Schon im Alter von vier Monaten ist das Gehirn von Kindern in der Lage, aus zweidimensionalen Zeichnungen dreidimensionale Bilder zu machen. Dabei ist es bereits so zuverlässig, dass die Kleinen sogar so genannte unmögliche Figuren erkennen, wie sie etwa der Grafiker M. C. Escher gezeichnet hat. Zu diesen optischen Täuschungen gehören unter anderem die unendliche Treppe, die scheinbar stetig ansteigt und trotzdem wieder an ihrem Anfangspunkt landet, oder ein Würfel aus Balken, dessen untere hintere Ecke vor dem oberen Querbalken zu liegen scheint. Die Fähigkeit, flache Linien im Geiste in dreidimensionale Bilder umzuwandeln, entwickelt sich demnach sehr viel früher als bislang angenommen, zeigt eine Studie eines britisch-amerikanischen Forscherteams.
Die Psychologen ließen insgesamt dreißig Kinder im Alter von vier Monaten verschiedene Bilder von Balkenwürfeln anschauen. Einige davon waren in Farbe mit ausgeprägten Schattierungen und Texturen ausgeführt, andere ähnelten eher Strichzeichnungen. Etwa die Hälfte von ihnen zeigte normale Würfel, in denen Perspektiven und Anordnungen korrekt dargestellt waren, während auf der anderen Hälfte unmögliche Würfel abgebildet waren, wie sie so in der Realität nicht existieren können. Bei jedem Bild beobachteten die Wissenschaftler, wie lange es die Aufmerksamkeit der Kinder fesselte, und verglichen anschließend die Betrachtungsdauer der normalen und der unmöglichen Würfel miteinander.
Das Ergebnis war überraschend eindeutig, schreiben Sarah Shuwairi und ihr Team: In allen Fällen, unabhängig von der Art der Zeichnung, schauten die kleinen Probanden länger auf die unmöglichen Körper als auf die normalen Abbildungen. Einen ähnlichen Effekt gibt es auch bei Erwachsenen, die beim Betrachten solcher Bilder vergeblich versuchen, das Gesehene sinnvoll anzuordnen. Das zeige, dass die Kinder schon sehr früh die Informationen in der Zeichnung ? Kreuzungen, Überlappungen, Linienführung und Knotenpunkte ? in dreidimensionale Bilder umsetzen und gleichzeitig mögliche von unmöglichen Anordnungen unterscheiden können, erklären die Forscher.
Frühere Studien hatten zwar bereits gezeigt, dass Kinder schon im ersten halben Lebensjahr Gegenstände erkennen können, die sie zuvor lediglich auf einem Bild gesehen haben. Das Erfassen räumlicher Zusammenhänge beginne jedoch erst mit etwa sieben Monaten, hatten Forscher bislang angenommen. Die neuen Ergebnisse sollen nun helfen, die Lern- und Wahrnehmungsprozesse während der ersten Lebensmonate besser zu verstehen und damit auch Störungen schneller erkennen und behandeln zu können.
Sarah Shuwairi (New York University) et al.: Psychological Science, Bd. 18, Nr. 4 ddp/wissenschaft.de ? Ilka Lehnen-Beyel