischem Gestein aus tieferen Schichten der Erde.

beachtliches Tempo

Da die Wissenschaftler die Hebungen bei Schottland und unter der Nordsee mithilfe von Daten aus Bohrungen gut datieren konnten, ermittelten sie auch das Tempo, mit der die heiße Materieblase wanderte: Es waren rund 40 Zentimeter pro Jahr. Auf Island fanden die Forscher zudem Belege dafür, dass der Hot Spot nach wie vor pulsiert. In den letzten sieben Millionen Jahren drangen zwei Mal sehr heiße Materieblasen den Schlot hinauf. Allerdings quoll dort nach Berechnungen nur noch halb so viel Gestein nach oben wie vor 55 Millionen Jahren.

Und noch ein spannender Befund: Kürzlich berichteten die Geowissenschaftler im Fachblatt Nature Geoscience, dass sich der Boden der Dänemark-Straße zwischen Grönland und Island infolge der Blobs während der letzten sieben Millionen Jahre zwei Mal um 90 bis 180 Meter gehoben hat. Weil die Meeresstraße sich verflachte, verringerte sich der Fluss kalten Wassers aus dem Arktischen Ozean in den Atlantik.

Wildes Treiben in der Tiefe

Mit ihren Studien dokumentieren die Forscher aus Cambridge erstmals, wie unregelmäßig die Umwälzungen im Erdinneren verlaufen. „Es wird immer klarer, dass Prozesse im Erdmantel für viele Vertikalbewegungen der Erdoberfläche verantwortlich sind“, sagt Hans-Peter Bunge von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Der Professor für Geodynamik modelliert die extrem zähflüssige Umwälzbewegung des Gesteins im Erdmantel – jenem Stockwerk des Planeten, das 30 bis 70 Kilometer unter den Kontinenten und rund 10 Kilometer unter den Ozeanen beginnt und in etwa 3000 Kilometer Tiefe an der Grenze zum Erdkern endet.

Dass das Material dort zwar relativ fest ist, sich aber trotzdem sehr langsam bewegt, vermuten die Geowissenschaftler, seit die Theorie der Plattentektonik in den 1960er-Jahren entwickelt wurde. Hitze aus dem Erdkern treibt demnach großräumige Konvektionszellen an, in denen sich die Mantelmaterie umwälzt. Die tektonischen Platten an der Oberfläche sind rund 100 Kilometer dick und umfassen die Erdkruste und den obersten Bereich des Erdmantels. Darunter befindet sich eine Schicht, in der das Mantelgestein etwas weicher ist – weich genug, um ein paar Zentimeter pro Jahr zu „kriechen“ – und dabei die festen tektonischen Platten mitzuziehen.

„Doch die klassischen Bilder aus den Lehrbüchern führen in die Irre“, sagt Bunge. Denn Simulationen zeigen, dass die Konvektion im Mantel chaotischer abläuft, als es die relativ geordneten Bewegungen der tektonischen Platten auf der Erdoberfläche vermuten lassen. Das Mantelgestein wälzt sich keineswegs in großräumigen Zellen um, sondern züngelt in mehr oder weniger dicken pilzförmigen Strömungen nach oben. Riesige Blasen aus heißer Materie, die aus den Tiefen des Erdmantels aufsteigen, beulen die Oberfläche aus wie einen Wackelpudding. Manchmal gibt es einen Stau an der Grenze von unterem zu oberem Mantel. Auch Strukturen, die Bäumen oder Girlanden ähneln, bilden sich beim Aufstieg des Mantelmaterials. „Hot Blobs können entstehen, wenn sich an der Kern-Mantel-Grenze viel heißes Material sammelt“, erklärt Hans-Peter Bunge. „Es kann dann pulsartig aufsteigen.“

Spurensuche am Meeresgrund

Und dort, wo Materie nach unten sinkt, dellt sich das Land darüber ein. „Man kann sich das so ähnlich vorstellen wie bei Hoch- und Tiefdruckgebieten in der Atmosphäre“, sagt Bunge. Für den Geophysiker sind die Beobachtungen von White und Lovell hochinteressant, weil sie es erstmals erlauben, die Geschwindigkeit der Mantelströmungen zu messen und daraus genauere Informationen über das Fließverhalten der Mantelmaterie zu ermitteln. „Der Ansatz, im Nordatlantik nach Belegen zu suchen, ist brillant, weil die Sedimente dort die Bewegungen detailliert dokumentieren“, sagt Bunge. „Auf einem Kontinent würden die Beweise für Hebungen dagegen durch die Erosion vernichtet.“

Auch heute hat die Erde viele Beulen, die mit „Blobs“ zusammenhängen könnten: zum Beispiel das Hoggar- und das Tibesti-Massiv in Nordafrika, große Teile Nordamerikas, die während der Kreidezeit noch unter Wasser lagen, sowie die Insel Madagaskar. „Madagaskar könnte am Rand einer Aufwölbung liegen, da diese große Insel nach Nordwesten geneigt ist“, sagt der englische Geologe Nicky White. „Diese Topographie scheint sich erst innerhalb der letzten zehn Millionen Jahre entwickelt zu haben. Wir nehmen deshalb an, dass es sich um eine junge Hebung handelt, die ihren Ursprung im Erdmantel hat.“

Das pulsierende Innenleben der Erde stellt noch einige Rätsel. „Es ist bislang unklar, ob die ringförmige Ausbreitung heißer Wellen wie im Nordatlantik weit verbreitet ist. Wir vermuten, dass sich nur die größten Hot Spots so verhalten“, sagt White. Doch es deutet einiges darauf hin, dass manchmal sogar noch größere und heißere Gesteinsblasen an die Oberfläche steigen. Vielerorts auf der Erde gibt es „magmatische Großprovinzen“ – Basaltablagerungen, die drei Mal so groß sein können wie Deutschland und dabei einen Kilometer dick sind.

Dicke Beule in Sibirien

In Sibirien entstanden solche Flutbasalte vor 250 Millionen Jahren, in Indien vor 65 Millionen Jahren und im Westen der USA vor 14 bis 17 Millionen Jahren. Bevor solche Materiemassen an der Oberfläche ausströmen, könnten sich bis zu zwei Kilometer hohe Beulen auf der Erdoberfläche bilden. Die tektonischen Platten würden durch die riesigen Blobs unten aufgeschmolzen und merklich ausdünnen.

Für das Leben auf der Erde bedeutet die Ankunft von Mantelmaterie oft Ungemach. Die sibirischen Flutbasalte etwa stehen im Verdacht, das größte Massensterben der Erdgeschichte ausgelöst zu haben. Auch der isländische Blob vor 55 Millionen Jahren brachte die Evolution womöglich durcheinander – und könnte den Grundstein für den Aufstieg des Menschen gelegt haben. Die Hebung des Meeresbodens in Schottland fällt mit einer besonders heißen Phase der Erdgeschichte zusammen: Vor 55 Millionen Jahren stiegen die Temperaturen kurzfristig um vier bis fünf Grad Celsius, am Nordpol wuchsen Palmen und tummelten sich Krokodile.

Wissenschaftler hegen den Verdacht, dass die kurzzeitige Erwärmung durch den Zerfall größerer Mengen Methanhydrat im Meeresboden ausgelöst wurde. Doch warum diese eisförmige Verbindung instabil geworden sein könnte, war bislang rätselhaft. Die Beobachtungen des Teams aus Cambridge liefern nun eine plausible Erklärung: Als der Blob unter dem Nordatlantik wanderte und den Meeresboden nach und nach anhob, könnte das Methanhydrat darin zerfallen sein. Das Methan und sein Zerfallsprodukt Kohlendioxid wären so in die Atmosphäre gelangt. Die Treibhausgase erwärmten die Erdatmosphäre – mit drastischen Folgen: Viele der damals dominierenden primitiven Säugetiere verschwanden von der Erde. Unter den Gewinnern des Klimawandels waren die Primaten. Sie erschienen zu dieser Zeit erstmals auf der Bildfläche. ■

Ute Kehse ist Geophysikerin und berichtet in bild der wissenschaft seit Jahren über neue Erkenntnisse aus den Geowissenschaften.

von Ute Kehse

Kompakt

· Eine im Nordatlantik versunkene Flusslandschaft zeugt von starken Wallungen im Untergrund vor 55 Millionen Jahren.

· Ähnliche gewaltige Ereignisse gab es auch zu anderen Zeiten und in anderen Teilen der Erde.

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Internet

Hochaufgelöste Animation eines Erdmodells von der Sektion Geophysik der Ludwig-Maximilians-Universität München: www.earthmodels.org/models

Ohne Titel

Die Wallung beginnt

Eine Blase aus heißer Materie („Hot Blob“) steigt in einem tiefreichenden Kanal („Plume“) auf.

nach 200 000 Jahren

Die heiße Blase ist oben angelangt und hebt die Erdkruste an.

nach 400 000 Jahren Die Wölbung hat sich ringförmig ausgebreitet.

nach 800 000 Jahren Die Wölbung ist weiter zur Seite gedriftet und dabei kleiner geworden.

nach 1,6 Millionen Jahren Die Hitzewallung beginnt eventuell von Neuem.

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