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nasse Unterwelt

Erde|Umwelt

nasse Unterwelt
Der Eispanzer der Antarktis hat eine nasse Unterseite. Dort fließt Wasser in einem sich ständig wandelnden Netz aus Seen, Flüssen und Sümpfen. Forscher ergründen die Geheimnisse der subglazialen Feuchtgebiete.

Die Antarktis ist ein Kontinent mit zwei Gesichtern. Nach außen hin präsentiert sich das Land rund um den Südpol als lebensfeindliche Eiswüste im Dauerfrost. Doch sie hat auch eine zweite, sanftere Seite – tief unter der kalten Oberfläche. An der Grenze zwischen der Unterseite des Eispanzers und dem Fels, auf dem er liegt, gibt es eine dunkle Welt, wo es viel wärmer ist als oben. Eine Welt, in der das Eis weich wird und zu schmelzen beginnt. Könnte man den gefrorenen Deckel lüften, käme eine feuchte Landschaft zum Vorschein: Der uralte Festlandsockel der Antarktis ist mit einem weit verzweigten Gewässernetz überzogen.

Das Schmelzwasser sammelt sich in Hunderten großen und kleinen Seen. Dazwischen fließt es teils in breiten, flachen Strömen, teils in kleinen, gewundenen Rinnsalen. Im Osten des Kontinents drängen sich die Seen fast so dicht wie im nordenglischen Lake District. Der größte antarktische See, der Wostoksee, erreicht das Ausmaß von Schleswig-Holstein: Er bedeckt eine Fläche von fast 16 000 Quadratkilometern, ist 280 Kilometer lang, bis zu 80 Kilometer breit und stellenweise 800 Meter tief. Sein zweigeteiltes Becken liegt in einem Rifttal – einem Grabenbruch, der durch tektonische Bewegungen in der Erdkruste entstanden ist, ähnlich dem ostafrikanischen Graben. Die Bruchzone beherbergt noch weitere große schmale Gewässer. Doch die meisten Seen sind nicht länger als 20 Kilometer und erreichen eine Tiefe von maximal 100 Metern. Viele liegen im Tiefland – an den Stellen, wo das Eis am dicksten ist, wenige Hundert Meter über dem Meeresspiegel. Nur ein paar kleinere Seen sind in höheren Gebirgslagen gefangen. Dazu kommen lichtlose Sumpfgebiete und ausgetrocknete Senken.

So unzugänglich wie der Mars

Die Terra incognita unter dem Eis ist fast so unzugänglich wie ein fremder Planet. Seit Jahrmillionen sind die subglazialen Gewässer völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Kein Mensch hat sie je gesehen. Doch die Entdeckungslust der Polarforscher ist geweckt. „Ich wäre glücklich, wenn ich nur einige der Geheimnisse dieses riesigen unbekannten Lebensraums ergründen könnte“, sagt etwa der amerikanische Biologe John Priscu von der Montana State University in Bozeman. Verstehen lassen sich die merkwürdigen subglazialen Seen freilich nur zusammen mit dem Eis, das sie bedeckt. Erst in den letzten Jahren ist klar geworden, welche Ausmaße das hydrologische Netz zwischen Eis und Fels hat: Die Gewässer sind nicht die Ausnahme, sondern weit verbreitet. Etwa 180 antarktische Seen sind derzeit bekannt. Man findet sie auf dem gesamten Kontinent, doch sie sind nicht gleichmäßig verteilt. Unter dem kleineren Eisschild der Westantarktis, deren felsiger Grund größtenteils tiefer liegt als der Meeresspiegel und die geprägt ist von vielen schnellen Eisströmen, gibt es nur wenige Seen. Die meisten liegen in der größeren Ostantarktis. Dort konzentrieren sie sich in der Nähe von sogenannten Eisscheiden, wo sich die Fließrichtung des Eises wie an einer Wasserscheide in zwei Richtungen teilt. Der Grund für die Häufung entlang dieser Linien ist noch unklar.

Die Dynamik, mit der das Wasser zwischen den Seen strömt, hat die Forschergemeinde überrascht. „Bis vor Kurzem nahm man noch an, dass das Wasser unter dem Eisschild nahezu statisch ist und nur sehr langsam ausgetauscht wird“, berichtet die Geologin Robin Bell vom Lamont Doherty Earth Observatory im US-Bundesstaat New York. Doch Satelliten-Höhenmessungen offenbaren, dass das subglaziale Wasser ständig in Bewegung ist. Entleert sich ein See, sinkt das Eis darüber ab. Füllt er sich, wird es angehoben.

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sturzflut unter dem Eis

2006 stießen britische Forscher um Duncan Wingham vom University College London erstmals direkt auf eine subglaziale Sturzflut: Sie stellten fest, dass das Eis über einem See in der Ostantarktis innerhalb von 16 Monaten um 3 Meter abgesackt war. Der See stand offenbar in direkter Verbindung mit zwei fast 300 Kilometer entfernten Gewässern, über denen sich das Eis um jeweils ein bis zwei Meter hob. Das Forscherteam berechnete, dass insgesamt fast zwei Kubikkilometer (zwei Billionen Liter) Wasser unter dem Eis hindurchgerauscht waren, möglicherweise durch einen nur wenige Meter breiten Tunnel. Zu Spitzenzeiten transportierte die Flut fast so viel Wasser wie die Themse in London. Auch unter den zwei größten und schnellsten Eisströmen der Westantarktis rinnt ständig Wasser, wie US-Forscher um Helen Fricker von der Scripps Institution of Oceanography 2007 durch Höhenmessungen per Laserstrahl mit dem Satelliten ICESat nachgewiesen haben. Sie entdeckten in der Einzugsregion des Whillans- und des Mercer-Gletschers insgesamt 14 Regionen, in denen sich die Eishöhe merklich verändert hatte. Die Forscher fanden auch Hinweise darauf, dass aus einem subglazialen See größere Wassermengen ins Meer gelangt waren.

Der 100 Kilometer breite Whillans-Eisstrom ist einer von mehreren Gletschern, die das riesige schwimmende Ross-Eisschelf speisen – eine mehrere Hundert Meter dicke Eiszunge, unter der sich Meerwasser befindet. In der Nähe der Linie, wo der Whillans-Eisstrom den Kontakt zum Boden verliert und auf dem Meerwasser zu schwimmen beginnt, befindet sich offenbar ein See, der in weniger als drei Jahren zwei Kubikkilometer seines Inhalts ans Meer abgab. Das Eis darüber sank so um neun Meter. Die entscheidende Frage, die sich Polarforscher stellen: Beeinträchtigt das allgegenwärtige Wasser die Stabilität des Eisschilds? Schließlich ist Wasser ein Schmiermittel, denn es macht das Eis schlüpfrig. Wenn der Fuß eines Gletschers so kalt ist, dass das Eis am Fels festfriert, bewegt sich die Eismasse kaum.

Aber das ist nicht der Normalzustand. Drei Effekte bewirken, dass die Basis der Gletscher in vielen Gegenden taut. Zum einen sinkt der Schmelzpunkt um 0,6 Grad Celsius mit jedem Kilometer, um den die Eisdecke wächst. Das heißt: Am Boden einer drei Kilometer dicken Eismasse schmilzt Eis nicht erst bei null, sondern schon bei minus 1,8 Grad Celsius. Zum anderen steigt aus dem Erdinneren Wärme empor. Weil der dicke Eisdeckel den Boden gegen die kalte Luft isoliert, wird das Eis nach unten hin immer wärmer und schmilzt stellenweise. Im Inneren des Eisschilds, nehmen Forscher an, herrschen typische Schmelzraten von etwa zwei Millimetern pro Jahr. Am Boden einiger küstennaher Antarktisgletscher könnten jährlich sogar 60 Zentimeter Eis von unten her abtauen.

riesiger Wackelpudding

Weil der Eisschild sich nicht wie ein fester Klotz verhält, sondern eher wie ein riesiger Wackelpudding, quellen die Eismassen langsam – getrieben von ihrem eigenen Gewicht – nach allen Seiten in Richtung Meer. Im Inneren des Kontinents kommen sie nur wenige Meter im Jahr voran, doch zur Küste hin beschleunigt sich die Fließbewegung. Es bilden sich Eisströme, die ein Tempo von 20 bis 50 Metern pro Jahr erreichen. In den schnellsten Strömen kommt das Eis sogar mehrere Hundert Meter pro Jahr voran. Bei der Geburt vieler schneller Eisflüsse spielen subglaziale Seen eine Rolle, wie ein Team um Robin Bell und Michael Studinger vom New Yorker Lamont Doherty Earth Observatory 2007 erstmals nachwies. Auf Satellitenbildern identifizierten die Forscher im Dronning Maud Land, einer kaum erforschten Gegend im atlantischen Sektor der Antarktis, vier bislang unbekannte große Seen. „Zusammen sind sie etwa so groß wie der Wostoksee“, berichtet Studinger. Über den Seen steigt die Geschwindigkeit der Eismassen von 5 auf teils 30 Meter pro Jahr. Es ist die Ursprungsregion des Recovery-Eisstroms, eines 500 Kilometer langen Gletschers, der ins Weddellmeer mündet. Sein Einzugsgebiet umfasst ein Viertel der Ostantarktis.

Daten wie diese machen deutlich, dass die verborgene Wasserwelt kein abgeschlossener Kosmos ist, sondern mit anderen Teilen der Erde in Verbindung steht. „Bei den Recovery-Lakes können wir einen bislang unbekannten Mechanismus beobachten, um rasch viel Eis vom Inneren der Antarktis ins Meer zu befördern“, sagt Michael Studinger. Das Problem: Da der antarktische Eisschild auf Land liegt, steigt der Meeresspiegel, wenn mehr Eis als sonst ins Wasser rutscht. In den Klimamodellen des Expertengremiums IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) ist der Einfluss der wässrigen Schmiere auf die Eisstabilität jedoch bisher nicht berücksichtigt. Wie der Eispanzer der Ostantarktis und die wesentlich dynamischeren Eismassen der Westantarktis auf die globale Erwärmung reagieren werden, weiß bislang niemand.

Die Stabilität des Klimas wäre auch gefährdet, wenn aus den subglazialen Seen plötzlich größere Mengen Süßwasser ins Südpolarmeer quellen würden. Das könnte zumindest regionale Klimaveränderungen auslösen. Denn das weltweite Band der Meeresströmungen wird durch Unterschiede von Temperatur und Salzgehalt angetrieben. Ein Süßwasserschwall an einer für das Funktionieren des Strömungsbandes kritischen Stelle kann das ganze System aus dem Gleichgewicht bringen. „Die Entdeckung der Recovery-Seen hat gezeigt, dass das eine reale Bedrohung ist“, sagt der New Yorker Forscher Studinger. „Zum ersten Mal sind wir auf große Seen gestoßen, die nicht wie der Wostoksee isoliert in der Mitte des Kontinents liegen, sondern näher am Rand. Noch dazu haben die Seen eine direkte Verbindung zum Ozean.“

Spurensuche in Trockentälern

Inzwischen gibt es Indizien dafür, dass es schon früher zu gewaltigen subglazialen Fluten gekommen ist. Spuren davon sind in den Dry Valleys zu besichtigen, den Trockentälern am Rand des Transantarktischen Gebirges. Ein 50 Kilometer langer Irrgarten aus verschlungenen Tälern und Schluchten zeugt davon, dass sich hier vor etwa 14 Millionen Jahren eine Gletscherflut ungeheuren Ausmaßes ereignet hat. Ein Forscherteam um Adam Lewis von der Boston University kam zu dem Schluss, dass immense Wassermassen nötig waren, um die teils 250 Meter tiefen und 600 Meter breiten Gräben des riesigen Labyrinths in das harte, magmatische Gestein der Region zu höhlen.

Der subglaziale Sturzbach hatte eine so gewaltige Kraft, dass er manchmal sogar bergauf floss. Wenn zwei Teilflüsse sich begegneten, fraßen die Strudel bis zu 35 Meter tiefe Löcher in den Fels. Eine Million Kubikmeter Wasser pro Sekunde, errechneten die Forscher in Boston, müssen mit einer Geschwindigkeit von 15 Metern pro Sekunde unter dem Eis hindurchgebraust sein. Die Süßwassermassen stammten höchstwahrscheinlich aus einem riesigen subglazialen See. Sie könnten durch ihre Wucht die Meeresströmungen aus dem Rhythmus gebracht und regionale Klimaschwankungen ausgelöst haben, schreiben die Forscher in der Fachzeitschrift Geology.

Seen pausen sich durchs Eis

Angesichts dieser neuen Entdeckungen schreitet die Erkundung der subglazialen Wasserwelt nun mit Hochdruck voran. Glaziologen durchforsten alle verfügbaren Satellitenbilder, um weitere verborgene Gewässer aufzuspüren. Weil das Eis meist auf dem Seewasser schwimmt, paust sich die glatte Wasseroberfläche oben auf dem Eispanzer ab. Über einem See ist das Eis fast eben. Dort, wo das Eis den Kontakt zum felsigen Untergrund verliert und zu schwimmen beginnt, sackt es ein Stück nach unten und bildet eine breite, bis zu zehn Meter tiefe Mulde. Am anderen Ende des Sees, wo das Eis aufsitzt, entsteht dagegen ein Buckel. Diese charakteristischen Merkmale lassen sich mit Höhenmessungen per Satellit identifizieren.

Weitere Hinweise auf die verborgenen Gewässer liefern Radarmessungen per Flugzeug. Die dabei ausgesandten elektromagnetischen Wellen können Eis fast ungehindert durchdringen. Von einer Wasserschicht werden sie dagegen zurückgeworfen wie Licht von einem Spiegel. Das starke Signal lässt sich leicht von den typischen Reflexionen des felsigen Untergrunds unterscheiden. Schwerefeld- und Magnetfeldmessungen liefern zusätzliche Informationen über die Tiefe der Gewässer und die Geologie des Gesteins. Seismische Wellen verraten weitere Details am Boden, zum Beispiel Wassertiefe und Sedimentbedeckung des Seegrunds.

Ziel der Polarforscher ist es, mit Messgeräten und Robotern in die dunkle subglaziale Welt vorzudringen und Proben vom Wasser und von den Sedimenten zu nehmen. Die Wissenschaftler hoffen, in den finsteren Feuchtgebieten reiche Schätze an neuem Wissen zu finden. So könnten sich fremdartige Lebensformen in den Seen seit Jahrmillionen abgeschieden von der Welt entwickelt haben. Der US-amerikanische Mikrobiologe John Priscu schätzt, dass der subglaziale Lebensraum mehr lebende Zellen und organischen Kohlenstoff beherbergt als alle Oberflächengewässer der Erde zusammen. Niedrige Temperaturen, hoher Druck, ein Mangel an Nährstoffen und fehlendes Sonnenlicht lassen die Umgebung nicht gerade lebensfreundlich erscheinen. Priscu vermutet, dass dort höchstens Einzeller zu finden sind – es sei denn, es gibt am Grund einiger Seen hydrothermale Quellen. „Dann könnten dort ähnliche Lebensgemeinschaften existieren wie rund um die Schwarzen Raucher an den mittelozeanischen Rücken“, spekuliert er. An diesen heißen Quellen am Meeresgrund haben Tiefseeforscher in den letzten Jahren üppiges Leben entdeckt.

Zeugen einer eisfreien Antarktis

Für den britischen Geologen Martin Siegert von der University of Edinburgh sind die Seesedimente die wichtigste Fundgrube. „Die Klimadaten, die darin aufgezeichnet sind, könnten uns helfen, frühere Veränderungen der Antarktis zu verstehen“, sagt der Forscher. Die Schichten am Boden der Seen bestehen wahrscheinlich größtenteils aus Staubkörnchen, die vom schmelzenden Eis freigegeben wurden. Die Sedimente bilden daher ein Klimaarchiv, das sich zeitlich direkt an die aus Eiskernen gewonnenen Klimadaten anschließt. Große Gewässer wie der Wostoksee existieren womöglich schon seit vielen Millionen Jahren. Vielleicht enthalten sie Ablagerungen aus jener fernen Zeit, als die Antarktis noch nicht dauerhaft vereist war. „Diese Sedimente könnten zeigen, wie die Antarktis vom Treibhaus zum Kühlschrank wurde“, hofft der amerikanische Geowissenschaftler Michael Studinger.

Schon in den nächsten fünf Jahren könnte der Vorstoß in die subglaziale Welt gelingen. Am weitesten sind die Pläne russischer Polarforscher gediehen. Sie wollen den Wostoksee anbohren. 1957 errichteten sie zufällig genau über dem damals noch nicht bekannten Gewässer eine Forschungsstation – die außergewöhnlich ebene Eisoberfläche gab eine gute Landebahn für Flugzeuge ab. Im Jahr 1992, als es schon erste Vermutungen über ein verborgenes Gewässer gab, begannen sie mit einer Bohrung nach Eiskernen für die Klimaforschung. 1998 hörten die Wissenschaftler etwa 120 Meter über der inzwischen bekannten Seeoberfläche damit auf, in den eisigen Untergrund vorzustoßen – 3623 Meter unter der Eisoberfläche. Auf den letzten 84 Metern, stellte sich heraus, hatte die Bohrung wieder angefrorenes Eis aus dem See durchquert. Die Analyse dieses Eises lieferte einen ersten Einblick in die Verhältnisse in dem größten bekannten subglazialen See: Anscheinend gibt es dort Leben, denn das Eis enthielt diverse Arten von Mikroben, die zum Teil noch lebensfähig waren. Einige Bakterien waren mit den Bewohnern heißer Tiefseequellen verwandt und gaben Spekulationen Raum, am Boden des Wostoksees könnte es solche hydrothermalen Quellen geben. Auch Sedimentteilchen kamen zum Vorschein. Datierungen ergaben ein Alter von 1,8 Milliarden Jahren – womöglich ein Hinweis darauf, dass der Wostoksee in einem Bett aus uralten Felsen ruht. Nach einer Bedenkpause nahm das russische Team 2005 die Arbeiten wieder auf – nun mit dem Ziel, bis zur Wasseroberfläche vorzudringen. „Die Russen wollen unter allen Umständen die Ersten sein, die einen See erreichen“, sagt Christoph Mayer, Geophysiker bei der Kommission für Glaziologie der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. „Davon lassen sie sich nicht abbringen.“ Doch der russische Vorstoß ist unter Wissenschaftlern umstritten. Kritiker befürchten, dass das jungfräuliche Ökosystem des Sees durch die Bohrung verunreinigt wird.

Behutsamer Vorstoss

Immerhin befinden sich im Bohrloch 60 Tonnen Bohrflüssigkeit – eine Mischung aus Kerosin und dem Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoff Freon. Darin wimmelt es von Mikroben. „Der Plan ist nun, die letzten 20 Meter über dem See mit einem Thermalbohrer zu durchdringen“, berichtet Mayer. „Im unteren Bereich soll steriles Silikonöl als Bohrlochflüssigkeit verwendet werden.“ Wenn der Bohrer zum See durchgestoßen ist, soll er schnell wieder hochgezogen werden, damit Seewasser in das Bohrloch eindringen kann. Ein Jahr wollen die Russen warten, bevor sie dieses – dann gefrorene – Seewasser erneut anbohren und Proben nehmen. „Die Idee dahinter ist, dass das Wasser auf einen Schlag ins Bohrloch hineinschießt, mitsamt aller Gase, Salze, Mikroben und Schwebteilchen, die vielleicht darin enthalten sind“, erklärt der Münchner Geophysiker. So hoffe man, ein realistischeres Bild von den Bedingungen im See zu bekommen als durch die schon vorhandenen Seeeis-Proben. Mayer: „Dieses Eis ist ja extrem langsam am Dach des Sees angefroren, wobei viele im Wasser gelöste Stoffe abgesondert wurden.“

Doch zurzeit geht es mit den Arbeiten kaum voran. Das Bohrloch liegt immer noch 80 Meter über dem Dach des Sees. Im Sommer 2006/2007 blieb der Bohrer stecken und brach schließlich ab. Die Trümmer konnten zwar wieder entfernt werden, doch 2008 gab es neue Probleme. Das vier Kilometer lange Stahlkabel, an dem das Bohrgerät hängt und das Strom- und Datenkabel enthält, riss an zwei Stellen und musste ausgetauscht werden. Auch zwei Filter rissen ab und ließen sich nicht aus dem Bohrloch entfernen. Daher muss die Bohrung beim nächsten Versuch 30 Meter weiter oben abgelenkt werden.

Schmelzwasser bahnt den Weg

Ein europäisches Team um den Londoner Forscher Martin Siegert hat sich ein leichter zugängliches Gewässer für den ersten Vorstoß in die Unterwelt ausgesucht: Lake Ellsworth heißt der See, der etwa zehn Kilometer lang und drei Kilometer breit ist. Für Siegert bietet dieses Gewässer mehrere Vorteile: „Weil der See klein ist, können wir die Vorgänge darin leicht verstehen. Er ist von der britischen Halley-Station gut mit dem Flugzeug zu erreichen, und er liegt in der Westantarktis.“ Dort ist das Eis 20 Grad wärmer als beim Wostoksee, was eine Bohrung mit heißem Wasser erleichtert. Eine Heißwasserbohrung gilt als schonendste Methode, um subglaziale Gewässer zu erschließen. Dabei wird der Weg nach unten mit geschmolzenem Gletschereis gebahnt – dem gleichen Material, das den See ohnehin speist. Doch die Methode verschlingt viel Energie und ist daher teuer.

Für das Anstechen von Lake Ellsworth gibt es einen Achtjahresplan. Im Südsommer 2007/2008 erkundete ein britisches Team den See erstmals mit Bodenradar und Seismik. Die ersten Ergebnisse zeigen, dass Lake Ellsworth über 100 Meter tief ist und dass sich am Boden, wie erhofft, Sedimente befinden. Nach drei Jahren Fernerkundung soll die nötige Ausrüstung für die Bohrung herangeschafft werden. Bis dahin muss noch ein ferngesteuerter Roboter entwickelt werden, der Wasser- und Sedimentproben nehmen kann. „Wenn alles gut geht, kann die Erforschung von Lake Ellsworth im Sommer 2012/2013 beginnen“, sagt Martin Siegert. Für den Briten ist das der ideale Zeitpunkt: 100 Jahre, nachdem der britische Forscher Robert Scott in einer dramatischen Expedition als erster Mensch den Südpol erreichte. Der Startschuss für den Wettlauf ins Herz des antarktischen Kontinents ist gefallen. ■

Ute Kehse, Geophysikerin und Wissenschaftsjournalistin, hat auf einer Forschungsreise selbst eiskalte Antarktisluft geschnuppert.

von Ute Kehse

stich ins Herz der eisigen Wasserlandschaft

Vorsichtig durchbohren Polarforscher seit ein paar Jahren das dicke Eis über dem Wostoksee im Osten der Antarktis. Spezielle Bohrtechniken sollen verhindern, dass Mikroben eindringen. Das Wasser braucht Tausende Jahre, um den See zu durchströmen.

Kompakt

· Bislang sind rund 180 unterirdische Seen in der Antarktis bekannt.

· Sie können das Erdklima beeinflussen.

· Russische Forscher wollen bis zum Wostoksee vorstoßen, wo sie urtümliche Lebensformen vermuten.

Mehr zum Thema

Internet

Infos der Europäischen Kommission über die Erforschung der Polargebiete (aus dem „Magazine of European Research“): ec.europa.eu/research/rtdinfo/special_pol

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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♦ Elek|tro|nen|op|tik  〈f. 20; unz.〉 Gebiet der Elektronik, das sich mit den der Optik ähnlichen Eigenschaften der Elektronenstrahlen befasst

♦ Die Buchstabenfolge elek|tr… kann in Fremdwörtern auch elekt|r… getrennt werden.
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