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Hoch hinaus und ganz weit fort!

Das Buch "Die Entdeckung der Natur"

Hoch hinaus und ganz weit fort!
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Nansen-Fahrt 1895
Seit jeher treibt es Menschen auf Entdeckerfahrt. Und oft stürzten sich die Pioniere in waghalsige Unternehmungen, um die Natur zu entdecken. In einem fesselnden Buch erzählt Jürgen Goldstein ihre Geschichten, die vom Scheitern und Gelingen handeln.

Goldsteins Auswahl der Menschen, die sich zwischen dem 15. Jahrhundert und heute in die Wildnis aufgemacht und ihre Reisenotizen hinterlassen haben, ist höchst subjektiv. Und gerade deshalb von besonderer Wirkung. Natürlich erwartet man in einem solchen Entdecker-Buch Kolumbus, Darwin, Humboldt, und findet sie auch. Aber: Was man nicht erwartet, sind Menschen wie eben den Soldaten Maurice Wilson oder den Hausknecht Wilhelm Weike, der 1883 seinen Herrn Dr. Franz Boas in die Arktis begleiten musste und angewiesen wurde, für die Wissenschaft alles aufzuschreiben, was er sah. „Entschuldigen Sie mein schlechtes Schreiben, denn das ist meine schwache Seite.“ Er musste regelmäßig Temperaturen messen und notierte: 30, 36, 40, 41, 42, und schließlich 48 Grad „bali Siro“, wie er lautmalerisch für „below zero“ schreibt. Da fror ihm die Tinte mit der Feder fest.

Eisige Pionierfahrt

Es wird viel gefroren in diesem Buch, und abgestürzt, gestolpert, gestaunt, beobachtet, in die Ferne geblickt, Fakten gesammelt. Der Leser klammert sich ans Buch bei den „Eispressungen“, die die berühmte Fram von Fridtjof Nansen 1895 in der Arktis erzittern lassen und das Schiff höher und höher drücken. Auch wer den Ausgang bereits kennt, ist überaus dankbar, als Nansen gerettet wird. Nicht minder gewaltig und gewalttätig liest sich das Drama am Matterhorn 30 Jahre zuvor, wo Bergsteiger ins Rutschen kommen und deren Leiber von den Felsen entkleidet und in Stücke gerissen werden.

Man reibt sich einmal mehr die Augen und fragt, wieso der Mensch bereit ist, so weit über seine Grenzen hinaus zu gehen. Eben deshalb! Panoramablicke vom Berggipfel und der Horizont des Meeres sind der Inbegriff des urmenschlichen Willens zur Entgrenzung. Da sind wir bei Alexander von Humboldt, der seine Kindheit und Jugend unter preußischem Drill als „Misshandlung“ empfand: „In einem jungen Gemüte, das 18 Jahre lang im väterlichen Hause gemißhandelt … worden ist, glimmt und glüht es wunderbar auf, wenn es seiner eigenen Freiheit überlassen … Mein Zimmer war ein ofnes Grab.“ Also nichts wie hinaus in die Welt!

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Und was trieb Goethe auf den Brocken? Oder Lichtenberg nach Helgoland? Wie spiegelt sich die Seele des einzelnen im Entdecken, Erobern, Bezwingen und Untergehen? Der Philosoph Jürgen Goldstein bietet angenehm unaufdringliche Interpretationen und vorsichtige Innenansichten seiner Naturbewältiger. Denn jeder dieser Abenteurer hat mit sich und der Welt einen anderen Kampf ausgefochten. Was man auch daran erkennen kann, wie unterschiedlich die hinterlassenen Beschreibungen ausfallen: Was für den einen der Traumberg, ist für den anderen ein Schotterhaufen. Und während der eine berauscht in die Ferne schaut, heftet der andere seinen Blick auf den Boden, damit ihm ja keine Flügeldecke eines Laufkäfers entgeht.

Traurige Entdeckung

Und der Soldat Maurice? Der schaffte es am Mount Everest immerhin auf über 7000 Meter, doch ans Ziel kam er nicht. 1935 fand man seine Überreste und schmiss sie in eine Gletscherspalte.

Während Goldberg viele erste Blicke auf Fremdes und Exotisches schildert, sind es bei Claude Lévi-Strauss bereits die letzten Blicke. Als sich der Ethnologe 1938 nach Amazonien aufmacht, um die Urvölker Brasiliens zu besuchen, waren sie fast ausgestorben, nur noch Überbleibsel nach Verfolgung und Ausrottung. Levi-Strauss fühlte sich dazu verurteilt, „halb verfaulte Erinnerungen zu sammeln“. Und mit „Traurige Tropen“ schrieb er den Abgesang auf die Epoche der Entdeckung der Natur.

Wenn das Buch mit Gedanken zur Mondfahrt endet, schließt sich der Kreis, denn auf Erden sind alle Berge bestiegen, alle Meere befahren, alle Kontinente durchschritten. Mit der Mondlandung gab es noch einmal dieses Gefühl in die Fremde aufzubrechen und Grenzen zu überschreiten. Doch, schreibt Goldstein, dieses Ziel habe sich als Enttäuschung erwiesen. Denn aus der Nähe betrachtet war der Mond nur eine Anschauungswüste. „Mögen Naturwissenschaftler auf derartigen Himmelskörpern für sie Bemerkenswertes aufspüren – dem Sinnlichkeitsverlangen bieten sie wenig. Nicht von ungefähr ist der berauschendste Blick vom Mond und überhaupt aus dem Weltall, der Blick zurück auf den blauen Planeten.“ Und so ist der Mensch nach all den Jahrhunderten des Vordringens in die Natur wieder bei sich selbst angekommen.

„Die Entdeckung der Natur“ ist ein ausgezeichnet geschriebenes und bestens komponiertes Buch, in dem der Autor Originalzitate seiner Helden in den Text eingewoben hat, wie goldene Fäden in einen Wandteppich. Es entstand ein leuchtendes Gemälde.

Ilona Jerger

Cover.jpgJürgen Goldstein: Die Entdeckung der Natur. Etappen einer Erfahrungsgeschichte. Band 3 der Reihe Naturkunden, herausgegeben von Judith Schalansky. Matthes+Seitz, Berlin 2013, 310 Seiten, 38 Euro.

© natur.de – Ilona Jerger
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