Wenn eine Schimpansengruppe Nüsse mit Hilfe großer Steine knackt, während die Nachbargruppe dafür eher Holzstücke verwendet, müssen dahinter nicht unbedingt von Generation zu Generation weitergegebene erlernte Traditionen stecken. Es kann auch sein, dass sich die beiden Gruppen genetisch unterscheiden und die verschiedenen Lösungen für das Nuss-Problem eine Konsequenz ihrer jeweils angeborenen Fähigkeiten ist. Das schließt eine internationale Forschergruppe aus einem Vergleich von Genen und Verhalten von neun frei lebenden Schimpansengruppen. Fazit: Je größer die genetischen Unterschiede zwischen den Gruppen, desto größer ist auch der Unterschied im Verhalten. Man könne demnach zumindest nicht ausschließen, dass die Gene eine wesentliche Rolle beim Entstehen gruppentypischer Verhaltensweisen spielen.
Selbst benachbarte Schimpansengruppen lösen häufig ein und dasselbe Problem auf unterschiedliche Arten, ein Phänomen, das sich sowohl beim Gebrauch von Werkzeugen als auch bei der gegenseitigen Fellpflege und beim Balzverhalten findet. Für viele Forscher ist diese Vielfalt ein klarer Hinweis darauf, dass es auch bei Schimpansen eine Kultur gibt, in der Traditionen entstehen, indem ein Gruppenangehöriger eine bestimmte Verhaltensweise von einem anderen erlernt. Allerdings ist das Konzept nicht ganz unumstritten. Einige Forscher sind etwa der Ansicht, dass es lediglich spezielle Umweltbedingungen sind, die die jeweilige gruppentypische Lösung hervorbringen. Zudem gibt es Zweifel daran, ob die Tiere in der Lage sind, Handgriffe oder Lösungen zu imitieren, wenn diese ihnen völlig fremd sind ? das heißt, wenn sie sich diese unter den entsprechenden Umständen nicht auch selbst erarbeiten können.
Auch die neuen Ergebnisse von Langergraber und seinen Kollegen deuten in eine ähnliche Richtung. Die Forscher hegten den Verdacht, dass es eher genetische Unterschiede zwischen den Gruppen sein könnten, die das Verhalten prägen, als soziales Lernen. Um diese These zu prüfen, nahmen sich die Wissenschaftler zum einen bestimmte Genabschnitte bei knapp 250 Tieren aus 9 freilebenden Schimpansengruppen vor. Zum anderen registrierten sie, wie häufig 38 typische Verhaltensweisen wie etwa das Angeln von Termiten mit einem Stöckchen oder das Behandeln von Wunden mit gekauten Blättern in jeder Gruppe vorkamen. Bei Gruppen mit sehr ähnlicher genetischer Beschaffenheit fanden sich auffällig wenige Verhaltensunterschiede, ergab die Auswertung. Auch insgesamt gingen größere genetische Unterschiede mit mehr gruppentypischen Verhaltensweisen einher.
Genetische Unterschiede sollten demnach bei künftigen Interpretationen von Beobachtungen als Faktor mit in Betracht gezogen werden, so das Fazit der Forscher. Das heiße aber nicht, dass alle Unterschiede bei Werkzeuggebrauch und Co auf die Gene zurückgehen, betonen sie ? im Gegenteil: Bei einigen Verhaltensweisen habe eine genetische Ursache eindeutig ausgeschlossen werden können. Hier scheine es sich also um echte Traditionen beziehungsweise kulturelle Eigenheiten zu handeln.
Kevin Langergraber (Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig) et al.: Proceedings of the Royal Society B, doi: 10.1098/rspb.2010.1112 ddp/wissenschaft.de ? Ilka Lehnen-Beyel