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Was macht eigentlich der Paläohydrologe Knut Kaiser

Erde|Umwelt

Was macht eigentlich der Paläohydrologe Knut Kaiser
Ein Mann, ein See – Knut Kaiser beobachtet mit großem persönlichem Einsatz, wie der Große Fürstenseer See im Müritz-Nationalpark auf den Klimawandel reagiert.

31. August 2011: Großer Bahnhof am Großen Fürstenseer See. Auf den matschigen Parkplatz am Badestrand rollt die schwarze Limousine von Reinhard Hüttl, Direktor des Geoforschungszentrums (GFZ) Potsdam und Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech). Im Schlepptau des Forschungsmanagers folgt ein Tross von Wissenschaftlern des GFZ und von Partnerinstituten. Sie wollen sich über die ersten Ergebnisse des Tereno-Observatoriums Nordostdeutsches Tiefland austauschen. Im Rahmen von Tereno (Terrestrial Environmental Observatories) studieren Forscher die Auswirkungen des Klimawandels in vier deutschen Regionen: in den bayerischen Alpen und dem Voralpenland, in der Eifel und am Niederrhein, im Harz und seinem Umland sowie im Nordostdeutschen Tiefland. Für Knut Kaiser ist das Treffen ein besonderer Tag. Immer wieder hat der 44-Jährige Zeit in dieser Gegend verbracht, schon Ende der 1970er-Jahre mit seinen Eltern beim Campen in den Sommerferien. Die Mecklenburgische Seenplatte, den Müritz-Nationalpark und insbesondere den Großen Fürstenseer See kennt Kaiser wie seine Westentasche.

Was der „Paläohydrologe” – der eigentlich Physischer Geograph mit den Schwerpunkten Wasser, Boden und Relief ist – gleich unter den Augen der GFZ-Prominenz präsentieren wird, sind die Untersuchungen seit dem Start des Tereno-Observatoriums vor einem Jahr. Doch in seinen Vortragsfolien stecken nicht nur Messwerte. Sie repräsentieren jahrzehntelange Erfahrung in der Region und ein Gefühl für die dortigen Seen, das ein zugereister Forscher kaum vorweisen könnte. Nicht zuletzt deshalb sind Kaisers Ausführungen so glaubhaft – und so dramatisch: Der Seespiegel sinkt, und zwar rasant. Die Kurve, die den Wasserstand des Großen Fürstenseer Sees zeigt, schlängelt sich im Jahresrhythmus auf und ab, doch langfristig geht es eindeutig bergab.

Tags zuvor, bei einer Privatführung zu einigen Stellen am Ufer, die für die anstehende offizielle Führung hergerichtet wurden, zeigt Knut Kaiser, was das bedeutet. Er streckt die Arme aus und zeichnet eine imaginäre Linie vor seine Füße. „Hier bin ich als Kind ins Wasser gesprungen”, sagt er. Das Ufer liegt fast 20 Meter davon entfernt und etwa einen Meter tiefer. Der Forscher deutet hinter sich. Nach dem Krieg habe das Ufer noch 20 Meter weiter draußen und einen Meter höher gelegen – dort, wo heute ein Laubwald wächst. Das weiß der kontaktfreudige Geograph aus Gesprächen mit Anwohnern.

Eine wichtige Forschungsfrage von Knut Kaiser und seinen Kollegen am Tereno- Observatorium: Verändern sich die Seen im Müritz-Nationalpark – stellvertretend für den gesamten deutschen Nordosten – als Folge des Klimawandels? Die Frage kann mit „Ja” beantwortet werden. Doch Vorsicht: Nicht jede Schwankung in einer Messkurve geht auf das Konto der globalen Erwärmung. Der Mensch nimmt in Kulturlandschaften wie in Deutschland seit Jahrhunderten Einfluss auf die Natur – durch Land- und Forstwirtschaft oder durch den Bau von Dämmen und Bewässerungskanälen. Diese Effekte herauszurechnen, ist eine große Herausforderung für die Wissenschaftler.

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Weil sein persönliches Wasserstand-Archiv nur etwa drei Lebensjahrzehnte zurückreicht, muss Knut Kaiser andere Quellen erschließen. Über eine Zeitungsanzeige suchte er nach älteren Menschen, die den See schon lange kennen. Mehrere Anwohner meldeten sich. Wie der Badegast, der gerade aus dem Wasser steigt, weil er den Forscher auf dem Bootssteg referieren hörte: „ Ich bin der, der ihnen damals die Fotos geschickt hat”, sagt der ältere Herr. Knut Kaiser erinnert sich und beginnt eine lebhafte Diskussion mit dem Zeitzeugen, den er aus einem regen Briefwechsel kennt, aber noch nie zuvor persönlich getroffen hat. Es wird wild gestikuliert, hinüber ans andere Ufer gedeutet und über alte Zeiten gesprochen, als das Gewässer unter dem Steg die Bezeichnung „Groß” noch mehr verdient hatte als heute.

Kaisers verlässlichster Wasserstand-Zeuge für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist Dieter Gutzmann. Er war einst Förster in der Region und wohnt heute auf einer Anhöhe mit Blick auf den Badestrand. Gutzmanns Vater war Fischer auf dem See, die Familiengeschichte ist also eng mit dem Gewässer verwoben. Der Sohn des Waidmanns baut gerade ein Haus, einige Hundert Meter vom Ufer entfernt. Beim Ausheben des Kellers stießen Arbeiter auf eine gestochen scharfe Abfolge verschiedenfarbiger Erdschichten. Der Bauherr kannte das Interesse von Knut Kaiser und informierte ihn über den Fund.

Nun nehmen Nadia Fekkak und Hagen Gravenstein Bodenproben vor der Baustelle – dort, wo auch für Laien deutlich sichtbar eine dunkle in eine helle Erdschicht übergeht. Bei der dunklen Schicht handelt es sich um Torf, der von Sand aus dem See überdeckt ist. Um ihn zu bergen, hämmern die beiden Marburger Studenten, die im Team von Knut Kaiser mitarbeiten, eine Art aufgesägten Blumenkasten aus Stahl von vorn in das Bodenprofil und holen ihn vorsichtig wieder heraus. In Frischhaltefolie verpackt tritt der Kübel den Weg ins Labor an, wo die Zusammensetzung seines Inhalts untersucht wird. Die Proben erlauben Rückschlüsse auf die Entstehungsgeschichte der Sedimente. Datieren lässt sich der Torf durch Radiokohlenstoff-Analysen. Zusätzliche Analysen der eingeschlossenen Pollen helfen, die damalige Vegetation zu enträtseln. Alles zusammen wird Aufschluss über die örtliche Landschaftssituation geben, zum Beispiel über den Pegel von Grundwasser und Seeoberfläche.

In schweißtreibender Arbeit haben die beiden Jungforscher das zweieinhalb Meter tiefe Loch neben dem Rohbau gegraben. Insgesamt 30 solche Gruben sind im sandigen Untergrund rund um den Großen Fürstenseer See entstanden. Die meisten davon liegen gut versteckt im Unterholz des dichten Waldes. Leuchtend pink markierte Zweige und die feine geographische Spürnase führen zu den Gruben. Hier kommt sonst niemand her, deshalb müssen die Gruben auch nicht abgedeckt werden – bis auf das Loch auf dem Bauplatz, das später am Tag mit Brettern verschlossen und durch ein Absperrband gesichert wird.

Der Torf, den Fekkak und Gravenstein angestochen haben, markiert wahrscheinlich die Zeit um 1250. Damals befand sich in der Gegend des heutigen Sees noch ein Moor. Über dem Torf folgt eine helle, gut einen Meter dicke Sandschicht, die sich ablagerte, als das Seewasser höher stand. Diese Arbeitshypothese hat das Team anhand anderer, schon datierter Profile vom Seeufer aufgestellt.

Mitunter gelingt die Datierung schon im Gelände. Die Studenten haben Keramik-Scherben gefunden, die verblüffend präzise Hinweise auf das Entstehungsalter der Seesandschicht über dem Torf geben. Kaiser zeigt zwei Keramik-Bruchstücke, sogenannte Harte Grauware. Die Slawen, die einst in der Müritz-Region lebten, hatten so etwas nicht. Ihre Nachfolger ließen sich Anfang des 13. Jahrhunderts hier nieder, und aus dieser Zeit könnte auch der Übergang von Torf zu Seesand stammen. Ein Holzkohlestück aus einer anderen Grube, das auch in einer solchen Übergangsschicht gefunden wurde, passt ins Bild. Es wurde im Labor auf das Jahr 1275 datiert. Der kleine Hügel, der einen Steinwurf vom Bauplatz entfernt ist, könnte etwa genauso alt sein. Bei der Erhebung handle es sich um einen Turmhügel aus dem Mittelalter, meint Kaiser.

Nachdem die Grube am Bauplatz des Förstersohns abgedeckt ist, geht die Fahrt weiter zum Großen Kulowsee – ein kleineres Gewässer direkt auf der anderen Straßenseite, an der Südspitze des Fürstenseer Sees. Ziel ist Grube Nummer sieben, die Fekkak und Gravenstein in den vergangenen Tagen ausgehoben haben. Zu aller Enttäuschung ist das Loch mit Wasser voll gelaufen, nur wenige Meter dahinter ist ohne Gummistiefel kein Weiterkommen mehr. Dort regieren Stechmücken, die das mitgebrachte Mückenspray einfach ignorieren. Jetzt wird klar, warum die Drei trotz brütender Hitze lange Hosen und Shirts tragen. Mit einer Schüssel schöpfen die Forscher die Grube aus und bestimmen grob die Abfolge der Schichten. Mehr ist hier nicht drin. Durch die Bäume schimmert der Kulowsee, der wegen des nassen Sommers höher steht als die Jahre zuvor. Ein Hydrologe sieht sofort Widersprüchliches: Aus dem Wasser ragen Kiefern, die vom hohen Wasserspiegel überrascht wurden. Kiefern mögen keine nassen Füße. Sie konnten hier also nur wachsen, weil es die letzten Jahrzehnte deutlich trockener war – wohl eine Folge des Klimawandels. Solche simplen Beobachtungen zeigen dem Fachmann, dass hier hydrologisch einiges aus dem Lot geraten ist.

Die 50 Jahre, die man durch Befragung von Anwohnern ziemlich exakt rekonstruieren kann, sind angesichts der Klimakapriolen, denen die Erde ausgesetzt war, viel zu kurz, um eindeutige Aussagen über den Zusammenhang von Hydrologie und Klima zu machen. Wo die Erinnerung von Zeitzeugen endet, muss Knut Kaiser deshalb andere Quellen erschließen. So schlummern in den Archiven Luftbilder der Müritz-Region aus den 1930er- und 1940er-Jahren, als die Mecklenburgische Seenplatte noch kaum industrialisiert war. Auf manchen Bildern sieht man wassergefüllte Entwässerungsgräben, von denen es viele heute nicht mehr gibt. Diese gilt es zu berücksichtigen, wenn die entscheidende Frage beantwortet werden soll: Welche Veränderungen lassen sich dem Klimawandel zuschreiben, welche davon dem Menschen, und was sind natürliche Schwankungen? In dieser Grauzone ist Vorsicht geboten. So macht die fallende Kurve des Seespiegels, die Knut Kaiser am 21. August den Kollegen präsentierte, an ihrem Ende einen deutlichen Schlenker nach oben. Wer seinen Urlaub 2011 in Deutschland verbracht hat, weiß warum. Die beiden letzten Sommer waren so verregnet, dass der Seespiegel nun wieder einen Teil des klimabedingten Absinkens wettgemacht hat. Doch kaum einer aus Kaisers Zunft geht davon aus, dass das eine nachhaltige Wende ist.

Vielmehr wird die zunehmende Verdunstung des Seewassers infolge der Erwärmung vermutlich weiter am Großen Fürstenseer See zehren – aber eben nicht kontinuierlich, sondern mit jährlichen Schwankungen. Dann werden auch die Kiefern, die am Großen Kulowsee wachsen, wieder trockene Füße haben.

Kaisers offizielle Berufsbezeichnung ist „Physischer Geograph” , doch aktuell betreibt er Paläohydrologie. Die Vorsilbe „Paläo” klingt nach Dinosauriern und Urmenschen. Ganz so weit zurück in die Vergangenheit geht die Rekonstruktion des Klimas nicht, aber bis zur letzten Eiszeit vor etwa 15 000 Jahren brauchen die Klimaforscher verlässliche Angaben. Dazu arbeitet Knut Kaiser unter anderem mit Dendrochronologen des GFZ zusammen, die aus Jahresringen von Bäumen auf die Klimabedingungen der vergangenen Jahrhunderte schließen. Ergebnis: So einzigartig scheint der zurzeit niedrige Seespiegel nicht zu sein. Längere Trockenperioden mit dementsprechend niedrigen Seespiegeln gab es in Nordostdeutschland im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte immer wieder.

Dass Kaisers Leben und Forschungsinteresse so eng mit dem Großen Fürstenseer See verknüpft ist, ist ein Glücksfall. Denn dieses Gewässer ist ein Paradies für Klimaforscher, Hydrologen, Geologen und Biologen. Nirgends in Deutschland gibt es noch vom Menschen unberührte Landschaften. Auch die Müritz-Region wird seit 800 Jahren von Menschen geformt. Doch verglichen mit anderen Kulturlandschaften waren die Eingriffe der Siedler in der von Wäldern, Seen und Mooren geprägten Landschaft gering. Teile des heutigen Müritz-Nationalparks werden seit gut 200 Jahren kaum noch forst- oder landwirtschaftlich genutzt. Damals riss sich der Großherzog von Mecklenburg-Strelitz die Wälder im Gebiet um die Ortschaft Serrahn als Jagdgebiet unter den Nagel – eine Tradition, die die Nazis und später das DDR-Regime fortführten. Nur 100 Meter hinter dem Parkplatz am Seeufer erstreckt sich zudem ein abgesperrtes Areal, auf dem zunächst die Nazis Munition herstellten und später die russische Armee Treibstoff lagerte. Das Gebiet gilt wegen Munitionsresten im Boden heute noch als lebensgefährlich. Seit 1990 ist das Müritz-Gebiet Nationalpark – und eine ideale Messlatte für Klimaveränderungen und Effekte, die scheinbar gar nichts mit der Erderwärmung zu tun haben. „Die Seen sind wie empfindliche Oszillographen”, erklärt Kaiser: „Ein kleiner Impuls löst große Veränderungen aus.”

Neben dem See steht auch die Pflanzenwelt rundherum im Fokus der Forscher. So gehen gleich mehrere Baumexperten im Tereno-Observatorium der Frage nach, aus welcher Wasserquelle die Bäume am Ufer die Nährstoffe beziehen – aus dem Grundwasser oder aus dem Oberflächenwasser des Sees. Das ist ein komplizierter Prozess, der sich im Verlauf der Jahreszeiten verändert.

Einsame Spitze unter den Baumforschern ist Anne Clasen. Eine halbe Autostunde vom Großen Fürstenseer See entfernt hat sie eine luftige Plattform errichtet, die im Wortsinn der Höhepunkt des Tereno- Projekts und idealer Abschluss des wis-

senschaftlichen Feldtages ist. Bei heißer Gulaschsuppe stärken sich die Gäste, bevor die Schwindelfreien unter ihnen in einer Gondel an einem Kran in 40 Meter Höhe über die Baumwipfel schweben dürfen. Dort untersucht Anne Clasen den physiologischen Zustand der Baumkronen, beispielsweise die Aktivität der Photosynthese. Mehrere Jahre lang wird sie für ihre Doktorarbeit immer wieder durch die Bäume gondeln.

Knut Kaiser kennt das Prinzip von Ursache und Wirkung, wie es sich an den Seen im Müritz-Nationalpark gut studieren lässt, aus seiner eigenen Biografie. 1967 in Rostock geboren, trieb er sich schon als Kind viel bei Archäologen, Denkmalpflegern und Naturschützern herum. Er engagierte sich in der Umweltbewegung – in der DDR ein sicherer Karrierekiller. Doch dann kam die Wende – in der Politik und im Leben des Ökorebellen, berichtet Knut Kaiser im bdw-Interview:

Sie haben promoviert und sich habilitiert, aber kein richtiges, sprich gymnasiales Abitur. Wie kam es dazu?

Ich war in der Umweltbewegung und durfte kein Abitur machen. Also habe ich mich für eine Maurerlehre entschieden. Über den Naturschutz bin ich dann in meinen heutigen Beruf hineingerutscht. 1990, direkt nach der Wende, habe ich mit dem Studium der Wasserwirtschaft angefangen, was mir aber zu ingenieurhaft war. Deshalb sattelte ich auf Geographie um.

Sie haben in Ostdeutschland studiert und forschen jetzt auch dort. Eine Phase ihres Lebenslaufs fällt da völlig heraus: Ihre sechs Jahre in Tibet …

Zwischen 2002 und 2008 war ich immer wieder mal dort und habe den langfristigen Umweltwandel untersucht und mich über bodenkundliche Themen auch an der Universität Marburg habilitiert.

Und wie wandelt sich die Umwelt in Tibet?

Enorm. Es gab mal Wald in dieser Region, bis durch die Chinesen die letzten Reste davon fast verschwanden. Auch die Tibeter haben abgeholzt, waren aber längst nicht so effektiv. Heute gibt es nur noch winzige Waldreste bis in 4900 Meter Höhe über dem Meeresspiegel – übrigens die höchstgelegenen Wälder der Welt.

Was hat der Schwund des Waldes in Tibet mit dem Großen Fürstenseer See zu tun?

Im Grunde geht es in vielen meiner Arbeiten um die Frage, wie der Mensch in die Natur eingreift und wie die Natur darauf reagiert.

Wissenschaft sei 10 Prozent Inspiration und 90 Prozent Transpiration, sagt man. Bei ihnen scheint das ganz besonders zu gelten. Auf allen Bildern, die sie bei der Arbeit zeigen, tragen sie ein rotweiß-kariertes Maurerhemd. Das sieht nach harter Arbeit aus …

Allerdings. Bei uns geoarchiv-orientierten Physischen Geographen kommt die Transpiration vor allem durch den hohen Anteil an Tiefbauarbeiten. Rund um den Großen Fürstenseer See haben wir viele Profilgruben ausgehoben und Bohrungen vorgenommen. Das strengt an. Doch damit kein falscher Eindruck entsteht: Ich habe nicht nur ein einziges rotkariertes Hemd …

Seit wann beschäftigen Sie sich mit den Seen im Müritz-Nationalpark?

Das Geoforschungszentrum Potsdam ist seit 2009 hier, aber die Arbeiten im Rahmen des Tereno-Projekts laufen jetzt erst richtig an. Ich selbst kannte den See schon als Kind. Eigentlich haben wir Wissenschaftler die Veränderungen dieses Sees und der anderen Seen in der Region erst spät verstanden. Naturschützer machen schon lange auf die sinkenden Seespiegel aufmerksam, die Bevölkerung berichtet seit den 1990er-Jahren darüber. Sogar Politiker haben das Problem erkannt, das für eine Region, die enorm vom Wasser abhängt, bedrohlich ist. Warum ist das Tereno-Konzept so besonders?

Weil wir bei Tereno mit völlig verschiedenen Methoden dieselbe Sache untersuchen. Hydrologie, Bodenkunde, Baumring-Datierung, Wetterbeobachtung, Vegetationsuntersuchung – das sind viele Puzzleteile, die bisher noch nicht zusammengesetzt wurden. Wir wollen herausfinden, welche Auswirkungen der Klimawandel auf die Landschaft hat.

Sie untersuchen die hydrologische Entwicklung hier am See in der Vergangenheit und Gegenwart. Was ist mit der Zukunft?

Das ist in der Tat des Pudels Kern. Die Vergangenheit ist spannend, aber natürlich wollen wir vor allem auf die künftige Entwicklung schließen. Das Klima in dieser Region scheint auf einen trocken-warmen Zustand wie vor 8000 bis 9000 Jahren zuzulaufen. Beim Großen Fürstenseer See war der Wasserstand um 1300 wahrscheinlich zwei bis drei Meter höher als heute. Allerdings darf man die Situation nicht dramatisieren. Der höhere Seespiegel vor 700 Jahren war vielleicht auch menschengemacht. Die deutschen Siedler hatten großflächig den Wald abgeholzt. Dadurch bildete sich mehr Grundwasser, was zu einem Anstieg von Grundwasser- und Seespiegel führte. Es gibt in dieser Gegend Seen, deren Spiegel in den letzten Jahrtausenden viele Meter höher, zeitweise aber auch etwas tiefer lag als heute. Die Schwankungen sind historisch gesehen enorm und die heutigen Werte noch innerhalb dieser Grenzen.

Machen die zwei letzten verregneten Sommer nicht ihre Theorie vom Klimawandel kaputt?

Überhaupt nicht. Solche Schwankungen sind normal und für uns sehr interessant. Wir sehen dadurch nämlich, wie der See auf solche Wetterkapriolen antwortet. Das ist wichtig, weil wir nur so die Daten richtig interpretieren können. Zum Glück ist das Tereno-Projekt sehr langfristig angelegt, sodass wir den See die nächsten 20 Jahre beobachten und kurzfristige Ereignisse richtig einordnen können.

Neben Knut Kaiser arbeiten noch andere Forscherteams im Tereno-Observatorium Hand in Hand am selben Thema. So untersucht Theresa Blume den komplizierten Wasserhaushalt des Hinnensees, eines Zipfels im Norden des Großen Fürstenseer Sees. Dazu hat sie ein Glasfaserkabel durch den See gelegt. Je nach Temperatur wird Laserlicht im Kabel unterschiedlich reflektiert. Über eine Strecke von 1000 Metern kann Blume die Temperatur längs des Kabels metergenau messen und daraus den Zufluss von Grundwasser bestimmen. Denn die Seen im Müritz-Nationalpark speisen sich vielfach aus Grundwasser, Bäche und Flüsse existieren hier kaum.

Es gibt noch viele offene Fragen in der sensiblen Landschaft des deutschen Nordostens. Knut Kaiser brennt darauf, sie zu beantworten. Doch sein Vertrag bei acatech und GFZ lief Ende 2011 aus. Seit Mitte der 1990er-Jahre hangelt sich der Wissenschaftler von einem befristeten Arbeitsverhältnis zum nächsten. In 15 Jahren hatte er sechs Verträge bei drei verschiedenen Arbeitgebern. Und er war dreimal arbeitslos. Doch bei der Präsentation seiner Forschungsergebnisse wirkt er erstaunlich gelassen. Der Feldtag lief gut für ihn, es gab viel Lob – auch von seinem Chef Reinhard Hüttl. Der bedankt sich bei allen Beteiligten und erklärt diplomatisch, dass man die exzellente Arbeit fortsetzen werde. Und tatsächlich: Kurz vor Redaktionsschluss erhielt Kaiser die gute Nachricht, dass acatech und GFZ ihn für weitere zwei bis drei Jahre anstellen. Damit ist der Grundstein dafür gelegt, dass die erfolgreiche Allianz von Knut Kaiser und dem Großen Fürstenseer See weiter besteht. ■

Bernd Müller durfte Knut Kaiser mehrere Tage lang rund um den See begleiten – einer seiner bislang eindrucksvollsten Recherchetermine.

von Bernd Müller (Text und Fotos)

Kompakt

· Knut Kaiser verfolgt den Rückgang des Wasserspiegels am Großen Fürstenseer See seit seiner Jugend.

· Zurzeit untersucht er die Auswirkungen des Klimawandels auf die Region im Nordosten Deutschlands.

· Er nimmt Bodenschichten, Seeablagerungen und Baumkronen ins Visier.

wMehr zum Thema

Internet

Homepage von Tereno (Terrestrial Environmental Observatories): teodoor.icg.kfa-juelich.de/overview-de

Helmholtz-Zentrum Potsdam – Deutsches Geoforschungszentrum: www.gfz-potsdam.de

Information zum aktuellen Forschungsstand über mögliche künftige Auswirkungen des Klimawandels in Deutschland: www.regionaler-klimaatlas.de

Team Georessource Wasser der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech, Knut Kaiser): www.acatech.de/de/projekte/laufende-projekte/georessource-wasser.html

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