Genau das versuchen die Ärzte bei der Behandlung Krebskranker auszunutzen: Eine Chemotherapie tötet genau die Zellen, die sich teilen. Das lässt zwar den Tumor meist tatsächlich schrumpfen, verursacht aber auch schlimme Nebenwirkungen wie Haarausfall, Übelkeit und Erbrechen. Denn die Chemotherapie macht keinen Unterschied zwischen Krebszelle und gesunder Zelle, die sich teilt. Sie bringt gefährliche Krebszellen genauso um wie harmlose Zellen in den Haarwurzeln, die für das Wachstum der Haare verantwortlich sind. Das liegt daran, dass die Chemotherapie zwar ein wichtiges Kennzeichen der Krebszelle angreift, nicht aber die eigentliche Ursache des Problems den Defekt, der die ungehemmte Teilung auslöst.
Warum eine Krebszelle sich unaufhörlich teilt, kann ganz verschiedene Gründe haben. Trotzdem werden die unterschiedlichen Krebsarten oft mit den gleichen Medikamenten behandelt. „Wenn man das bedenkt, macht die Chemotherapie eigentlich gar nicht so richtig Sinn“, erklärt daher Jörg Kleeff von der Technischen Universität München. Er erforscht, wie Bauchspeicheldrüsenkrebs entsteht, und versucht herauszufinden, was innerhalb der Zelle schiefläuft, wenn sie zur Krebszelle wird. Das zu verstehen, ist der Schlüssel zu einem neuen Ansatz im Kampf gegen bösartige Tumoren: Nicht die Gleichbehandlung aller Krebszellen ist das Ziel, sondern individuell auf die einzelne Krebszelle zugeschnittene Medikamente, die die jeweilige Ursache der Krebsentstehung bekämpfen.
Solch ein Wirkstoff ist zum Beispiel Erlotinib. Seit knapp zwei Jahren werden damit Lungenkrebspatienten behandelt, seit Anfang dieses Jahres wird er auch bei bösartigen Tumoren in der Bauchspeicheldrüse eingesetzt. Erlotinib macht sich dabei eine bestimmte Eigenschaft von Zellen zunutze: Jede Zelle, ob gesund oder gefährlich, trägt auf ihrer Oberfläche Strukturen, die wie molekulare Schalter wirken. Steht der Schalter auf „an“, teilt die Zelle sich, steht er auf „aus“, hört sie wieder damit auf. Bei den Krebszellen aber ist der molekulare Schalter gefährlich verändert: Er ist permanent eingeschaltet, und die Zelle teilt und teilt sich ohne Unterlass.
Genau da greift Erlotinib ein: Das Medikament blockiert die Moleküle auf der Krebszelle die Zelle hört auf sich zu teilen und der Tumor schrumpft. Da Erlotinib speziell auf die Schalter auf den Krebszellen zugeschnitten ist und folglich auch nur die Krebszellen angreift, kann das fast ohne Nebenwirkungen ablaufen. „Erlotinib hat unsere Möglichkeiten, Lungenkrebspatienten zu behandeln, entscheidend verbessert“, bestätigt Ulrich Gatzemeier, der am Krankenhaus Großhansdorf bei Hamburg Lungenkrebspatienten betreut.
Die Spezialisierung von Krebsmedikamenten hat aber auch noch einen weniger erwünschten Effekt: Je individueller ein Medikament nämlich auf die einzelne Krebszelle zugeschnitten ist, desto weniger unterschiedliche Krebszellen kann es töten. Erlotinib greift zwar effektiv einen bestimmten Schalter auf der Zelle an. Ist aber ein anderer defekt, wirkt es nicht. Deswegen hilft der Wirkstoff auch nicht allen Menschen mit Lungenkrebs. „Ungefähr die Hälfte unserer Patienten profitiert von Erlotinib, aber nur bei zehn Prozent führt es wirklich zu deutlichen Verbesserungen“, sagt Gatzemeier. Oft scheint auch der Krebs verschwunden zu sein, doch nach einem Jahr tauchen dann andere Krebszellen auf, denen Erlotinib nichts mehr anhaben kann, weil sie wegen einer Fehlfunktion in einem anderen Schalter entarten.
Deswegen versuchen Wissenschaftler wie Jörg Kleeff, immer mehr molekulare Schalter zu identifizieren, um gegen immer mehr Krebszellen gewappnet zu sein. Nicht nur gegen Lungenkrebs waren die Krebsforscher dabei bereits erfolgreich, auch Leukämien und einige Tumoren im Darm werden schon mit solchen Medikamenten bekämpft. Allerdings können die meisten dieser Wirkstoffe die normale Chemotherapie noch nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. „In den nächsten zehn bis zwanzig Jahren spielt die herkömmliche Chemotherapie noch eine Rolle, dann wird sie mehr und mehr in den Hintergrund treten“, prognostiziert Kleeff. Irgendwann könnte dann jeder Krebspatient genau das Medikament bekommen, das speziell gegen seine besonderen Krebszellen kämpft.
Davon sind die Wissenschaftler allerdings noch ein gutes Stück entfernt: Welches Medikament für welchen Patienten das richtige ist, fänden Ärzte oft nur durch Ausprobieren heraus, sagt Gatzemeier. Häufig wirken die neuen Medikamente auch nicht so gut wie vorher erhofft. Doch trotz dieser Schwierigkeiten ist Kleeff sich sicher: „Der zielgerichteten Krebstherapie gehört die Zukunft“.