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Ist der freie Wille des Menschen nur eine Illusion?

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Ist der freie Wille des Menschen nur eine Illusion?
Hirnforscher stellen eine Grundkategorie des menschlichen Selbstverständnisses in Frage: die Willensfreiheit. Seit einigen Jahren haben sie deutlich gemacht, wie entscheidend neuronale Prozesse für das Verhalten sind, und veränderten somit manches am traditionellen Bild vom Menschen. „Der freie Wille ist nur eine nützliche Illusion“, sagt der Neurobiologe Gerhard Roth (Universität Bremen). Er veröffentlichte kürzlich die grundlegende Arbeit „Fühlen, Denken, Handeln“.

Viel Beachtung fanden Experimente des amerikanischen Neurophysiologen Benjamin Libet. Sie legten manchem Beobachter den Schluss nahe: Menschen tun nicht, was sie wollen, sondern sie wollen, was sie tun.

Libet hatte Versuchspersonen gebeten, spontan den Entschluss zu fassen, einen Finger oder die ganze Hand zu bewegen, und dabei den Augenblick der Entscheidung mit einer Uhr festzuhalten. Protokolliert wurden dann erstens dieser Zeitpunkt, zweitens der Zeitpunkt, an dem sich erstmals ein so genanntes Bereitschaftspotenzial als Vorbereitung der Bewegung im Gehirn aufbaute, und drittens der Zeitpunkt der tatsächlichen Bewegung. Das Ergebnis war eine überraschende Reihenfolge: Der bewusste Entschluss zur Handlung trat 0,2 Sekunden vor dem Bewegungsbeginn auf, aber erst mehr als 0,3 Sekunden nach dem Beginn des Bereitschaftspotenzials.

Kann also das Wollen gar nicht die Ursache der neuronalen Aktivität sein? Für Gerhard Roth tritt der Willensakt tatsächlich erst auf, nachdem das Gehirn schon entschieden hat, welche Bewegung es ausführen wird. Für Libet selbst bedeutet sein Ergebnis, dass die Macht des Willens eingeschränkt ist. Der Wille sei kein Initiator, sondern ein Zensor.

In der Diskussion ist auch in Frage gestellt worden, ob Entscheidungen momentane Akte sind. Und nicht vielmehr Prozesse, deren Ergebnis manchmal erst nach deren Abschluss bewusst wird. So halten es einige Forscher für durchaus möglich, dass die von Libet angenommene augenblickliche Entscheidung nur die letzte Stufe eines früher begonnenen Entscheidungsprozesses ist.

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Der Neurophysiologe Prof. Wolf Singer (Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main) sprach in einem Interview der Zeitschrift „Spektrum der Wissenschaft“ (Heidelberg) von zwei voneinander getrennten Erfahrungsbereichen, in denen Wirklichkeiten der Welt zur Abbildung kommen: Dem Bereich der Forscher, die das Gehirn wissenschaftlich betrachten (Dritte-Person-Perspektive). Und dem soziokulturellen Bereich, in dem Wertesysteme, soziale Realitäten diskutiert werden. Und die seien nur in der Erste-Person-Perspektive, der des Ich, erfahrbar und darstellbar.

„Dass die Inhalte des einen Bereichs aus den Prozessen des anderen hervorgehen, muss ein Neurobiologe als gegeben annehmen“, sagte Singer weiter. „Insofern muss, aus der Dritte-Person-Perspektive betrachtet, das, was die Erste-Person-Perspektive als freien Willen beschreibt, als Illusion definiert werden“, stellte der Forscher fest. „Aber ‚Illusion‘ ist, glaube ich, nicht das richtige Wort, denn wir erfahren uns ja tatsächlich als frei.“ Wohl fast alle Menschen unseres Kulturkreises teilten diese Erfahrung.

Solcher Konsens gelte im Allgemeinen als hinreichend, einen Sachverhalt als zutreffend zu beurteilen. Genauso zutreffend sei aber die konsensfähige Feststellung der Neurobiologen, dass alle Prozesse im Gehirn deterministisch (Willensfreiheit ausschließend) sind, und dass Ursache für eine jegliche Handlung der unmittelbar vorangehende Gesamtzustand des Gehirns ist.

Der Philosophieprofessor Hans Goller (Universität Innsbruck) verweist in einem „Fiktive Freiheit?“ überschriebenen Beitrag der katholischen Zeitschrift „Herder-Korrespondenz“ (Freiburg) auf den brasilianischen Forscher Gilberto Gomes. Für diesen löst sich der Widerspruch zwischen dem in der Erste-Person-Perspektive erlebten freien Willen und der natürlichen Verursachung auf, wenn wir annehmen, dass wir als frei handelnde Menschen Hirnsysteme sind, die die Fähigkeit besitzen, zu wählen, zu entscheiden und zu handeln.

Goller konstatiert, die Hirnforschung sei weit davon entfernt, die neuronale Grundlage des Erlebens der Willensfreiheit identifiziert zu haben. „Es gibt erste interessante Hinweise. Diese belegen das Faktum, dass bestimmte Hirnareale und -funktionen eine notwendige Bedingung für Willenserlebnisse sind. Sind sie auch eine hinreichende Bedingung? Die interdisziplinäre Erörterung der Willensfreiheit zeigt, dass unser Wissen über das Gehirn und deren Leistungen in einem fundamentalen Sinne unvollständig ist.“

dpa
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