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Die Kamikaze-Kometen

Astronomie|Physik Erde|Umwelt Geschichte|Archäologie

Die Kamikaze-Kometen
Immer wieder kommen „Schweifsterne“ der Sonne zu nahe und verdampfen. Wie gelingt es manchen, das heiße Rendezvous zu überstehen?

Astronaut Daniel Burbank hat schon einiges erlebt. Er flog die Hubschrauber der US-Küstenwache und reiste in Space Shuttles und Sojus-Kapseln durchs All. Bei Außeneinsätzen montierte er Module an die Internationale Raumstation ISS. Doch was der ISS-Kommandant am 21. Dezember des vergangenen Jahres erblickte, verschlug ihm fast den Atem: „Das Spektakulärste, was ich je gesehen habe!“ Als die ISS ihre Bahn über das nächtliche Tasmanien zog, war Burbank in der Aussichtskuppel. Blitze sommerlicher Gewitter erhellten unter ihm das nachtschwarze Land, untermalt vom farbigen Dämmerstreifen der Erdatmosphäre. Und dann, kurz vor Sonnenaufgang, schob sich ein grünlich leuchtendes längliches Objekt über den gekrümmten Horizont. „Ich hatte keine Ahnung, was das sein sollte.“ Der Raumfahrer hatte etwas gesichtet, das es eigentlich gar nicht mehr geben durfte: den Kometen C/2011 W3 (Lovejoy). Der geschweifte Himmelskörper sollte an sich verdampft sein – doch er hatte den Flug durch den heißen Atem der Sonne überstanden.

Geschweifte Vagabunden

Kometen sind unstete Gesellen. Manche kollidieren mit Planeten – beispielsweise stürzte Shoemaker-Levy 9 im Sommer 1994 in den Jupiter. Andere glänzen mit explosionsartigen Helligkeitsausbrüchen. So geschehen 2007, als 17P/ Holmes binnen Stunden 500 000 Mal heller aufstrahlte als zuvor.

Wenn sich die Schweifsterne der Sonne nähern, bewirkt die Sonnenwärme, dass die gefrorenen Bestandteile des Kometenkerns verdampfen. Dann kommt der kleine Brocken aus Eis und Silikaten groß heraus: Er hüllt sich in eine riesige Gas- und Staubwolke. Die Sonnenstrahlung und der Sonnenwind blasen aus der Wolke einen langgestreckten Kometenschweif ins All (siehe „Kleines Kometen-Brevier“, S. 51).

Doch Komet Lovejoy war etwas Besonderes. Nachdem der australische Hobbyastronom Terry Lovejoy ihn Ende November 2011 entdeckt hatte, war bald klar, dass die Umlaufbahn den eisigen Brocken auf Tuchfühlung mit der Sonne bringen würde – nur 140 000 Kilometer über der 5500 Grad Celsius heißen Oberfläche. Anfang Dezember raste der Kamikaze-Komet auf die Sonne zu. Er war deshalb immer schwieriger zu beobachten. Die einhellige Meinung der Experten lautete: Er wird in sein sicheres Verderben stürzen. Zahlreichen anderen Kometen war es so ergangen: Sie waren in der heißen Atmosphäre der Sonne zerbrochen oder verdampft.

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Schließlich wurde Lovejoy für erdgebundene Fernrohre unsichtbar. Die Beobachtungen gingen im Weltall mit einer kleinen Flotte von automatischen Sonnen-Observatorien weiter. Den Anfang machten die beiden US-Sonden STEREO (Solar Terrestrial Relations Observatory), die den Kometen am 12. Dezember nahe der Sonne beobachteten. Zwei Tage später kam Lovejoy ins Gesichtsfeld des altgedienten SOHO-Satelliten (SOHO: Solar and Heliospheric Observatory), der seit 1995 im Auftrag von ESA und NASA die Sonne observiert. Dann die Überraschung: Das Solar Dynamics Observatory (SDO) der NASA zeigte den Kometen direkt nach seiner knappen Sonnenpassage am 16. Dezember.

Komet Lovejoy war also noch da! Lediglich seinen Schweif hatte er eingebüßt. Doch schon wenige Tage später dokumentierten SOHO-Bilder einen neu wachsenden Staubschweif. Kurz darauf war der Komet von der Südhalbkugel der Erde aus sichtbar, und zwar mit bloßem Auge. Lovejoy hatte überlebt.

Drei Quellregionen

Wo stammen all die Kometen her, die in Sonnennähe mit ihrem Schweif auftrumpfen? Hermann Böhnhardt vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung nennt drei Quellregionen:

· Da ist zuerst der Kuiper-Gürtel jenseits der Bahn des äußersten Planeten Neptun: Sein bekanntestes Mitglied ist der Zwergplanet Pluto. Die meisten Objekte dort sind jedoch erheblich kleiner.

· Dann die „Scattered Disc“ hinter dem Kuiper-Gürtel: In dieser „diffusen Scheibe“ bewegen sich die Himmelskörper auf stärker elliptischen Bahnen, die zudem größere Neigungen gegen die Bahnebene der Erde aufweisen als die weiter innen kreisenden Objekte.

Kometen-Experte Bönhardt erklärt: „Von Zeit zu Zeit kollidieren die Körper beider Quellzonen. Manche Bruchstücke werden ins innere Sonnensystem abgelenkt. Dort können sie als Kometen in Erscheinung treten.“

· Schließlich gibt es noch die riesige Oortsche Wolke, die weit in den interstellaren Raum reicht und erst auf halbem Weg zum nächsten Fixstern endet. Die große Bahnneigung von Lovejoy könnte auf eine Herkunft aus dieser kugelförmigen Wolke hindeuten.

Aristoteles als Augenzeuge?

Über die jüngere Familiengeschichte des Lovejoy-Kometen haben die Astronomen konkretere Vorstellungen. Er gehört zur sogenannten Kreutz-Gruppe. Den Namen erhielt diese Kometenfamilie nach dem Kieler Astronom Heinrich Kreutz (1854 bis 1907). Er hatte erkannt, dass viele der sonnennahen Kometen auf ähnlichen Bahnen um die Sonne ziehen, mit mehr als 500 Jahren Umlaufzeit. Sein Verdacht: Die Kreutz-Kometen sind Fragmente eines viel größeren Kometen, der einst beim Umlauf um die Sonne zerbrach.

Aktuellere Analysen des dynamischen Verhaltens der Gruppenmitglieder weisen weit in die Vergangenheit. Sogar ein Komet des Jahres 372 v.Chr., den angeblich der griechische Philosoph Aristoteles als Zwölfjähriger beobachtet hatte, wird als Urkörper der Kreutz-Gruppe diskutiert.

Doch Astronomen wie Zdenek Sekania vom kalifornischen Jet Propulsion Laboratory widersprechen. Ihre Auswertungen historischer Berichte von 30 hellen Kometen in Verbindung mit Analysen von rund 1000 modernen Exemplaren weisen eher in die Spätantike. Zwei Kometen aus dem 5. Jahrhundert gelten demnach als wahrscheinlichste Quelle der Wolke aus Kometentrümmern, deren Aufsplitterung in immer kleinere Fragmente bis heute andauert.

Schwierige Beobachtungen

Bei Profi-Astronomen gelten die Kreutz-Kometen als schwierig, weil man kaum in so kleinen Winkelabständen zur Sonne beobachten kann, wie es bei diesen Objekten nötig wäre. Denn dabei wären die Teleskope gefährdet: Die gleißende Sonne droht die Instrumente zu beschädigen. Trotzdem verzeichnete die Kreutz-Gruppe in der vergangenen Dekade einen Zuwachs von 1600 Exemplaren – dank der Sonnensatelliten.

Sechs Monate vor dem Lovejoy-Spektakel war der Komet C/2011 N3 (SOHO) im Visier der Astronomen. Er gehört zu den über 2000 Kometen, die der SOHO-Satellit bislang entdeckt hat. Kürzlich berichtete ein amerikanisch-britisches Forscherteam um Carolus Schrijver, dass der SOHO-Komet plötzlich verschwand, als er sich der Sonne bis auf etwa 100 000 Kilometer genähert hatte.

Die Astronomen gehen davon aus, dass er komplett zerstört wurde. Nach ihren Analysen verlor der Kometenkern bis zu 60 000 Tonnen seiner Materie – und das binnen zehn Minuten! Das würde für einen Brocken von höchstens 50 Meter Durchmesser sprechen – und wäre zu klein, denn der Mindestdurchmesser zum Überleben wird auf etwa 200 Meter geschätzt. Wahrscheinlich zerbrach der Kern von C/2011 N3 (SOHO) in viele Fragmente, wodurch sich das Verdampfen des todgeweihten Himmelskörpers beschleunigte.

Neue Ideen sind gefragt

Wie aber konnte Lovejoy überleben? Möglicherweise sind neue Ideen nötig, um eine Erklärung zu finden. Bastian Gundlach, Physiker an der Technischen Universität Braunschweig, vermutet, dass der Komet durch seine heftige Aktivität vor dem Zerbrechen bewahrt wurde. In unmittelbarer Sonnennähe habe das sublimierende Eis einen Rückstoß ausgeübt, der den Gezeitenkräften der Sonne entgegenwirkte und so half, die Fragmentierung zu verhindern. Ob sich die These durchsetzt, bleibt abzuwarten. Und ob der Lovejoy-Komet langfristig seinen Kamikaze-Flug überstehen wird, zeigt sich spätestens im Jahr 2577. Denn dann steht für das, was von ihm übrig geblieben ist, das nächste Rendezvous mit der Sonne an. ■

THORSTEN DAMBECK, promovierter Physiker und regelmäßiger bdw-Autor, berichtete Im Juli-Heft über die Erforschung des Planeten Merkur.

von Thorsten Dambeck

Kleines Kometen-Brevier

· Kometen bewegen sich oft auf Umlaufbahnen mit stark variierendem Sonnenabstand. Die meiste Zeit sind sie nicht aktiv, da sie sich weit entfernt von der Sonne in eisiger Kälte aufhalten.

· Der Kometenkern hat meist lediglich einen Durchmesser von wenigen Kilometern.

· Mit zunehmender Sonnennähe erhitzt sich der Kometenkern: Gas verdampft und reißt Staubpartikel mit ins All. So entsteht die „ Koma“ des Kometen.

· Etwa ab der Mars-Bahn verformt sich die Koma, weil der Sonnenwind – ein ständiger Strom aus geladenen Teilchen – und der Strahlungsdruck des Sonnenlichts die Koma-Partikel davonblasen.

· Die Folge ist ein Schweif, der stets von der Sonne weg zeigt. Er besteht aus zwei Teilen: dem Plasmaschweif aus geladenen Molekülen und dem gekrümmten Staubschweif aus elektrisch neutralen Staubpartikeln.

Kompakt

· Der SOHO-Satellit hat während seiner 16-jährigen Beobachtung der Sonne über 2200 Kometen entdeckt. Die meisten sind winzige Brocken vom Format kleiner Häuser.

· Die Atmosphäre der Sonne, die Korona, ist mehrere Millionen Grad Celsius heiß. Nur sehr wenige Kometen, deren Bahn hindurch führt, überleben diese Hölle.

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LESEN

Aktuelles und gut verständliches Sachbuch zum Sonnensystem: Peter Bond EXPLORING THE SOLAR SYSTEM Wiley-Blackwell, Chichester 2012 € 41,45

INTERNET

Viele Informationen zu Komet Lovejoy: soho.esac.esa.int/hotshots/index.html www.esa.int/esaMI/Rosetta

Lovejoy aus dem Erdorbit gesehen und kommentiert von ISS-Astronaut Dan Burbank: www.youtube.com/watch?v=nca9B9N15Uw

Lovejoys Aufgang über den chilenischen Anden im Zeitraffer: vimeo.com/34204309

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