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Hirnloser „Klugheit“ auf der Spur

Schleimpilze

Hirnloser „Klugheit“ auf der Spur
Mittels Mikroinjektion von Farbstoffen untersuchen die Forscher Vorgänge in den bizarren Wesen. (Bild: Bjoern Kscheschinski / MPI-DS)

Alienhafte Wesen im Visier: Wie können sich Schleimpilze ohne ein Nervensystem „intelligent“ verhalten? Offenbar prägen sie sich Informationen aus ihrer Umwelt strukturell ein, geht aus einer Studie hervor. Bei Kontakt mit einer Nahrungsquelle lösen demnach bestimmte Substanzen die Bildung eines Musters in den röhrenartigen Netzwerkstrukturen der riesigen Einzeller aus, in der die Ortsinformation codiert ist. Offenbar formt dieser Mechanismus eine Art Gedächtnis, das den skurrilen Wesen bei der Fortbewegung als Orientierungshilfe dienen kann.

Schleimpilze sind weder Tiere noch Pflanzen und trotz ihres Namens auch keine Pilze – die bizarren Freaks besitzen sehr eigentümliche Merkmale: Ihr Körper besteht aus einer riesigen Einzelzelle, die eine netzwerkartige Struktur aus miteinander verbundenen Röhren ausbildet. Der einzellige Körper kann bei manchen Schleimpilzarten erstaunliche Ausmaße erreichen: Die Struktur kann metergroße Bereiche überspannen, was den Schleimpilzen den Titel als größte Zellen der Erde im Guinness-Buch der Rekorde einbracht hat.

Die wabernden Strukturen dieser bizarren Wesen bewegen sich mit teils beachtlicher Geschwindigkeit über den Untergrund fort – immer auf der Suche nach Fressbarem. Das Spannende ist dabei: Studien haben gezeigt, dass Schleimpilze bei ihrer Fortbewegung nicht einfach nur dem Gradienten von Locksubstanzen folgen. Sie zeigen stattdessen erstaunlich „intelligent“ wirkende Verhaltensweisen. Erfahrungen scheinen demnach das Bewegungsmuster der Schleimpilze zu beeinflussen. Dies legt nahe: Die vermeintlich simplen Wesen können sich Informationen über die Umwelt einprägen und für sinnvolle Entscheidungen nutzen. Wie eine solche Merkfähigkeit ohne ein Nervensystem möglich ist, ist bisher unklar.

Schleimige Freaks im Visier

Die neuen Einblicke in die Grundlagen der „klugen“ Verhaltensweisen der geheimnisvollen Wesen haben nun Mirna Kramara und Karen Alim von der Technischen Universität München gewonnen. In ihrem Visier stand der Schleimpilz Physarum polycephalum.
Als die Forscherinnen die Fortbewegungen und das Fressverhalten des Organismus verfolgten, fielen ihnen Muster in den Netzwerkstrukturen auf. Sie schienen sich als Reaktion auf den Kontakt mit Nahrungsquellen zu bilden. Es zeichnete sich dabei eine Art Signatur der Lage in den dickeren und dünneren Röhren des Netzwerks ab, die auch lange nach der Nahrungsaufnahme noch beobachtbar war.

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„Angesichts der normalerweise schnellen Reorganisation des Netzwerks von P. Polycephalum weckte die Persistenz dieses Abdrucks bei uns die Idee, dass die Netzwerkarchitektur als Gedächtnis der Nahrungsorte dienen könnte“, sagt Alim. Dieser Spur gingen sie nach, indem sie versuchten, die möglichen Mechanismen zu entschlüsseln, die dem Effekt zugrunde liegen könnten. Dazu kombinierten die Forscherinnen mikroskopische Beobachtungen der Anpassungen des röhrenförmigen Netzwerks mit theoretischen Modellierungen.

Erinnerungen werden im Netzwerk gespeichert

Wie Kramara und Alim berichten, bestätigten ihre Ergebnisse: Schleimpilze weben offenbar Erinnerungen an Nahrungsorte direkt in die Architektur ihrer netzwerkartigen Körper ein und können die so gespeicherten Informationen offenbar bei zukünftigen Entscheidungen nutzen. Wie aus den Modellen hervorgeht, löst der Kontakt mit der Nahrungsquelle im Inneren der Zelle die Freisetzung eines Botenstoffes aus, der sich dann vom Fundort der Nahrung durch den gesamten Organismus bewegt. Die bisher noch unbekannte Substanz verursacht ein Erweichen der Röhren im Netzwerk. In dem der Nahrungsquelle zugewandten Bereich dehnen sie sich dadurch mehr aus, sodass sich der Organismus quasi auf die Nahrungsquelle ausrichtet.

Die Spuren dieses Musters verschwinden aber anschließend nicht – sie bleiben längerfristig erhalten und könnten somit eine Erinnerung bilden. Auch frühere Nahrungsorte, die in der Netzwerkarchitektur eingeprägt sind, fließen offenbar in Bewegungsentscheidungen ein: „Dort wo die Röhren allmählich weicher werden, kommen auch die noch vorhandenen Abdrücke früherer Nahrungsquellen ins Spiel. Dort wird die gespeicherte Information abgerufen“, sagt Kramar. „Vergangene Nahrungsaufnahmen sind in die Hierarchie der Röhrendurchmesser eingebettet, konkret in der Anordnung von dicken und dünnen Röhren im Netzwerk“, erklärt die Wissenschaftlerin.

Ihre Kollegin Alim sagt dazu: „Es ist bemerkenswert, dass der Organismus offenbar einen so einfachen Mechanismus verwendet und ihn dennoch auf so fein abgestimmte Weise kontrollieren kann. Dies stellt ein wichtiges Puzzlestück zum Verständnis des Verhaltens dieses uralten Organismus dar“, sagt Alim. Den Wissenschaftlerinnen zufolge könnten Erkenntnisse über die erstaunlichen Fähigkeiten der Schleimpilze allerdings nicht nur aus biologischer Sicht interessant sein: Sie könnten auch der Entwicklung von intelligenten Materialien und dem Bau von weichen Robotern, die durch komplexe Umgebungen navigieren, zugutekommen, sagen Kramar und Alim.

Quelle: Technische Universität München, Fachartikel: PNAS, doi: 10.1073/pnas.2007815118

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