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Die Stuttgarter Hautfabrik

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Die Stuttgarter Hautfabrik
Menschliche Haut vollautomatisch züchten? Das klingt nach Science-Fiction. Doch es funktioniert.

Lautlos gleitet die Glastür zur Seite. Mit blauen Überschuhen und passendem Kittel bekleidet, treten wir in den Raum. Es ist totenstill. In der Mitte ragt ein rechteckiger Stahlkasten bis fast unter die Decke. Von Hüfthöhe aufwärts ist er verglast. Dahinter warten in steriler Atmosphäre Schienen, Platten, Plastikkästen und Greifarme auf ihren nächsten Auftrag. Momentan steht die Apparatur reglos da.

Auf der anderen Seite des Kastens wird durchgearbeitet, 24 Stunden am Tag, ohne dass sich sichtbar etwas bewegt: Hier stehen mannsgroße Metallschränke mit blickdichten Türen – Brutschränke für Hautzellen, die sich bei einer Temperatur von 37 Grad Celsius vermehren. Aus den Zellen stellt Heike Walles vom Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik (IGB) in Stuttgart mit ihrem Team neue Haut her – Haut, die für Medikamenten-Tests und langfristig auch für Transplantationen verwendet werden soll. Die Fachleute nennen das „Tissue Engineering“: Gewebezüchtung. Walles, geborene Mertsching, ist eine Pionierin auf diesem Gebiet (bild der wissenschaft 7/2009, „ Einfach mitreißend: Heike Mertsching“).

Nach zwei bis drei Wochen ist ein „Hautäquivalent“ aufgebaut. „ Es ist ungefähr so groß wie eine Briefmarke und ein kleines bisschen dicker“, beschreibt die Biologin das Resultat. Der Züchtungsprozess läuft vollautomatisiert in dem verglasten Stahlkasten ab – der Anlage, von der alle nur als „Hautfabrik“ sprechen. Mit ihrer Hilfe können aus einem einzigen Mini-Stückchen Menschenhaut etwa 100 Hautäquivalente entstehen. Die Hautproben stammen von Fettabsaugungen oder von Beschneidungen. Die Patienten haben zuvor eingewilligt, dass ihre Haut für Forschungszwecke verwendet werden darf.

HAUT IN ZWEI SCHICHTEN

Künstliche Haut für Testzwecke ist an sich nichts Neues. „Es gibt seit Langem unterschiedliche Modelle auf dem Markt“, sagt eine andere Hautspezialistin, Petra Boukamp vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Boukamp beschäftigt sich in ihrer Abteilung „Genetik der Hautkarzinogenese“ mit der Frage, wie sich die einzelnen Zellen in der Haut gegenseitig regulieren. Den großen Vorteil der Stuttgarter Hautfabrik sieht sie in der Standardisierung: „Bei manueller Herstellung ist es schwieriger, die Hautäquivalente immer genau gleich hinzubekommen.“

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Gleichbleibende Qualität ist für Heike Walles das A und O. „ Über Laser können wir die Schichten der Haut darstellen, ohne die Zellen zu schädigen“, erklärt sie. Mittels Optischer Kohärenztomografie, so der Name dieser Methode, kann sie zum Beispiel erkennen, ob die verhornte Schicht schon entwickelt ist oder ob sich in der unteren Schicht Bläschen gebildet haben. Haut in zwei Schichten herzustellen und damit dem natürlichen Vorbild ein Stück näher zu kommen, ist ebenfalls eine Spezialität der Stuttgarter Hautfabrikanten.

Der erste automatisierte Schritt ist das Gewinnen von Zellen aus der Hautprobe. Doch zuvor kommt die Probe für 24 Stunden in den Brutschrank: „Wir wollen uns keine Keime einfangen“, sagt Walles. Eine Verunreinigung kann sie an der Trübung des Nährmediums im Probenbecher erkennen. Um ganz sicher zu gehen, entnehmen die Biologen zusätzlich etwas von der Flüssigkeit und streichen es auf einer Nährbodenplatte aus. Wächst dort nichts, heißt das: „Wir können sicher sein, dass wir keine schnell wachsenden Keime in der Probe haben.“

Der Proben-Becher wird per Hand in die Anlage geschleust – das letzte Mal, dass ein Mensch ihn anfasst. Dann öffnet sich eine Tür in der Stahlwand, und ein Greifarm holt sich das Gefäß. Mithilfe eines zweiten Greifarms gelangt die Probe in eine Petrischale. Die Herausforderung dabei: „Die Haut muss immer in einer bestimmten Orientierung vorliegen.“

Wie das zu bewerkstelligen ist, darüber haben die Experten aus vier Fraunhofer-Instituten, die an dem Projekt „Tissue Engineering on Demand“ beteiligt waren, lange gegrübelt: Forscher aus dem IGB, dem Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Stuttgart, dem für Produktionstech- nologie IPT in Aachen und dem für Zelltherapie und Immunologie IZI in Leipzig. „Irgendwann sind wir auf die Idee gekommen, die physikalische Eigenschaft zu nutzen, dass Fett oben schwimmt“, sagt Walles. Gibt man die Haut mit ein bisschen Fett in die Petrischale, liegt die Hautprobe wie gewünscht.

Das Hautstück in der Petrischale fährt nun auf der Schiene zu einem schwarzen Plastikkästchen, in dem sich ein Laser befindet: Er vermisst die Stelle, wo die Haut liegt, ganz genau, bevor die Petrischale ein Stück zurückfährt zu einer Skalpellklinge, die die Hautprobe einritzt. „Dann kommt eine Kollagenase-Lösung auf die Probe“, erklärt die Biologin. Diese Enzymlösung setzt aus der Haut Zellen des Bindegewebes frei, sogenannte Fibroblasten.

ERST VERDAUT, DANN VERMEHRT

Doch die Fibroblasten allein reichen nicht, um komplette Haut herzustellen. Daher wird die Hautprobe mit einem anderen Enzym erneut „verdaut“. Dieses löst die Keratinozyten heraus, die später die Oberhaut und die verhornte Schicht der Haut bilden. Fibroblasten und Keratinozyten werden konzentriert, ihre Zahl wird bestimmt, dann werden die Zellen vollautomatisch an Modul zwei weitergereicht.

„Hier findet die Vermehrung statt“, erklärt Heike Walles. Dafür kommen Fibroblasten und Keratinozyten getrennt in rechteckige Zellkulturflaschen. Sie enthalten eine Flüssigkeit, die die Zellen zur Vermehrung anregt. „Über pH-Wert-Messung und automatisierte Mikroskopie kontrollieren wir, wie voll die Flaschen sind.“ Sobald der Flaschenboden komplett bedeckt ist, wird das Enzym Trypsin auf die Zellen gegeben, damit sich diese vom Boden lösen. „Dann wird eine bestimmte Zelldichte pro Volumen Medium eingestellt, und die Zellen werden in das letzte Modul übergeben.“

„Das ist die übliche Kollagenkultur, die es schon seit vielen Jahren gibt“, beurteilt DKFZ-Forscherin Boukamp das Prinzip. Das Verfahren sei vielfach bewährt, „so etwas kann man natürlich gut automatisieren“. Sie selbst baut ihre Hautmodelle anders auf: mithilfe von Gerüsten, auf denen die Zellen wachsen. „Mit dieser Art von Kulturen können wir ein Hautäquivalent herstellen, das sich über mehrere Monate regeneriert.“

ZWEI WOCHEN HALTBAR

Wie lang die Haut aus der Fabrik hält, ist noch unklar. Walles rechnet mit 14 Tagen, so der Erfahrungswert aus dem entsprechenden manuellen Prozess. Damit sich aus den Fibroblasten und Keratinozyten Haut züchten lässt, werden zunächst nur die Fibroblasten mit einer Kollagenlösung gemischt. „Das Gemisch pipettieren wir in kleine Träger und geben mit haarfeinen Nadeln Zellkulturmedium dazu“, erklärt Walles.

LUFT sorgt für HORNHAUT

Dabei kommt es zur pH-Veränderung von leicht sauer zu neutral. „Das Kollagen geliert, so entsteht der untere Teil der Haut“, erklärt Walles. Das transparente Gelee kommt für einen Tag in den Brutschrank, ehe es mit einer Schicht Keratinozyten bedeckt und für 10 bis 14 Tage kultiviert wird. „Wir verändern an bestimmten Tagen die Zusammensetzung des Mediums und senken dessen Spiegel ab.“ Die Folge: Die Keratinozytenschicht hat irgendwann Luftkontakt. Und Luft ist ein entscheidender Stimulus für die Zellen – sie teilen sich und verhornen dabei.

„Zum Testen toxischer Substanzen ist ein billiges, gut reproduzierbares System sicher ideal“, bewertet die Forscherin Petra Boukamp den Ausstoß der Hautfabrik. Für solche Testzwecke ist die produzierte Haut auch fürs Erste vorgesehen: „Mit unseren Hautmodellen können wir Korrosion und Penetration prüfen“, erläutert Walles. Korrosion bedeutet hier die Hautschädigung durch Säuren, Penetration das mechanische Durchdringen der Haut. Getestet wird die biologische Qualität der Haut mit „ Validierungssubstanzen“ wie Koffein.

Für die Tests hat die Hautfabrik eine Akkreditierung. Schickt ein Chemieunternehmen eine Substanz ans IGB, kann deren Toxizität am Hautäquivalent geprüft werden – im Prinzip. Das ist momentan noch Zukunftsmusik, denn die Haut, die gerade in der Fabrik in Stuttgart entsteht, ist noch nicht zugelassen. „Momentan läuft die Validierung für ein einschichtiges Hautmodell.“ Es ist nur aus Keratinozyten aufgebaut. Walles erhofft Ende des Jahres die Zulassung.

Beim European Centre for the Validation of Alternative Methods (ECVAM) ist ebenfalls eine Zulassung für das zweischichtige Hautäquivalent in Vorbereitung. Walles ist optimistisch: „Ende 2012 wollen wir so weit sein, dass wir Platten so mit Gewebemodellen bestücken können, wie der Hersteller es möchte.“

Doch Boukamp warnt: „Eigentlich ist das noch lange keine Haut –> selbst das Hautäquivalent wird von Gutachtern nicht wirklich akzeptiert.“ Bis zu richtiger Haut fehlt so einiges: „Es sind keine Zellen des Immunsystems drin. Die Haut enthält auch keine Haarfollikel oder Drüsen“, stimmt Walles zu. Es werde noch lange dauern, bis eine derart vollständige Haut hergestellt werden könne.

Allerdings arbeitet Walles bereits mit einer Gruppe von der Technischen Universität Berlin daran: „Die können sehr gut Haarfollikelkulturen anlegen – und wir hoffen, dann tatsächlich Haut mit Haaren herstellen zu können.“ Als Transplantat könne die Haut aber wohl schon jetzt eingesetzt werden, meint die Forscherin. Viel Bedarf für ein Hauttransplantat besteht vor allem bei Verbrennungen. Jährlich erleiden etwa 2000 Menschen schwere Brandverletzungen, die nur in spezialisierten Verbrennungszentren behandelt werden können. Dort möchte Heike Walles Ende nächsten Jahres anfangen, die Hautfabrik zu installieren: „Langfristig kann der Chirurg dann irgendwo gesunde Haut entnehmen und sie in die Maschine stecken. Und drei Wochen später holt er sich sein Transplantat.“ ■

TABEA OSTHUES studiert Wissenschaftsjournalismus in Darmstadt. Die Hautfabrik hat sie während ihres Praktikums bei bdw besucht.

von Tabea Osthues

Kompakt

· Ersatzhaut aus menschlichen Zellen wird für Chemikalien-Tests und für Transplantationen gebraucht.

· Beide Anwendungen hat die Fraunhofer-Forscherin Heike Walles mit ihrer „Hautfabrik“ im Blick.

· Es ist ihr bereits gelungen, Haut aus zwei Schichten herzustellen.

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