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Gesellschaftliches Aussterben – wenn Arten vergessen werden

Erde|Umwelt

Gesellschaftliches Aussterben – wenn Arten vergessen werden
Tote Biene
Bienen sind wohlbekannt und haben eine Lobby. Bei vielen anderen bedrohten oder schon ausgestorbenen Arten ist dies jedoch anders.© Photografiero/ iStock

Aus den Augen, aus dem Sinn: Wenn eine Tier- oder Pflanzenart ausstirbt, geht diese Spezies nicht nur der Natur verloren – sie verschwindet dann relativ schnell auch aus unserem kollektiven Gedächtnis, aus Kulturen und Diskursen, wie eine Studie nun bestätigt. Das jedoch hat auch Auswirkungen für den Artenschutz und unseren Umgang mit der Natur: Das Vergessen vergangener Vielfalt verschiebt auch die Vorstellung dessen, was wir für normal, natürlich oder gesund halten.

Wir leben in der Ära des sechsten Massenaussterbens: Rund eine Million Tier- und Pflanzenarten weltweit sind aktuell vom Aussterben bedroht, unzählige weitere sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten ausgestorben. Doch wenn Spezies gefährdet, selten oder ausgestorben sind, verringern sich auch die Begegnungen und Erfahrungen, die wir Menschen mit ihnen machen. Das kann mit der Zeit so weit führen, dass solche Spezies völlig aus dem Gedächtnis der Menschen verschwinden.

Die Unscheinbaren und Versteckten trifft es am ehesten

Ein internationales Forschungsteam um Ivan Jaric von der Tschechischen Akademie der Wissenschaften hat das Phänomen des sogenannten gesellschaftlichen Aussterbens nun näher untersucht. Sie wollten wissen, welche Faktoren und Mechanismen dieses Vergessen prägen und welche möglichen Folgen für Mensch und Natur dies haben kann. Wie das Team feststellte, ist die Anfälligkeit einer Spezies für das gesellschaftliche Aussterben von ganz unterschiedlichen Faktoren abhängig. Dazu gehören die Ausstrahlung einer Art, ihre wirtschaftliche, kulturelle oder symbolische Bedeutung für die Gesellschaft und auch, ob und wie lange sie bereits ausgestorben ist, oder wie weit entfernt und isoliert ihr Verbreitungsgebiet von menschlichen Siedlungen und Aktivitäten liegt.

„Die meisten Arten sterben aus, ohne dass die Gesellschaft jemals von ihnen Notiz genommen hätte“, erläutert Co-Autorin Tina Heger vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) in Berlin. Während Ikonen unter den gefährdeten Arten wie der Panda, die großen Raubtiere Afrikas oder auch die Menschenaffen beliebt und bekannt sind und daher auch für ihre Notsituation viel Aufmerksamkeit erlangen, gilt dies für viele kleine, unscheinbare, im Verborgenen oder an entlegenen Standorten lebende Spezies nicht. Das trifft unter anderem auf viele im Wasser lebende Organismen zu, aber auch auf viele wirbellose Tiere an Land, sowie Pflanzen, Pilze und Mikroorganismen.

Fortschritt kann Vergessen bringen

Ein weiterer Faktor sind soziale oder kulturelle Veränderungen, zum Beispiel durch die Verstädterung und Modernisierung der Gesellschaft. Auch sie können unser Verhältnis zur Natur radikal verändern und zu einem kollektiven Gedächtnisverlust in Bezug auf einst wohlbekannte Arten führen. Ein Beispiel sind Heilpflanzen: Mit dem Siegeszug der modernen Medizin in Europa ging auch das Wissen über die traditionelle Kräutermedizin und Heilpflanzen bei den meisten Menschen verloren.

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Und selbst wenn Arten vor ihrem Aussterben kollektiv bekannt und auffällig waren, verändert sich nach ihrem Verschwinden unser Bild von ihnen. Die Erinnerung an diese Arten wird ungenau – oder verblasst sogar ganz. Das zeigen auch Studien im Südwesten Chinas und bei indigenen Völkern in Bolivien, wie das Forschungsteam berichtet: In der dortigen Bevölkerung ist das lokale Wissen über einst wohlbekannte Vogelarten nach ihrem Verschwinden verloren gegangen. Die Befragten waren nicht mehr in der Lage, diese Arten zu benennen oder sich gar an ihr Aussehen und ihren Klang zu erinnern.

Das Vergessen verändert unsere Sicht auf die Natur

Das Problem an diesem Vergessen: Wenn eine noch existierende Art nicht im kollektiven Bewusstsein präsent ist, dann hat sie auch keine Lobby – es wird schwerer, ihren Schutz zu erreichen. „Ein gesellschaftliches Aussterben kann unsere Bereitschaft verringern, ehrgeizige Erhaltungsziele zu verfolgen. Es könnte zum Beispiel die öffentliche Unterstützung für Wiederansiedlungsbemühungen verringern, vor allem, wenn diese Arten nicht mehr als natürliche Bestandteile des Ökosystems in unserer Erinnerung präsent sind“, erklärt Jarić.

Das Vergessen schon ausgestorbener Arten wiederum verändert unsere Sicht auf die Natur und die Vorstellung dessen, was wir für normal, natürlich oder gesund halten – und auch das kann Schutzbemühungen noch lebender Spezies im Wege stehen. Das Forschungsteam plädiert deshalb dafür, dem zweiten Verschwinden vieler Arten aktiv entgegenzuwirken. Denkbare Maßnahmen dafür seien gezielte, langfristige Kommunikationskampagnen, Umweltbildung und die Vorstellung ausgestorbener Arten in Naturkundemuseen, betonen sie. Nur so ließe sich die Erinnerung an gesellschaftlich ausgestorbene Arten wiederbeleben, verbessern und erhalten.

Quelle: Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB); Fachartikel: Trends in Ecology and Evolution, doi: 10.1016/j.tree.2021.12.011

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