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FÜR IMMER ZU ZWEIT

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FÜR IMMER ZU ZWEIT
Ihr Bund fürs Leben beginnt schon vor der Geburt – und er reicht über den Tod hinaus. Zwillinge erleben gemeinsam Dinge, die gewöhnlichen Menschen verborgen bleiben.

Bis zur 20. Schwangerschaftswoche wusste Marianne Andres (Name geändert, d. Red.) nicht, dass sie Zwillinge erwartete. Im Ultraschallgerät ihres Frauenarztes in Taufkirchen war nur ein einziger Fötus zu sehen, und auch sonst schien alles normal. Dann schwoll sie im fünften Monat geradezu an. Erst bei einer Fruchtwasser-Untersuchung in einer Klinik für Pränatalmedizin in München wurde sie zu ihrem Erstaunen gefragt: „Wussten Sie eigentlich, dass es zwei sind?” Der Spezialist hatte in ihrem Bauch – „in meiner linken Taille”, wie Marianne Andres sagt – eine zweite Fruchtblase entdeckt. Darin lag ihr Sohn Linus, eng an die Gebärmutterwand gepresst. Um ihn herum war so gut wie kein Fruchtwasser zu erkennen, während sein Bruder Markus in seiner Blase in einer Überfülle schwamm. „Fetofetales Transfusionssyndrom”, lautete die Diagnose. Bei dieser Entwicklungsstörung fließt ständig Blut aus dem Kreislauf des einen Zwillings (hier Linus) in das des anderen (Markus). Und das ist für beide Kinder lebensbedrohlich: Der abgebende Teil, der sogenannte Donor, bleibt klein und dünn. Der Akzeptor wächst zwar kräftig, aber sein Herz kann das große Blutvolumen kaum bewältigen. Seine Nieren arbeiten auf Hochtouren.

Marianne Andres musste sofort operiert werden – in der Asklepios-Klinik Hamburg-Barmbek, „damals die einzige Klinik, die diese spezielle Operation machen konnte”. Zwölf Jahre ist das jetzt her, doch sie erinnert sich noch genau, wie sie dort lag, nur lokal betäubt, und das Innere ihrer Bauchhöhle ins Riesenhafte vergrößert auf zwei Monitoren vor sich sah. „Ab und zu zappelte ein Ärmchen oder Beinchen vorbei.” In Form eines riesigen Bleistifts ragte ein Laser ins Bild. Damit verödeten die Chirurgen die Blutgefäße, die von Linus zu Markus führten. „Das sah aus wie kleine Explosionen”, erinnert sich Marianne Andres. „ Es kam mir unwirklich vor. Wie Star Wars.” Danach wurden aus dem Bauch der werdenden Mutter zwei Liter Fruchtwasser entnommen. „ Und in dem Moment kam plötzlich von links der Zweite angeschwommen.” Linus hatte endlich Bewegungsfreiheit – und seine Mutter genauso Angst um ihn wie um seinen Bruder. Zwillinge leben gefährlich, solange sie noch nicht geboren sind. Allein das fetofetale Transfusionssyndrom bedroht jährlich in Deutschland 230 ungeborene Zwillingspaare. Doch es gibt noch weitere Risiken für Mutter und Kinder. „Schwangerschaftskomplikationen finden sich bei 80 Prozent der Mehrlingsschwangeren gegenüber 25 Prozent der Einlingsschwangeren”, beziffert der amerikanische Gynäkologe Alan Penzias.

EIN ZWILLING VERSCHWINDET

Die Psychologin, Wissenschaftsjournalistin und Zwillingsmutter Angela Grigelat relativiert das ein wenig: Manche Autoren würden „ jede Abweichung von der perfekten Schwangerschaft mit dem Begriff Komplikation belegen und oft die Daten für alle Mehrlingsschwangerschaften einschließlich der höhergradigen (mit drei und mehr Feten) zusammenfassen”, schreibt sie in ihrem Buch „ Auf einmal zwei”.

Und doch betont auch sie: Es kommt gar nicht so selten vor, dass Menschen als Mehrlinge ins Leben starten, ihre Geschwister aber schon vor der Geburt verlieren. Mediziner sprechen von „ vanishing twins” (verschwindende Zwillinge). Ein Drittel bis die Hälfte aller in den ersten drei Monaten festgestellten Zwillingsschwangerschaften mündet in Einlingsgeburten. Ein aktuelles medizinisches Lehrbuch vermerkt, dass auch nach der 17. Woche das Fehlgeburtenrisiko bei Zwillingen um den Faktor vier bis sechs höher liegt als bei gleichaltrigen Einlingen. Dabei spielt auch das Alter der Mutter eine Rolle, denn Mehrlingsmütter sind oft schon etwas älter. Bei sogenannten Spätgebärenden (der Begriff wird für Frauen ab 35 benutzt) ist die Häufigkeit von Mehrlingsschwangerschaften aus hormonellen Gründen leicht erhöht. Und sie erhöht sich noch einmal stärker, wenn die Zeugung nach einer stimulierenden Hormonbehandlung oder im Reagenzglas stattgefunden hat (siehe Grafik „Immer mehr Babys im Bauch”).

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Ein Trost: Verglichen mit den Dramen der Schwangerschaft verläuft die Geburt meist unspektakulär. In Fachbüchern findet man häufig Zeichnungen, die verquer im Bauch liegende Zwillinge zeigen, die sich beim Geburtsvorgang ineinander verhaken. Solche „ Kollisionen” kommen vor, sind aber extrem selten. Mit zwei Dingen müssen Zwillingseltern allerdings rechnen: Ihre Kinder kommen früher zur Welt als Einlinge – als ideal gilt für sie der Zeitraum zwischen der 36. und 38. Woche. Und sie sind leichter. „ Linus und Markus wurden fünfeinhalb Wochen früher geholt, weil ich unter einer Schwangerschaftsvergiftung litt”, erzählt Marianne Andres. „Sie wogen 1100 und 2200 Gramm.” Sie wurden per Kaiserschnitt entbunden und mussten noch eine Weile im Brutkasten reifen. Ein Kaiserschnitt wird bei Zwillingen doppelt so häufig gemacht wie bei Einlingsgeburten, ist aber nicht in allen Fällen zwingend. „Immerhin die Hälfte der Zwillinge wird derzeit in Deutschland vaginal entbunden”, berichtet Grigelat. Von Hausgeburten rät allerdings sogar der Bund Deutscher Hebammen ab – das Risiko ist zu groß. Die gute Nachricht aus den Frauenkliniken Deutschlands lautet trotzdem: Bei mehr als 99 Prozent aller Zwillingsgeburten überleben beide Kinder.

Doch zu Hause geht der Stress erst richtig los. Zwei Babys wollen gleichzeitig gefüttert, gewickelt, herumgetragen und getröstet werden – eine fast unlösbare Aufgabe für die Eltern. Manche Zwillingsmütter scheinen es zu schaffen, beiden Kindern gleichzeitig die Brust zu geben, die entsprechende Ratgeberliteratur ist voll von Tipps dazu.

KONKURRENZ UM ELTERNLIEBE

Andere Probleme bleiben, selbst wenn es „nur” um einen Spaziergang geht: „Eine Stunde Vorlaufzeit sollte die Mutter mindestens einkalkulieren, wenn beide Kinder der Jahreszeit entsprechend und annähernd sauber gekleidet, zudem gewickelt und gefüttert sein sollen, wenn man sie, um all dies zu tun, nicht extra wecken will und auch die Erwachsene selbst gerne geduscht und angezogen wäre”, schildert es realitätsnah Angela Grigelat. „ Diese Aktivitäten werden nicht geräuschlos abgehen. Das Abgelegt-Werden, das Warten, vielleicht Schwitzen oder schon wieder die Windeln voll haben sind keine Zustände, die ein Neugeborenes unkommentiert lassen wird.”

Mehrlingsbabys bekommen zwangsläufig weniger elterliche Aufmerksamkeit als Einlinge, wie entsprechende Studien belegt haben. Die Konkurrenz um Ressourcen, die schon im Mutterleib begann, setzt sich draußen fort. Das hat zur Folge, dass Zwillinge im Durchschnitt gegenüber Einlingen einen leichten Entwicklungsrückstand haben: Im Vorschulalter schneiden sie bei Intelligenztests etwas schlechter ab, und sie lernen später sprechen.

Doch Zwillinge haben auch einen großen Vorteil gegenüber Single-Babys – sie haben einander. „Sie reagieren aufeinander und beruhigen sich zum Teil gegenseitig”, beschreibt es die Psychologin Meike Watzlawik, die sich an der TU Braunschweig über die Entwicklung von Zwillingen im Vergleich mit anderen altersnahen Geschwistern habilitiert hat. „Schon in den ersten Lebensmonaten finden sich die beiden zusammen, um sich gegenseitig Wärme und Geborgenheit zu geben”, heißt es in einer österreichischen Zwillingsstudie von Christine Fauland und Georg Simbruner. „Die unzähligen Experimente mit dem Körper des anderen beginnen damit, dass die Zwillinge einander in den Mund und in die Augen fahren, aneinander zerren, sich manches Mal beißen, später einander umstoßen.” Diese mal zärtliche, mal deftige Intimität zwischen gleichzeitig aufwachsenden Geschwistern ist eine Erfahrung, die Einlinge missen müssen. Ihre Spuren ziehen sich durch das ganze spätere Leben.

Das gemeinsame Bett spielt dabei eine große Rolle. „Gleich nachdem sie aus der Klinik zu Hause waren, haben wir Linus und Markus zusammengelegt”, sagt Marianne Andres. Dabei blieb es – bis heute. Zwar hat jeder der Zwölfjährigen längst sein eigenes Bett, aber in den meisten Nächten wollen sie sich einfach nicht trennen. Die Mutter lässt sie gewähren, obwohl sie manchmal denkt: „Das kann so nicht weitergehen. Die beiden können ja schließlich nicht die gleiche Frau heiraten.” Ein Extremfall waren Alice und Nellie Clarke, zwei britische Zwillinge, die im Jahr 2000 miteinander ihren 100. Geburtstag feiern konnten, bevor sie 2001 kurz nacheinander starben. Sie hatten nie geheiratet und angeblich niemals eine Nacht ohne einander verbracht. Angesichts solcher Paare frage man sich doch, meint Angela Grigelat, „wie viel Gemeinsamkeit unter Geschwistern noch normal ist”.

LEBENSLANG UNTER DER LUPE

Was ist überhaupt für ein Zwillingsleben normal? Und welche Varianten gibt es? Bedauerlicherweise sind diese Fragen noch nicht geklärt. Zwillingsstudien, die mit großen Stichproben arbeiten, gibt es zwar zuhauf (siehe Beitrag „Das Leben macht den Unterschied” ab Seite 20), aber sie konzentrieren sich meist auf die Rolle von Genen und Umwelt. Wissenschaftliche Untersuchungen, die das Leben von Zwillingspaaren über lange Zeit (im „ Längsschnitt”) verfolgen, sind dagegen selten. An der TU Braunschweig läuft seit 1991 solch ein groß angelegtes Projekt unter der Regie des Psychologie-Professors Werner Deutsch. Es hat schon einige erstaunliche Ergebnisse hervorgebracht.

Ab welchem Alter erkennen sich Zwillinge eigentlich selbst auf Fotos wieder?, fragten sich Deutsch und seine Mitarbeiterinnen Petra Sandhagen und Angela Wagner. Zwischen dem zweiten und dem vierten Geburtstag untersuchten sie 12 eineiige und 13 zweieiige Zwillingspärchen je vier Mal. Ergebnis: Stets wurde zuerst das Geschwisterchen erkannt, später erst die eigene Person. Das steht im Einklang mit früheren Befunden, nach denen Zwillingskinder ihr Spiegelbild zunächst für ihren Zwilling halten – schließlich sehen sie den öfter als sich selbst. Und, wie zu erwarten war: Zweieiige Zwillinge machen deutlich schnellere Fortschritte bei der Unterscheidung als eineiige, die mit der eigenen Ähnlichkeit zu kämpfen haben. „Da ist bei mir eine Sommersprosse. So merke ich mir, dass ich nicht du bin”, erklärte dazu eine Dreijährige in einer amerikanischen Studie. Was in Braunschweig auch herauskam: „Ich” und „mein” zu sagen, lernen Zwillinge ähnlich schnell wie andere Kinder auch. „Sie liegen genau zwischen Kindern, die ohne älteres Geschwister und mit einem älteren Geschwister aufwachsen”, erklären die Forscher. Entgegen landläufiger Meinung haben Zwillinge auch keinen leichteren Zugang zu dem Wort „wir”. „Ohne ‚ich‘ kann in der Sprachentwicklung kein ‚wir‘ werden”, betont Meike Watzlawik. „ Dieses Prinzip wird auch nicht durch eine besondere Entwicklungskonstellation wie die von genetisch identischen Zwillingen außer Kraft gesetzt.” Und doch gibt es Besonderheiten in der Sprachentwicklung eineiiger Zwillinge: Manche erfinden im Alter von zwei Jahren Doppelnamen für sich als Paar, etwa „Kaki” für Kathrin und Christina. Andere sprechen bis zum Schuleintritt sogar eine eigene Geheimsprache, die außer ihnen niemand versteht.

DER ALLTÄGLICHE ZWILLINGSKULT

Welche Rolle spielen Eltern, Verwandte und andere Erwachsene dabei, ob Zwillinge sich eher ähnlich oder eher verschieden fühlen? „Eine große Rolle”, meint Rita Haberkorn. Die Pädagogin, die in der Aus- und Weiterbildung von Berufskollegen tätig ist, beschäftigt sich mit Zwillingen und berät Zwillingseltern, seit sie selbst vor 28 Jahren zwei Kinder zugleich bekam: Hannah und Jonathan. „Wenn ich beiden die gleichen Jäckchen und Mützchen anzog und sie im Zwillingskinderwagen ausfuhr, bekam ich viel mehr Aufmerksamkeit als wenn ich sie einzeln präsentierte”, beobachtete sie. Eineiige Zwillinge und ihre Eltern würden deutlich stärker beachtet als das bei zweieiigen der Fall sei. Interessant dabei: Manche Eltern irren sich, was die Eiigkeit ihrer Kinder betrifft. Als Werner Deutsch seine Versuchskinder nach den Foto-Experimenten genetisch testen ließ, kam heraus, dass fünf von zwölf nach Ansicht der Eltern zweieiigen Paaren in Wirklichkeit eineiig waren. Bei diesen Kindern hatten die Eltern eher die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten herausgestrichen. Umgekehrt kamen keine Fehleinschätzungen vor. Rita Haberkorn förderte bewusst die Eigenständigkeit von Hannah und Jonathan: Sie feierten neben dem gemeinsamen Geburtstag mit der Familie ihre eigenen Kindergeburtstage, jeder mit seinem eigenen Freundeskreis. Sie kamen in getrennte Gruppen im Kindergarten und in verschiedene Klassen in der Grundschule. „Sie sollten beide ihre eigene kleine Welt haben und Lehrerinnen, die sich nur auf das einzelne Kind konzentrieren”, sagt Haberkorn.

Eineiige Paare berichten nur allzu oft davon, dass Lehrer sie nicht auseinanderhalten können und bei der Leistungsbewertung flugs zu einer Einheitsnote greifen. Doch soll man Zwillinge in Kindergarten und Schule wirklich auseinanderreißen, auch wenn sie das selbst gar nicht wollen, weil sie aneinander hängen? Es gibt kaum eine heißer diskutierte Frage unter Zwillingseltern, und von Pädagogen wird sie unterschiedlich beantwortet. Inzwischen haben drei internationale Studien die Folgen der Trennung untersucht. Sie fanden positive Effekte nur bei Pärchenzwillingen in höheren Klassen: Die Sprachleistungen von beiden wurden besser. Bei kleineren Kindern, besonders bei Eineiigen, sanken die Schulleistungen dagegen – „möglicherweise, weil den Kindern durch die Trennung die gewohnte Sicherheit genommen wird”, meint Watzlawik. So wie ein einzelnes Kind sein Kuscheltier zum Trost benutzt, wenn es sich einsam fühlt (Psychologen sprechen von „ Übergangsobjekten”), benutzen Zwillinge einander. Entsprechend besitzen sie weniger Kuscheltiere als andere Kinder – auch das fand eine Untersuchung heraus.

PUBERTÄT ZU ZWEIT

Meike Watzlawik selbst hat sich für eine Fragebogen-Untersuchung die ersten Jahre der Pubertät vorgenommen. Da endlich müssen doch die Fetzen fliegen, denkt sich der Laie. Und fühlt sich bestätigt, wenn Marianne Andres über Linus und Markus berichtet: „Seit einem Jahr bekriegen sie einander.” Auch die Braunschweiger Psychologin erwartete, dass die doppelte Emanzipation – von den Eltern, vom gleichaltrigen Geschwister – den Zwillingen mehr abverlangen würde als gewöhnlichen Jugendlichen. Weit gefehlt! Ihre Untersuchung fand, dass Zwillinge im Alter zwischen 10 und 15 Jahren weniger streiten, sich besser verstehen und mehr Zeit miteinander verbringen als andere Geschwister, die im Alter nahe beieinander sind. Am harmonischsten glitten eineiige Mädchenpaare durch die schwierige Phase der frühen Pubertät, am heftigsten fetzten sich Geschwisterpaare verschiedenen Geschlechts. So jedenfalls die Tendenz, die Forscherin betont aber: „Unter den Kindern, die für diese Studie interviewt wurden, waren durchaus eineiige Zwillinge, die sich oft mit ihrem Geschwister stritten, möglichst keine Zeit mit ihm verbringen wollten und die das Zwillingsdasein an sich ablehnten.”

„Es gab eine Zeit, in der man gerne gleich aussah”, erinnert sich Klaus-Peter Waldenberger, der heute 48-jährige Bürgermeister der Stadt Lauffen am Neckar, an sein Aufwachsen mit Zwillingsbruder Rolf. „Mit der Pubertät hat sich das schlagartig geändert – da wollte man nicht nur anders sein als die Eltern, sondern auch anders als der Bruder.” Trotzdem landeten beide schließlich im selben Beruf, wurden Bürgermeister – Rolf in einer kleineren Gemeinde als Klaus-Peter. Wie überhaupt der eine halbe Stunde ältere Zwilling stets der dominante war. „Es gab eine klare Rollenverteilung. Ich war der Aktive, Vorangehende, er der nachfolgende Teil. Als Erstgeborener habe ich Institutionen und Vereine gegründet und geleitet, die Arbeit und Koordination hat dann mein Bruder erledigt. Er stand gerne im Hintergrund – das war so in der Schülermitverwaltung, dem Sportverein, einem Rock’n’ Roll-Club, der Kirchenarbeit und auch später im Beruf.” Zwillingsforscher sprechen von der „Außenminister”- und der „ Innenminister”-Rolle – eine Verteilung, die bei eineiigen Zwillingen häufig ist und die sich laut Rita Haberkorn recht stabil durchs Leben zieht. Sie hat aber rein statistisch nichts mit dem Geburtszeitpunkt zu tun, haben penible Wissenschaftler festgestellt. Wie kommt es zu einer solchen Rollenverteilung und was erhält sie aufrecht? Und wie oft kommt es vor, dass Zwillinge denselben Beruf ergreifen – öfter als bei normalen Geschwistern? Werner Deutsch berichtet in einem Aufsatz über zwei junge Ärztinnen, die gemeinsam eine Praxis betreiben und sich einen Heidenspaß daraus machen, ihre Patienten zu narren, indem sie sich für die jeweils andere „Frau Doktor” ausgeben. Sie bewohnen die zwei Hälften eines Doppelhauses. Nur den Freund oder Ehemann würden sie nicht teilen, sagten sie lachend im Interview. Doch das sind Einzelaussagen. Systematisch untersucht sind weder das Berufs- noch das Liebesleben erwachsener Zwillinge. Immerhin haben Familienforscher herausgefunden, dass Zwillinge insgesamt etwas später und seltener heiraten als Einlinge, und dass sie – ob eineiig oder nicht – den Partner des jeweils anderen nicht überdurchschnittlich attraktiv finden. Somit dürfte das Szenario, dass beide sich in dieselbe Person verlieben, eher selten vorkommen. Die Brüder Waldenberger vermieden Konkurrenz auf diesem Gebiet, indem sie sich auf Haarfarben spezialisierten: „ Rolf stand auf blond, ich auf schwarz.” Auch eine andere Lösung wird bisweilen gewählt – und sorgt dann unweigerlich für Schlagzeilen: die Ehe zwischen zwei eineiigen Zwillingspaaren. Kinder aus solchen Verbindungen sind sich genetisch so ähnlich wie Geschwister, obwohl sie verwandtschaftlich nur Cousins und Cousinen sind.

EIN ZWILLING BLEIBT ZURÜCK

Selbst das Thema „Zwillinge und der Tod” birgt eine tröstliche Botschaft in sich: Wie eine statistische Auswertung aus dem Jahr 2003 ergab, begehen Zwillinge signifikant seltener Selbstmord als Einlinge. Die starke Bindung zwischen ihnen schütze vor suizidalem Verhalten, folgerte die Leiterin der Studie, Cecilia Tomassini. Und auch wenn die Vorstellung, der lebenslange Gefährte könnte sterben, große Ängste auslöst – insbesondere bei Zwillingen, die sich besonders nahe stehen –, gibt es keine Hinweise darauf, dass sie die Trauer schlechter bewältigen als andere, die einen geliebten Menschen verlieren. Klaus-Peter Waldenbergers Bruder Rolf starb mit 35 Jahren an einem Sportunfall. Das ist jetzt 13 Jahre her. Wenn der Überlebende über den Toten spricht – und das tut er oft –, ist vom Tod nicht die Rede. „Mein Bruder, er lebt nicht mehr”, ist die Formulierung, die der Bürgermeister fast beiläufig verwendet, wenn er die gemeinsamen Erlebnisse und Streiche wiedererstehen lässt. „Er fehlt mir sehr”, sagt Klaus-Peter Waldenberger. „ Irgendwie fehlt er aber auch nicht. Er ist ja noch da, in meiner Person. Als Double sozusagen.” ■

von Judith Rauch

KOMPAKT

· Eineiige Zwillinge lassen sich, solange sie Kleinkinder sind, von der eigenen Ähnlichkeit täuschen und erkennen sich selbst auf Fotos später wieder als andere Kinder.

· Trotzdem haben sie keine Probleme, sich als Individuen zu empfinden und lernen im richtigen Alter, „ich” und „mein” zu sagen.

· Ob man Zwillinge in Kindergarten und Schule trennen sollte, ist umstritten.

· Die besondere Nähe von Zwillingen führt dazu, dass sie seltener und später heiraten als Einlinge.

IMMER MEHR BABYS IM BAUCH

In den letzten Jahren ist der Anteil von Mehrlingsgeburten in Deutschland stark angestiegen. So kamen im Jahr 2007 auf 10 000 Geburten 160 Zwillings- und 4 Drillingsgeburten. Ein Teil des Anstiegs erklärt sich aus dem Durchschnittsalter der Mütter, das heute höher liegt als in den 1960er- und 1970er-Jahren. Aber auch die Eingriffe der Reproduktionsmediziner – Hormonbehandlungen und In-vitro-Befruchtungen – tragen zum Mehrlingsboom bei.

ZWILLINGE und Andere KLONE

Eineiige (monozygote) Zwillinge sind biologisch gesehen Klone, da sie aus einer einzigen Zelle hervorgegangen sind. Etwa 2200 eineiige und 2300 zweieiige Paare wurden 2007 von der Österreicherin Barbara Prainsack befragt. Die Politologin, die am Center for Biomedicine & Society des Londoner Kings College arbeitet, wollte wissen: Wie beurteilen diese beiden Gruppen künstliche Fortpflanzungstechniken, das Klonen von Kindern eingeschlossen?

Nur 10 bis 12 Prozent sahen in den neuen Möglichkeiten etwas Unnatürliches. Zwar wollten 44 Prozent in jeder Gruppe – wie der Durchschnitt der Engländer – das Klonen zum Zweck der Fortpflanzung ganz verbieten. Aber die Gruppe der Monozygoten befürwortete das Klonen für therapeutische Zwecke stärker, die absichtliche Zeugung von sogenannten Rettungsgeschwistern eingeschlossen, die bei einer Erkrankung dem Klon-Geschwister Gewebe und Organe spenden könnten.

Einen Grund für die höhere Akzeptanz hat Prainsack bereits 2006 in ausführlichen Interviews mit sieben monozygoten und vier dizygoten Zwillingspaaren aufgespürt: Die natürlichen Klone fühlen sich trotz ihrer genetischen Ähnlichkeit als Individuen. Ihre „verkörperte” Erfahrung sagt ihnen, dass Gene nicht alles sind. Sie empfinden sich weder als „nur eine Hälfte” noch als „ total gegensätzlich”. Sie erleben durchaus eine enge Zwillingsbindung, jedoch in „zeitlich synchronen Lebensläufen”, wie Prainsack betont: Keine Jahre oder Generationen liegen zwischen ihnen – wie es zwischen geklonten Nachkommen und ihren genetisch nahezu identischen Vätern oder Müttern der Fall wäre. Die Vorstellung, sie wären zeitversetzt „produziert” worden, löste jedoch bei allen Befragten Angst aus: die Angst, Erwartungen nicht zu genügen und immer mit dem Vorbild verglichen zu werden. Fazit: Allein in den Motiven der Klonierer und nicht in der hohen genetischen Übereinstimmung sehen die „Natur-Klone” das ethische Problem. Charlotte Kerner

LESERAKTION: MEIN ZWILLINGS-ERLEBNIS

Sind Sie selbst Zwilling? Haben Sie Zwillingskinder? Oder Zwillinge im Familien- oder Kollegenkreis? Dann teilen Sie Ihre lustigsten, traurigsten, anrührendsten Zwillings-Erlebnisse doch anderen bdw-Lesern mit.

Bitte schicken Sie bis spätestens 10. Juni 2009 eine E-Mail mit Ihrer Zwillings-Anekdote (maximal 2000 Zeichen) und, falls vorhanden, mit einem Foto an: ulrike.matzke@konradin.de

Ihren Bericht finden Sie wenige Tage später auf www.bild-der-wissenschaft.de

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Stern|wurm  〈m. 2u; Zool.〉 Angehöriger einer Gruppe von meeresbewohnenden Würmern, die einen sackförmigen Körper u. eine Rüsselbildung am Vorderkörper gemeinsam haben: Gephyreae

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