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Bericht an eine Akademie

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Bericht an eine Akademie
Vom Dasein eines Menschenaffen und Werden eines Menschen (frei nach F. Kafka)

Hohe Herren von der Akademie! Sie erweisen mir die Ehre mich aufzufordern, der Akademie einen Bericht über mein äffisches Leben einzureichen.

In diesem Sinne kann ich der Aufforderung leider nicht nachkommen. Nahezu 13 Millionen Jahre trennen mich vom reinen Affentum, eine Zeit, kurz vielleicht am Kalender der Evolution gemessen, unendlich lang aber durchzugaloppieren, so wie Ihre Spezies, Homo sapiens, und meine, Pan troglodytes, gemeinhin als Schimpanse bekannt, es ein gutes Stück weit gemeinsam getan haben. Offen gesprochen, so gerne ich auch Bilder wähle für diese Dinge: Ihr Affentum, meine Herren, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine. Lassen Sie mich mit den Mitteln Ihrer Wissenschaft – denn den Worten eines Schimpansen allein werden Sie wohl keinen Glauben schenken wollen – demonstrieren, dass ich Ihnen auf dem Weg vom Affentum zum Menschsein näher stehe, als Sie bisher zu denken wagten.

In diesem Sinne also kann ich vielleicht doch Ihre Anfrage beantworten. Und ich tue es sogar mit großer Freude, wiewohl ich weiß, dass viele unter Ihnen an meinen Fähigkeiten zweifeln und mich und meinesgleichen noch immer zwischen Kaninchen, Mäusen oder Ratten einreihen in dieser Skala von Intelligenz, Kultur- oder Bewusstseinsfähigkeit, in der Sie sich so selbstverständlich an der Spitze platzieren. Doch erdrückend und nicht mehr zu ignorieren ist die Beweislast, die wir, die wir in Zoologischen Gärten wie hier in Leipzig in friedlichem Kontakt mit Ihresgleichen stehen, in den letzten Jahren in ausgeklügelten Experimenten demonstrieren konnten. Natürlich kennen Sie alle die Berichte über die Kunststücke meiner Artgenossen: Wir ernten Applaus, wenn wir Kisten stapeln oder Stäbe ineinander stecken, um an weit entfernte Bananen zu kommen. Doch schmeichelhaft ist der Applaus nicht, zeugt er doch davon, wie überrascht Homo sapiens immer wieder ist, wenn die Meinen ihre Intelligenz aufblitzen lassen. Aber hier geht es nicht um Kunststücke. Mit Hilfe meiner Schimpansen-Sippe im Pongoland des Leipziger Zoos versuchen die Forscher des benachbarten Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie (MPI-Eva) Experimente zu entwerfen, die Antworten auf die Frage geben, was eine rein menschliche Fähigkeit ist und was auch Menschenaffen und andere Affen können.

Von welcher meiner Fähigkeiten also kann ich Ihnen berichten, auf dass Sie rückschließen können, ob sie allein dem Menschen eigen ist? Es ist noch nicht lange her, da behauptete ein Philosoph auf einer Anthropologen-Tagung, dass es eine ureigene und von keinem Tier erreichte Leistung des Menschen sei, für zukünftige Bedürfnisse vorauszuplanen. Im Publikum saß Josep Call, einer der Forscher am MPI-Eva, und stellte dem Philosophen die Frage, was denn passieren würde, stellte sich heraus, dass Schimpansen, Bonobos oder Orang-Utans ebenfalls vorausschauend denken können. Darüber wollte sich der Philosoph keine Gedanken machen, denn das sei einfach ausgeschlossen. Calls Frage war hinterlistig, denn er hatte die Ergebnisse seiner Experimente, an denen ich teilzunehmen die Ehre hatte, längst auf dem Tisch: Er hatte mich in einen speziellen Raum gelotst, den ich hier Spielkäfig nennen darf, weil das Wort Experimentierkammer den ganz und gar freiwilligen, kurzweiligen Spielen darin nicht gerecht würde. Im Spielkäfig also lagen verschiedene geeignete und weniger geeignete Werkzeuge herum, mit denen ich in einer Apparatur nach besonders leckeren, süßen Trauben angeln konnte. Aber kaum dass ich die ersten Trauben gegessen hatte, wurde ich in den Nachbarkäfig gesperrt und musste mit ansehen, wie Call sämtliche Werkzeuge aus dem Raum mit der Apparatur entfernte. Dann durfte ich zwar wieder zurück zum Apparat, aber ohne Werkzeug kam ich an die Trauben nicht heran. Nach einer mir endlos lang erscheinenden Stunde des Wartens gab Call mir die Werkzeuge wieder zurück, aber kaum hatte ich wieder die erste Traube im Mund, drängte mich Call erneut in den Nebenraum. Doch diesmal sorgte ich vor und nahm vorsichtshalber das passende Werkzeug mit. Als Call das restliche Werkzeug entfernt hatte, durfte ich wieder zurück zur Traubenapparatur – und triumphierte, hatte ich doch das nötige Werkzeug dabei, um an die Trauben heranzukommen. Ein anderes Mal musste ich das Werkzeug sogar die ganze Nacht hindurch bereithalten, um am nächsten Tag an die Leckerei zu gelangen. Ein paar Wochen später hörte ich Call begeistert Reportern in die Mikrofone diktieren: „Zum ersten Mal hat ein nichtmenschliches Tier diese Fähigkeit zur Vorausplanung gezeigt.“ Zumindest was Menschenaffen in Gefangenschaft betrifft, muss ich allerdings ergänzen. Denn in der Natur ist dergleichen schon beobachtet worden, und ich bin stolz, Ihnen die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschungsbeobachtungen von Christophe Boesch, einem weiteren Forscher des Eva, präsentieren zu dürfen.

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Wenn meine Artgenossen jagen, dann treiben sie die Beute, meist Rote Colobusaffen, in eine bestimmte Richtung. Das hatte Boesch im Tai-Nationalpark an der Elfenbeinküste schon oft gesehen. Doch eines Tages rannten plötzlich mitten in der Jagd die zwei ältesten Männchen, genannt Brutus und Falstaff, an dem Forscher vorbei. Kurz danach tauchten sie hinter ihm und den Beuteaffen in den Bäumen auf und schnitten ihnen so den Weg ab. Brutus und Falstaff hatten den Fluchtweg der Beute vorausgeahnt. Auch im Gombe-Nationalpark jagen meine Artgenossen, allerdings ohne derartig komplexe Koordination. Und im Tai-Primärwald zeigen ebenfalls nur die alten, etwa dreißigjährigen Schimpansen das antizipatorische Jagdverhalten. Brutus und Falstaff haben rund zwanzig Jahre gebraucht, um das zu erlernen.

Ich darf Sie, meine hohen Herren von der Akademie, darauf hinweisen, dass Ihre Spezies, zumindest was die letzten noch jagenden Kulturen von Homo sapiens betrifft, ähnlich viel Zeit in das Erlernen eines effektiven Jagdverhaltens investiert. Im Schnitt feiert Ihre Art erst mit 40 Jahren die größten Jagderfolge.

Inzwischen ist experimentell bestätigt, dass Schimpansen zur Zusammenarbeit fähig sind und sich gezielt einen geeigneten Partner suchen, um eine Aufgabe zu lösen, die nur zu zweit lösbar ist. Nun habe ich aber erfahren müssen, dass das menschliche Publikum weniger über die Koordination als vielmehr darüber überrascht ist, dass die antizipierenden Tiere in der Regel gar nicht den Fang machen. Offenbar war unerwartet, dass auch ich ein hilfsbereites, selbstloses Wesen sein kann, das einer Gemeinschaft freimütig dient. Und ich muss zugeben, dass nicht alle meine Artgenossen ein so feines Gespür für derartige Nächstenliebe haben.

Fleißig jagende Gombe-Schimpansen jedenfalls gehen oft leer aus, wenn es um das Verteilen der Beute geht. Tai-Schimpansen hingegen wertschätzen die Intelligenzleistung und die Anstrengungen des Jägers, denn Jäger bekommen etwa dreimal mehr Fleisch als Nicht-Jäger. Am meisten erhalten vorausschauende Jäger wie Brutus und Falstaff. Damit wird das kooperative, altruistische Verhalten, der selbstlose Einsatz für den Jagderfolg der Gruppe, belohnt. Ein soziales Regelwerk, das den Brüdern aus Gombe fehlt. Dort beschränkt sich auch die Pflege der Verletzungen nur auf nächste Verwandte innerhalb der Sippe, während die Hilfsbereitschaft in Tai, wo es viel mehr Leoparden gibt als in Gombe, keine Verwandtschaftsgrenzen kennt. Über Tage und Wochen werden die Wunden eines jeden Sippenangehörigen gepflegt.

Ist es ein innerer Drang, ein genetischer Zufall, der Tai-Schimpansen eher zur Kooperation treibt als Gombe-Schimpansen? Verehrte Herren, in Zusammenarbeit mit Michael Tomasello konnte ich den experimentellen Beweis führen, dass auch Schimpansen so etwas wie Hilfsbereitschaft, „reziproken Altruismus“ in der Biologensprache, kennen. Allerdings mit einer Einschränkung, die auch Menschen nicht fremd sein dürfte.

Wieder einmal war ich im Spielkäfig und musste mit einem Artgenossen kooperieren, um an eine Futterportion zu kommen. Nur durch gemeinsames Ziehen an den beiden Enden eines Seils konnten wir ein Brett mit jeweils einer Futterportion für mich und meinen Kollegen in unsere Reichweite bringen. Ich durfte mir sogar den meiner Erfahrung nach geeignetsten Partner aus unserer Sippe aussuchen. Solange wir beide gleich viel Futter bekamen, lief die Zusammenarbeit recht gut. Als Tomasello allerdings in meinen Futtertrog auf dem Brett neun Bananen, in den meines Partners aber nur eine legte, weigerte sich dieser plötzlich, mir zu helfen. Ich geriet in Rage, konnte aber einige rangniedere Tiere überzeugen, mir dennoch zu helfen. Bei den ranghöheren verkniff ich mir die Verhaltenskritik lieber.

Meine Herren, ich sehe Sie schmunzelnd vor mir, aber auch der Mensch kennt ein Abwägen, was die Kosten, den Energieaufwand für Hilfsbereitschaft betrifft. Eine Hilfestellung, die wenig Mühe macht, geben Menschen wie Schimpansen gern. 50-Euro-Scheine finden Bettler hingegen selten im Hut. Für eine solche Gabe sucht Mensch zumindest einen Reputationsgewinn zu ernten. Bei uns Schimpansen wird die Fellpflege, das Groomen, eines höherrangigen Artgenossen beispielsweise durch den Gewinn eines mächtigen Freundes vergolten.

Anderen bewusst zu helfen erfordert, zwischen sich selbst und anderen unterscheiden zu können, ein Ich-Bewusstsein zu haben. Schon in der Bibel steht ganz am Anfang der menschlichen Schöpfungslegende die Selbsterkenntnis, in diesem Fall das Erkennen der eigenen Nacktheit. Nun, daran hapert es bei uns Schimpansen – an der Nacktheit, allerdings nicht an einem basalen Selbstbewusstsein. Denn wie Menschen können auch wir uns im Spiegel erkennen, haben einen Begriff vom Ich – und damit auch vom Nicht-Ich, dem Anderen. Damit ist die psychologische Voraussetzung für Einfühlungsvermögen, Empathie, und die Fähigkeit, jemanden zu trösten, gelegt. Denn erst, was man von sich selbst unterscheiden kann, in dessen Gefühls- oder Gedankenwelt kann man sich auch hineinversetzen.

Auch Michael Tomasello spricht mir und anderen Menschenaffen das Selbstbewusstsein nicht ab, wohl seitdem er mit mir ein Experiment unternahm, dass mir zunächst recht unangenehm war. Ich wurde nämlich zusammen mit dem rabiaten Artgenossen Unioro in den Spielkäfig gebracht. Zunächst war Unioro, der aus einem Schweizer Zoo kommt, ganz neutraler Schweizer. Aber inzwischen hat er begriffen und mit ein paar unangenehmen Ohrfeigen bekräftigt, dass er hier der Stärkste ist und in der Rangfolge über mir steht. Seitdem kann ich immer erst nach ihm an die Futtertröge! Doch Tomasello half mir ein wenig. Ohne dass Unioro es sehen konnte, platzierte er das Futter so, dass nur ich es sehen konnte. Mit klopfendem Herzen holte ich mir die Leckerei und konnte sie rasch essen, ohne dass Unioro etwas merkte. Der Tracht Prügel war ich also entgangen, der Hunger hatte sich allerdings noch nicht gelegt. Ein zweites Mal wollte mir Tomasello helfen. Doch er machte einen ärgerlichen Fehler: Er versteckte das Futter zwar, aber so ungeschickt, dass Unioro alles beobachten konnte. Zwar konnte Unioro selbst nicht an die Früchte heran, doch natürlich wagte ich es nicht, mich zu bedienen, ohne dass Unioro vor mir gegessen hatte.

Später, als ich längst wieder satt im wunderschönen Freigehege des Pongolands lag, hörte ich, wie Tomasello auf der Besucherbrücke einem Kollegen das Experiment erklärte und dass damit bewiesen sei, dass Schimpansen sich nicht nur vorstellen können, welchen Blickwinkel andere auf eine Situation haben, was sie also sehen können und was nicht. Sondern unsereins mache sich auch ein Bild davon, was ein Artgenosse aufgrund seines Blickwinkels wissen könne. Ja, und so konnte ich Unioro täuschen, dachte ich zufrieden bei mir.

Wir können uns also durchaus in Artgenossen hineinversetzen und eine Theorie über deren Gedankenwelt entwickeln. „Theory of Mind“ nennt das der Amerikaner Tomasello. Aber noch ist offen, wie weit das geht. Zwar erkennen auch wir Menschenaffen uns im Spiegel wieder, weshalb uns ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein eingeräumt wird. Aber wenn der Mensch seinen ein- bis zweijährigen Kindern Flecken auf die Stirn malt oder ihnen einen ulkigen Hut aufsetzt, dann wissen die um ihre Wirkung auf andere und reagieren entweder empört oder stolz. Uns Schimpansen lässt das relativ kalt, wir scheren uns nicht um das Bild, das wir anderen gegenüber abgeben. Forscher wie Tomasello interpretieren dieses mir so vertraute unerschütterliche Selbstbewusstsein allerdings als Defizit. Wir hätten eben kein Gespür für die soziale Dimension der Selbsterkenntnis.

Auch wenn sich hier und da Unterschiede abzeichnen, „es ist nicht so, dass die Schimpansen wenige Fähigkeiten haben und wir viele. Es ist ein qualitativer Unterschied“, sagt Michael Tomasello. Kulturelle Transmission macht aus den biologischen Gegebenheiten etwas Neues, das seine Wurzeln in Fähigkeiten hat, die im Grunde alle Menschenaffen besitzen. Erst die Kultur macht aus der basalen Fähigkeit zu wissen, wo es mehr oder weniger Futter gibt, so etwas Komplexes wie Algebra.

Messen wir beispielsweise den Erfolg einer Spezies in Individuenzahlen, dann gibt es keine Frage, was die Menschheit am weitesten vorangebracht hat: die kulturelle, soziologische Neuerung der Landwirtschaft. Mit Ackerbau und Viehzucht explodierten die Bevölkerungszahlen, und es gibt keinen Forscher, der die Ursache dafür in den Genen suchen würde. Die neue Organisation des Zusammenlebens hat die natürlichen Fähigkeiten zu Kooperation, sozialem Lernen, Imitation und Kommunikation noch besser zur Geltung gebracht.

Reichen also die Fähigkeiten meiner Spezies zu dem, was den Menschen über die Natur erhebt, zur Kultur? Wenn Kulturfähigkeit bedeutet, ein neuartiges Verhalten oder ein Werkzeug zu kreieren und in einer Gruppe weitergeben zu können, dann ist längst bewiesen, dass der Mensch mit seiner Kulturfähigkeit nicht allein ist. Christophe Boesch hat mittlerweile zwölf Schimpansen-Populationen untersucht, und jede hat ihre eigene Tradition unterschiedlichsten Werkzeuggebrauchs. Nicht von Schimpansen, sondern von Tai-, Gombe- oder Mahale-Schimpansen sollte laut Boesch gesprochen werden, so wie von japanischer, russischer oder deutscher Kultur die Rede ist. Im Tai-Nationalpark verbringen meine frei lebenden Vettern täglich zwei Stunden damit, mit Hilfe von zwei oder drei Steinen, die als Amboss, Stabilisator und Hammer dienen, Nüsse aufzuschlagen. Sie stochern mit Stöcken, die sie sich vorher auf die rechte Form gestutzt haben, unter Baumrinden nach Insekten. Alles in allem ein einzigartiges Verhalten: eine Kultur.

Selbst Michael Tomasello akzeptiert inzwischen die Interpretation Christophe Boeschs, dass wir Schimpansen so etwas wie Kultur haben. Doch menschliche Kultur, ich räume es ein, ist noch etwas anderes. Bei Ihnen bauen Innovationen aufeinander auf, führen Hunderttausende einzelner Verbesserungen schließlich zu beängstigend komplexen Gütern wie einem Auto. Das funktioniert nur deshalb, weil jede Idee eines Individuums sofort der ganzen Sippe zur Verfügung gestellt wird, begünstigt durch Sprach-, Lehr- und Imitationsfähigkeiten, die unsereins leider nur bestaunen kann. Tomasello hat das Bild eines Wagenhebers vorgeschlagen, in der die Innovation eines Einzelnen die Gemeinschaft auf eine höhere Ebene bugsieren kann. Menschen poolen ihre individuellen Fähigkeiten gewissermaßen. Diesen Wagenhebereffekt spricht Tomasello unsereins ab und ich räume ein, wenn einer meiner Artgenossen etwas wirklich Neues entwickelt, dann müssen wir darauf hoffen, dass der eine oder andere Bruder den Vorteil erkennt und nachahmt. Entwickeln hingegen Menschen etwas wirklich Neues, dann müssen sie ein Patent erlassen, damit andere ihre Idee nicht klauen. Wir Schimpansen hingegen haben es seit Jahrmillionen nicht verstanden, aus unseren Kulturansätzen mehr zu entwickeln.

Dennoch, meine Herren, bleiben wir fair. Auch beim Menschen haben sich die ersten kulturellen Innovationen sehr langsam entwickelt. Der berühmte Faustkeil mag eine komplexe Innovation sein, die wir Affen (noch?) nicht entwickelt haben. Aber diese Form blieb sage und schreibe 1,8 Millionen Jahre lang konstant. Kulturelle Evolution ist also auch beim Menschen nicht immer so schnell gegangen. Und obwohl frei lebende Schimpansen allenfalls seit 40 Jahren beobachtet werden, hat Boesch durchaus Innovationen beobachtet. Beispielsweise beißen die Artgenossen im Naturschutzgebiet von Mahale gern kleine Stücke von Blättern weg, „Leaf-clipping“ genannt, nur um einen Ton zu produzieren, nicht um zu essen. Wie das Kaugummikauen und Blasenschlagen menschlicher Teenager in den Fünfzigerjahren ist dieser Ton in Mahale ein Signal, das Aufmerksamkeit bei einem sexuell aktiven Weibchen wecken soll. Eine abstrakte soziale Konvention. Und tatsächlich kennen die Weibchen die Bedeutung und antworten darauf. In Guinea ist es eine Aufforderung zum Spiel, in Gombe oder Tai hat es wieder andere Bedeutungen.

Am 1. Januar 1994 kam es nun zu einer Innovation: Ein Tai-Männchen hatte das Leaf-Clipping in einem anderen Zusammenhang gezeigt, nämlich kurz bevor es sich zum Schlafen legte. Vielleicht weil es ein ranghohes Männchen war, lernten innerhalb von einem Monat 40 Prozent der Gruppe die neue Leaf-Clipping-Mode. Meine Herren, Sie wissen, was ich meine, wenn Sie sich an Ihre Lolli lutschenden Artgenossen erinnern, die das Verhalten von Kommissar Kojak in der Fernsehserie „Einsatz in Manhattan“ kopierten.

Eine andere, weitaus nützlichere Weiterentwicklung eines bereits tradierten Verhaltens findet sich in der Art und Weise, wie die Tai-Schimpansen Nüsse knacken. Zwar ist in vielen, vielleicht allen Schimpansenkulturen das Schlagen auf harte Früchte verbreitet, doch nur im Tai-Nationalpark werden drei Steine dafür verwendet. Nicht nur ein Stein zum Draufschlagen, sondern ein weiterer Amboss-Stein, um die Schlagwirkung zu verstärken und ein dritter Stein, um den eventuell wackeligen Amboss zu stabilisieren. Das heißt, mindestens zwei Innovationen über das Grundverhalten hinaus. In Bossu und Guinea gibt es den Amboss-Stein, aber auf die Idee des kleinen Stabilisators ist sonst noch niemand gekommen.

Meine Herren, Sie können folglich nicht ausschließen, dass auch meine Spezies die Möglichkeit zu kultureller Entwicklung hat. Ich will nicht behaupten, dass diese Fähigkeit so stark und reichhaltig wie beim Menschen ist. Und viele Forscher sind der Ansicht, dass menschliche Kulturfähigkeit nicht allein auf tradierten Gepflogenheiten oder einer besonderen Disziplin ihrer Art im Umgang mit den auch bei uns Menschenaffen vorhandenen kognitiven Ressourcen zurückzuführen ist. Vielmehr habe auch eine biologische Anpassung stattgefunden mit einigen wenigen, aber entscheidenden Änderungen im Erbgut.

98,7 Prozent meines Erbguts sind mit dem Ihren identisch, meine Herren. Nur 1,3 Prozent unterscheiden uns voneinander. Das sind bei rund 3,3 Milliarden Bausteinen des Erbguts zwar immerhin 39 Millionen Unterschiede, von denen allerdings die wenigsten die Gene verändern. Die Forscher Ihrer Spezies haben herausgefunden, dass sich menschliche Gehirnzellen während der jüngsten Evolution in der Umsetzung der genetischen Information stärker geändert haben als die Gehirnzellen meiner Spezies: Während die Benutzung von Lebergenen sich in der Evolution von Schimpanse und Mensch in ähnlichem Ausmaß verändert hat, haben im Hirn des Menschen viermal mehr Gene ihre Aktivität geändert als beim Schimpansen. Hat das im menschlichen Hirn den Sinn für Kultur entzündet? Ich gebe zu, ich folge dieser Idee allzu gern. Denn mit jeder „ menschlichen“ kognitiven Fähigkeit, die bei meinesgleichen gefunden wird, wandelt sich die Frage zum Vorwurf: „Warum nutzt Pan troglodytes seine Fähigkeiten nicht zu ähnlichen Kulturleistungen wie der Mensch?“ Gern schiebe ich es auf ein paar Unterschiede im genetischen Bauplan, was unsereinem die virtuose Sprache, das perfekte Nachahmen oder das Gedankenlesen verwehrt und uns am Menschsein hindert.

Doch lassen Sie uns nicht zu mechanistisch denken, Menschlichkeit, Kulturfähigkeit sind keine Sache der Gene allein, denn gerade bei uns Primaten sind Kultur und Natur eng verknüpft. So mag ein Menschenkind alle genetischen Voraussetzungen für Sprache, Kultur und Intelligenz in sich tragen. Aber auf einer einsamen Insel, ohne das Nest kulturell und sozial tradierter Lehr- und Lernstrukturen, wäre es nicht lebensfähig. Gleiches gilt für meine Art, dennoch zwingen Sie, oder zumindest Ihre Artgenossen, viele der Meinen, allein und ohne ihre Kultur dahinzuvegetieren. Zum intelligenten Leben gehört nicht allein Darwin, nicht allein Mutation und Selektion, sondern auch ein Stück weit Lamarck: Denn kulturelle Evolution bedeutet, das im Laufe eines Lebens Erworbene und Erfahrene über soziales Lernen in der eigenen und der folgenden Generation weiterzugeben – unabhängig von den Genen.

Wie könnte die Evolution unserer beiden Spezies aber nun abgelaufen sein? Meine Herren, rufen Sie sich ins Gedächtnis, dass wir Schimpansen zwar Ihre nächsten Verwandten, nicht aber Ihre Vorfahren sind. Nein, beide Arten haben sich im Laufe der Zeit an die Erfordernisse ihrer ökologischen Nische angepasst, Fähigkeiten weiterentwickelt – oder auch verloren. Denn so wie der Mensch auf des Affen geistige Unzulänglichkeit herabblickt, können auch wir uns über manches menschliche Defizit erheitern. Oft habe ich in den Varietés ein Künstlerpaar oben an der Decke an Trapezen hantieren sehen. Sie schwangen sich, sie schaukelten, sie sprangen, sie schwebten einander in die Arme, einer trug den andern an den Haaren mit dem Gebiss. Kein Bau würde standhalten vor dem Gelächter der Affen bei diesem Anblick.

Nein, wir teilen lediglich die gleichen Wurzeln. Unsere gemeinsamen Ahnen hatten unterschiedlich ausgeprägte kognitive Fähigkeiten. Aus einer Gruppe besserer Imitatoren wurden später die Menschen, aus den anderen Schimpansen und Bonobos. Vor etwa zwei Millionen Jahren begannen die menschlichen Ahnen Steinwerkzeuge herzustellen. Offenbar war es für das Überleben der eigenen Gene von Vorteil, seine Kinder die durchaus komplizierte Technik zum Herstellen dieser Werkzeuge zu lehren, denn damit hatte der Nachwuchs eine bessere Überlebenschance. In dieser Zeit perfektionierte der Mensch seine außergewöhnliche Imitationsfähigkeit und das soziale Lernen.

Doch offenbar stagnierte die Entwicklung an diesem Punkt für Hunderttausende von Jahren. Erst als der Mensch sich vor etwa 250 000 Jahren, so Tomasello, der Gruppe und der Kooperation besann, nahm die Entwicklung ihren bekannten Gang. Obwohl die Darwin’s chen Evolutionsmechanismen von Mutation und Selektion immer nur auf der Ebene des Individuums wirken, könnte der Mensch das beste Beispiel dafür sein, dass eine Gruppe kooperierender Individuen einen Selektionsvorteil gegenüber einer Population von Einzelgängern hat. Und für den Menschen gilt das noch mehr als für uns Schimpansen. Uns ist es meist zu mühsam, dem Nachwuchs, geschweige denn nichtverwandten Schimpansen, beim Üben die Hand zu führen, geduldig Fehler zu korrigieren. Wir sind keine Lehrer. Menschliche Kultur hingegen tradiert mithilfe eines ausgeklügelten Lehrsystems nicht nur einfache Verhaltensweisen und Handwerkstechniken, sondern auch abstraktes, allgemeines Wissen über die Welt.

Meine Herren, lassen Sie uns rekapitulieren: Es ist nicht allein die Intelligenz, die die Brücke vom Menschenaffen zum Menschen stützt. Wäre es so, längst wären wir Euch gefolgt. Zu lange habt Ihr allein im Hirn zwischen Milliarden Nervenzellen nach der Antwort auf das Rätsel Eurer Menschwerdung gesucht. Sicher, irgendwo dort muss der Mechanismus für Eure bemerkenswerte Fähigkeit zum Imitieren liegen. Kein Detail einer Bewegung, die Euch entgeht. Wahre Kopiermaschinen seid Ihr. Doch darüber habt Ihr vergessen, dass es das kollektive Lernen und Lehren ist, das jede noch so triviale Idee für immer ins Gedächtnis Eurer Sippe einbrennt. Während wir immer wieder neu lernen müssen und die Alten ihre mühsam erworbenen Erfahrungen und Fertigkeiten seit Jahrmillionen mit ins Grab nehmen, habt Ihr immer aufeinander aufgebaut. Das soziale Gedächtnis ist Euer Erfolgsrezept.

Meine Frage an Sie, und damit will ich schließen, meine Herren, wo Sie nun um meine Fähigkeiten wissen: Bin ich in Ihren Augen nun ein Stück weit menschlicher geworden, vielleicht sogar würdig der Zugehörigkeit zur Gattung Mensch, Homo troglodytes? Oder fühlen Sie sich gar uns Affen näher, sehen in uns die Basis Ihres Menschseins? Auch wenn die Zeit vielleicht noch nicht reif ist, die Menschenrechte auch auf uns Schimpansen, Bonobos, Orang-Utans und Gorillas auszudehnen? Es wäre mir eine Ehre, sollten meine Ausführungen dazu führen, dass Sie im eigenen Interesse den Einfluss Ihrer gehobenen Stellung in der menschlichen Gesellschaft nutzen, um das Lebensrecht frei lebender Schimpansen zu verteidigen. Dann hätte ich im Ganzen jedenfalls erreicht, was ich erreichen wollte. Man sage nicht, es wäre der Mühe nicht wert gewesen. Im Übrigen will ich keines Menschen Urteil, ich will nur Kenntnisse verbreiten. Ich berichte nur. Auch Ihnen, hohe Herren von der Akademie, habe ich nur berichtet. ■

Um in die Rolle eines Schimpansen zu schlüpfen, machte Sascha Karberg (Foto) reichlich Gebrauch von der Empathie-Fähigkeit des Homo sapiens. Martin Bennett fotografierte – mit freundlicher Genehmigung der Unternehmensleitung – die Umgebung der Affen im Zoo Berlin. Die Layout-Ideen für die Beiträge von Seite 20 bis 38 stammen von INGA HOFMANN.

Sascha Karberg

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