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Ute Kehses Japan-Report: Anatomie eines Erdbebens

Erde|Umwelt

Ute Kehses Japan-Report: Anatomie eines Erdbebens
Es fühlte sich an wie das langsame Rollen eines Schiffes bei kräftigem Seegang. Die ersten Erdstöße waren noch schwach. Nach gut eineinhalb Minuten kamen die stärksten Wellen. Sie schüttelten den Erdboden der japanischen Insel Honshu vor allem in horizontaler Richtung. Sechs Minuten lang hielt das starke Gewackel des Hauptbebens am 11. März in Tokio an, dann folgten die Nachbeben. „Anfangs spürte man die neuen Schläge im Minutentakt, dann wurden es allmählich weniger“, berichtet der Seismologe Frederik Tilmann vom Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam. Er nahm zur Zeit des Erdbebens an einem Workshop in der Nähe von Tokio teil und erlebte erstmals ein Beben dieser Stärke am eigenen Leib.

Inzwischen haben Seismologen die Ereignisse etwas genauer analysiert (z. B. eine Zusammenstellung des USGS oder hier eine Linksammlung). Auf lange Sicht, hofft etwa der Seismologe William Ellsworth vom Geologischen Dienst der USA (USGS), werden die Erdstöße vom 11. März seiner Zunft dringend benötigte Einblicke in die Anatomie solcher zerstörerischen Monsterbeben geben. Denn kein anderes Erdbeben wurde bislang so genau beobachtet. Allein in Japan, dem am besten mit Seismographen ausgestatteten Land der Welt, zeichneten 800 seismische Stationen die Erdbebenwellen auf. 1.200 GPS-Stationen registrierten, wie sich die Erdkruste durch das Beben teils um mehrere Meter verschob. Auch überall sonst auf der Welt trafen die Erdbebenwellen aus Japan innerhalb von etwa 20 Minuten ein. Schon jetzt zeigen die inzwischen gesammelten Daten, welch gewaltige Kräfte vor der Küste von Honshu entfesselt wurden.

Mit einer Magnitude von 9,0 war es das fünftstärkste Erdbeben auf der Erde, das je mit Instrumenten aufgezeichnet wurde, also etwa seit dem Jahr 1900. Japan hat in dieser Zeit zwar mehrere verheerende Erdbebenkatastrophen erlebt, aber nie ein Beben von vergleichbarer Stärke. Zuletzt ereignete sich ein ähnlich starkes Beben womöglich vor mehr als tausend Jahren, im Jahr 869 nach Christus. Das legen historische Berichte und Tsunami-Ablagerungen in der Ebene von Sendai nahe. Ungewöhnlich war diesmal das starke Vorbeben mit der Magnitude 7,2 nur 40 Kilometer weiter nördlich, das sich zwei Tage vorher ereignete. „Meines Wissens hat es das bei einem derart starken Beben noch nicht gegeben“, sagt Joachim Saul vom Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam. „Normalerweise kommt das stärkste Beben zuerst.“ Die Sequenz aus inzwischen gut 500 Nachbeben, von denen zwei nur wenige Minuten nach dem Hauptbeben fast die Magnitude 8 erreichten, ist zwar heftig, aber „im üblichen Rahmen“, wie Saul sagt. Die Nachbeben können noch Monate anhalten.

Schauplatz des Bebens war die Plattengrenze zwischen der Pazifischen und der Nordamerikanischen Platte. Am Japangraben östlich der Küste von Honshu befindet sich der oberflächlich sichtbare Teil dieser Grenze, doch sie setzt sich in der Erdkruste fort. Sie verläuft aber nicht senkrecht, sondern schräg. Mit einem Winkel von 14 Grad und einer Geschwindigkeit von 8,3 Zentimetern pro Jahr taucht die Pazifische Platte unter Japan in den Erdmantel ab. Je weiter man unter Nord-Honshu nach Westen kommt, desto tiefer liegt also die Plattengrenze. Am unterirdischen Teil der Grenze waren die beiden Platten seit Jahrzehnten verhakt. Jedes Jahr nahm die Pazifische Platte das darüber liegende Land daher ein Stück auf ihrer Wanderung nach Westen mit. Japan verformte sich dadurch und wölbte sich auf. Es baute sich Spannung auf, ähnlich wie bei einer Feder, die zusammengedrückt wird.

Doch am 11. März, um 14:46 Uhr Ortszeit, entlud sich die aufgestaute Spannung. Etwa 120 Kilometer östlich der Stadt Sendai entstand 24 Kilometer unter der Erde ein Bruch, der sich sowohl nach Süden als auch nach Norden hin ausbreitete. Drei Minuten dauerte es, bis der Riss an beiden Enden wieder zum Erliegen kam. Doch das war nicht alles, wie eine Analyse der Harvard-Forscher Eric Kiser und Miaki Ishii zeigt: Innerhalb von 25 Minuten nach diesem ersten, stärksten Schlag brachen weitere Teile der Plattengrenze. Das waren keine klassischen Nachbeben, meinen die Forscher. Denn Nachbeben ereignen sich normalerweise im gleichen Bereich der Plattengrenze wie das Hauptbeben. Kiser und Ishii glauben, dass die Plattengrenze in zahlreiche Bruchstücke zerfällt, die jeweils mit kurzer Zeitverzögerung zu rutschen begannen. Wären alle auf einen Schlag gebrochen, hätte das Gesamtbeben die Magnitude 9,4 erreicht.

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Insgesamt erfasste das Erdbeben eine 400 Kilometer lange und gut hundert Kilometer breite Fläche, die kurz vor der Küste der Insel Honshu endete. Am stärksten bewegte sich der Erdboden seewärts des Epizentrums: 27 Meter schnellte die vorher zusammengepresste Erdkruste dort relativ zur Pazifischen Platte nach Osten. Die Küste von Nordost-Japan bewegte sich immerhin noch etwa vier Meter nach Osten und sank als Folge der Entspannung um einen halben Meter ab. Womöglich wird ein Teil der vom Tsunami überfluteten Gebiete durch diese Senkung dauerhaft unter Wasser bleiben. Der südliche Teil der Insel Honshu bewegte sich dagegen nicht.

Berechnungen von Shinji Toda von der Universität von Kyoto, Ross Stein und Volkan Sevilgen vom Geologischen Dienst der USA (USGS) zeigen, wie das Beben die Spannung an den umliegenden Plattengrenzen verändert hat. „Es gibt keine simple Story“, sagt Frederik Tilmann vom GFZ. Viele geologische Verwerfungen an Land scheinen durch das Beben entlastet worden zu sein, doch nördlich und südlich der Bruchzone stieg die Spannung an. Eine Plattengrenze südlich von Tokio, die zuletzt 1923 geborsten war und damals eine Katastrophe mit 130.000 Todesopfern verursacht hatte, wurde durch das jetzige Beben eher entlastet, zeigen die Berechnungen.

Wie das Beben heißen soll, darüber besteht übrigens keine Einigkeit. „Offizielle Namen gibt es nicht“, sagt Joachim Saul. Zuerst war häufig vom Sendai-Beben zu hören, wegen der Nähe der gleichnamigen Stadt zum Epizentrum. Doch weil die Bruchzone so lang war, wird inzwischen meist der Name der betroffenen Region im Norden von Honshu verwendet: Tōhoku. Die Japanische Meteorologische Agentur spricht etwas umständlich vom „2011 off the Pacific coast of Tōhoku Earthquake“, der USGS nennt es dagegen „das Große Tōhoku-Erdbeben“. Die Internet-Gemeinde ist noch gespalten. Auf der deutschen und englischen Wikipedia-Seite hat sich Tōhoku durchgesetzt, doch auf Plattdeutsch, Norwegisch, Griechisch und Esperanto ist noch vom Sendai-Beben die Rede.

Alle Beiträge in Ute Kehses Japan-Report finden Sie hier

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