Die Positionierung des Plädoyers der Staatsanwaltschaft vor der Verteidigung entspricht daher nach Ansicht von Englich nicht dem juristischen Verfahrensgrundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“. Tatsächlich könne gezeigt werden, dass die Strafmaßforderung der Staatsanwaltschaft deutlich an Einfluss verliert, wenn die Verteidigung zuerst plädiert. Hinzu komme, dass nicht nur das Urteil des Richters, sondern auch schon die Verteidigung von der Vorgabe der Staatsanwaltschaft beeinflusst wird: Auch sie passt sich der Strafmaßforderung des Staatsanwalts an.
Die Würzburger Psychologen führen das auf so genannte Ankereffekte zurück. Darunter versteht man den Einfluss einer Zahlenvorgabe auf numerische Urteile, wenn diese „unter Unsicherheit“ gefällt werden ? das bedeutet unter suboptimalen Urteilsbedingungen, zum Beispiel wenn eine Entscheidung unter Zeitdruck oder aufgrund unvollständiger oder nicht eindeutiger Informationen getroffen werden muss oder wenn der Urteiler abgelenkt ist.
Strafurteile sind in der Regel numerische Urteile unter Unsicherheit, denn es werden die Dauer von Haftstrafen, die Höhe von Geldstrafen oder die Dauer gemeinnütziger Tätigkeiten bestimmt. Gleichzeitig belegen zahlreiche Untersuchungen, dass Juristen aufgrund vollkommen identischer Informationen zu deutlich unterschiedlichen Strafurteilen kommen. Aufgrund dieser Urteilsunsicherheit können Einflüsse wie der Ankereffekt bei juristischen Urteilen wirken.
Ankereffekte wurden nicht nur bei der Urteilsfindung vor Gericht, sondern auch in anderen Bereichen nachgewiesen. Auch erfahrene Automechaniker lassen sich beispielsweise durch Ankervorgaben leiten, wenn sie den Wert eines Gebrauchtwagens angeben sollen. Selbst die Einschätzung der eigenen Intelligenz und sogar das tatsächliche Abschneiden bei Intelligenzaufgaben lassen sich durch Ankervorgaben manipulieren, erklärt Englich.