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Gefangen im neuronalen Lärm

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Gefangen im neuronalen Lärm
Autismus, das fehlende Interesse von Menschen an sozialen Kontakten, das oftmals mit einer Hochbegabung einher geht, ist möglicherweise keine Krankheit. Es könnte auch ein Versuch der Natur sein, die Evolution des Menschen voran zu bringen, berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung am Sonntag (12. Mai) im Wissenschaftsteil.

Die ersten beiden Jahre von Steffis Kindheit (Name geändert) verliefen weitgehend normal. Dann fielen den Eltern Besonderheiten auf: Das Mädchen spielte nicht mit Puppen oder Stofftieren, sondern am liebsten mit einem Aletelöffel, den es in immer gleicher Weise mit den Fingern der rechten Hand hin- und herbewegte. Sie drehte die Räder eines Plastikautos und war dabei so in sich versunken, daß sie die Welt um sich herum komplett vergaß.

Steffi hatte kein Bedürfnis nach Körperkontakt, nach Schmusen und Drücken. Und sie geriet bei lauten Geräuschen wie brummenden Bohrmaschinen in Panik. Schließlich fühlte sie sich nur noch in ihrer Ecke im Kinderzimmer wohl. Erst nach Jahren der Odyssee durch die Wartezimmer verschiedener Ärzte – die einen sagten den Eltern, sie sollten doch froh sein, ein so ruhiges Kind zu haben, die anderen schickten sie zu Kollegen – diagnostizierte ein Mediziner die richtige „Krankheit“: Steffi ist Autistin. Die frühkindliche Form dieser Krankheit zeigt sich spätestens bis zum dritten Lebensjahr und tritt schätzungsweise bei 4 bis 5 von 10.000 Kindern auf, Jungen sind drei- bis vierfach häufiger betroffen. Forscher vermuten, daß sowohl die Gene als auch die Umwelt die Ursache sein könnten. Doch bislang ist nicht einmal klar, ob es sich es sich um eine einheitliche Erkrankung handelt oder um verschiedene Formen, die ähnliche Symptome zeigen.

Jetzt haben zwei neue Studien Steine in dieses unvollständige Puzzle gefügt: Die eine weist Besonderheiten in der Gehirnstruktur von Autisten nach, die andere offenbart einen Zusammenhang zwischen Autismus und dem Immunsystem. Forschern war schon länger aufgefallen, daß unter autistischen Kindern ungewöhnlich viele an Darmentzündungen erkrankt waren. Dieser Beobachtung gingen Mediziner der Royal Free & University College Medical School (London) jetzt in einer immunologischen Untersuchung an 36 Kindern mit Darmentzündung nach. 25 davon waren autistisch, 11 „normal“. Zum Vergleich untersuchten die Forscher noch 18 gesunde Kinder. Die in der Zeitschrift Molecular Psychiatry veröffentlichten Ergebnisse zeigten bei 23 der 25 Autisten Anzeichen einer Autoimmunreaktion, also von Attacken des Immunsystems auf körpereigene Zellen. Bei den übrigen, nicht-autistischen Kindern fanden sich keine Hinweise auf ein solches Autoimmun-Geschehen. Die Mediziner vermuten, daß das Immunsystem der Autisten auch Gehirnzellen angreifen und so die Symptome bewirken könnte. Experimente an Mäusen hatten gezeigt, daß Autoimmunkrankheiten zu neurologischen Schäden und Verhaltensänderungen führen können. Doch auf den Menschen lassen sich solche Beobachtungen nicht so ohne weiteres übertragen.

Anders ist es mit den Ergebnissen der vor kurzem in der Zeitschrift Neurology veröffentlichten Studie. Sie könnten die Symptome der Erkrankung erklären. Autisten können keine normale Beziehung zu anderen Menschen herstellen, sie vermeiden Körperkontakt und entwickeln Stereotypien – immer wiederkehrende, einförmige Bewegungen. Sie wiederholen an sie gerichtete Fragen, sind oft überempfindlich, zum Beispiel gegenüber Lärm, und haben Schwierigkeiten, Wahrnehmungen zu interpretieren. Andererseits können sie auch erstaunliche Leistungen vollbringen, zum Beispiel riesige Zahlen miteinander multiplizieren. Oder sie sind überdurchschnittich musikalisch. So konnte Steffi Lieder wie selbstverständlich mit englischen oder italienischen Texten wiedergeben.

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Manuel F. Casanova vom Downtown VA Medical Center in Augusta (Georgia) und Kollegen des Medical College of Georgia sowie der University of South Carolina konzentrierten sich in ihrer Studie auf die Gehirnstruktur. Dazu hatten die Mediziner die Gehirne von verstorbenen Autisten untersucht und sie mit denen von normalen Personen verglichen. Unter dem Mikroskop hatten die Neurologen Gewebeschnitte aus drei verschiedenen Arealen der Großhirnrinde analysiert. Das Augenmerk der Forscher galt Strukturen, die als Minicolumns bezeichnet werden. Diese Minisäulen sind kompliziert aufgebaute Basismodule der Hirnrinde. Eine jede besteht aus einer Gruppe zusammengehöriger Nervenzellen, die sich säulenförmig aus der Tiefe des Gehirns zu den oberen Schichten der Rinde ziehen und dabei vielfältige neuronale Verknüpfungen ausprägen. In den Gewebeschnitten entdeckten die Forscher in allen drei Gebieten dasselbe: Bei den Autisten waren die Minisäulen schmaler als bei den Vergleichspersonen und enthielten weniger Zellen. Die Gesamtzelldichte in der Hirnrinde aber war annähernd gleich – die Autisten hatten also mehr Minisäulen in ihrem Gehirn als die normalen Probanden. Mit diesem Befund, sagen die Neurologen, lassen sich möglicherweise einige der autistischen Auffälligkeiten erklären. Die Minicolumns enden nämlich im Thalamus, jenem Bereich des Zwischenhirns, der als Umschaltstelle für Sinnesreize und Körperempfindungen dient und der Empfindungen mit Gefühlstönungen verknüpft. Die Neurologen nehmen an, daß jede der Säulen in bestimmter Weise mit Nervenzellen des Thalamus verbunden ist, so daß Reize gezielt weitergeleitet werden. Wenn nun die Anzahl der Minisäulen vermehrt ist, ohne daß die zusätzlichen Säulen mit den Neuronen im Thalamus korrekt verdrahtet sind, so spekulieren die Forscher, könnten Sinnesreize ungezielt aus dem Thalamus in viele dieser Minisäulen streuen und so zu einem neuronalen Lärm führen.

Hinzu kommt, daß mit der größeren Zahl der Minicolumns offenbar keine entsprechende Vermehrung von hemmenden Nervenfasern bei den Autisten einherging. Dies würde die Reizüberflutung der Autisten erklären. Denn die hemmenden Nervenzellen sorgen dafür, daß sich nur wichtige Reize durchsetzen können.

Die Forscher vermuten hinter den anatomischen Besonderheiten der Autisten eine Laune der Natur. „Im Verlauf der Evolution hat sich die Oberfläche der Hirnrinde stark vergrößert, während die Größe der Minisäulen etwa gleich blieb“, erklärt Casanova. „Es entstanden größere Gehirne, die mehr von diesen Basiseinheiten enthalten und damit eine größere Verarbeitungskapazität und höhere Komplexität erlauben.“ Und im Verlauf der Evolution wurden die zusätzlichen Nervenzell-Säulen in die Funktionen des Gehirns integriert.

Bei Autisten hat sich nun ein weiteres Mal die Zahl dieser Basiseinheiten gesteigert, doch die Evolution hat nicht die Zeit gefunden, diese zusätzlichen Strukturen korrekt zu verdrahten. Das Gehirn von Autisten wäre nach dieser Theorie dem der Nichtautisten gewissermaßen einen Schritt voraus – einen Schritt zuviel, weil die zusätzliche Kapazität nicht richtig eingebettet ist. Das könnte der Grund für die Unfähigkeit von Autisten sein, Sinneseindrücke so zu verarbeiten wie andere Menschen.

Solch eine Hypothese liefert eine Erklärung, aber keine Heilungsaussichten für autistische Kinder. Aber vielleicht wäre letzteres auch gar nicht in deren Sinn: „Autistische Personen haben Nachteile, aber einige leben ein sehr glückliches und erfülltes Leben“, schreibt der amerikanische Neurologe Jared Blackburn: „Viele autistische Leute würden es nicht wollen, ‚geheilt‘ zu werden, da dies gleichbedeutend damit wäre, ihre Persönlichkeit auszulöschen und sie durch eine andere zu ersetzen“. Mit anderen Worten: Es ist eine Definionsfrage, ob die Besonderheit der Autisten eine Krankheit genannt werden sollte. Vielleicht hilft die neue Sicht wenigstens, das Zusammenleben zwischen Autisten und normalen Menschen zu erleichtern.

Henning Engeln
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