Gespenstheuschrecken können Abgründe offensichtlich weder sehen noch mit ihren Fühlern wahrnehmen: Klafft in ihrem Weg eine Lücke, bleiben die Insekten erst stehen, wenn ihre Vorderbeine den Boden unter den Füßen verlieren. Erst dann untersuchen sie die vor ihnen liegende Kluft mit den Fühlern und überqueren sie, entdeckten Biologen von der Universität Bielefeld bei Studien an der Heuschreckenart. Bettina Bläsing und Holk Cruse beschreiben ihre Untersuchungen in der Fachzeitschrift Journal of Experimental Biology (Bd. 207, S. 1273).
Wenn sich Gespenstschrecken (
Aretaon asperrimus) vorwärtsbewegen, tasten sie das Gelände ständig mit ihren langen Fühlern ab. Stoßen sie dabei auf ein Hindernis, stoppen die Insekten und untersuchen es genau, bevor sie darüber klettern. Ganz anders verhalten sich die Tiere jedoch, wenn ein Abgrund vor ihnen liegt, entdeckten Bläsing und Cruse: Die Insekten laufen einfach weiter ? obwohl ihre Fühler längst den Kontakt zum Boden verloren haben. Erst wenn der erste Vorderfuß ins Leere tritt, bemerken die Heuschrecken die vor ihnen liegende Lücke und bleiben stehen. Offensichtlich spielt auch der Sehsinn keine Rolle bei der Entdeckung der Lücke, denn die Insekten verhielten sich genauso, wenn ihre Augen verdeckt waren.
Um die Taktik, mit der die Gespenstschrecken Abgründe überwinden, genauer zu untersuchen, konfrontierten die Forscher einige Tiere mit verschieden breiten Lücken und nahmen die Bewegungen auf Video auf. Die größte Lücke war mit 5 Zentimetern etwa genauso lang wie die Insekten selbst. Die Überwindung einer Kluft folgte immer dem gleichen Muster: Zuerst tasteten die Insekten mit ihren Fühlern so lange herum, bis diese Kontakt mit der anderen Seite haben. Dieser Schritt dauerte, je nach Breite des Abgrunds, bis zu fünfzehn Minuten. War die gegenüberliegende Seite erfolgreich ertastet, streckten sich die Tiere, bis sie ihre Vorderbeine fest auf die andere Seite setzen konnten.
Erst wenn die vorderen Beine einen festen Stand hatten, setzten die Insekten vorsichtig ihre mittleren Beine um. Nach einem erneuten Test, ob alle Beine auf festem Grund stehen, lösten sie schließlich die Hinterbeine und überwanden so die Lücke. Die Erkenntnisse über diese Überquerungstechnik will Bettina Bläsing nun dazu nutzen, eine im Computer simulierte Heuschrecke zu entwickeln, die sich genauso verhält wie eine echte. Alle bisherigen Versuche waren daran gescheitert, dass die Cyberinsekten an Abgründen einfach weitergelaufen waren.
ddp/bdw ? Ilka Lehnen-Beyel