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Kleinzikaden hören mit dem Hinterleib

Erde|Umwelt

Kleinzikaden hören mit dem Hinterleib
Zikade
Rhododendronzikade (Graphocephala fennahi) auf einem Rhododendronblatt. © Jürgen Deckert/ Museum für Naturkunde Berlin

Selbst vermeintlich altbekannte Insekten sorgen manchmal für Überraschungen – wie nun im Falle der Kleinzikaden. Diese kleinen, aber oft farbenfrohen Pflanzensaftsauger besitzen offenbar ein erstaunlich komplexes Organ zur Wahrnehmung von Vibrationssignalen, wie ein Forschungsteam entdeckt hat. Das Organ besteht aus paarigen Sensoren im vorderen Teil des Hinterleibs der Insekten, in denen Sinneszellen, feine Membranen und verstärkte Teile des Exoskeletts die Vibrationswahrnehmung erlauben. Das neuentdeckte Organ wirft neues Licht auf die Evolution der Zikaden-Sinnesorgane und könnte neue Ansätze für die biologische Schädlingsbekämpfung bieten.

Zikaden sind pflanzensaftsaugende Insekten, die vor allem in südlichen Gefilden für ihr teils lautes Zirpen bekannt sind. Bei diesen großen Singzikaden besitzt jede der über 3000 Arten einen individuellen Gesang, den die Insekten mit einem speziellen „Ohr“ im Hinterleib, dem sogenannten Tympanalorgan, wahrnehmen. Das membranüberspannte Organ detektiert die Schallwellen mithilfe von rund 2000 Sinneszellen. Anders ist dies bei den Kleinzikaden, die auch in unseren Parks und Gärten zahlreich vorkommen. Trotz ihres oft sehr farbenfrohen Aussehens sind die oft nur wenige Millimeter kleinen Insekten weniger bekannt und auch ihre Kommunikation ist für uns nicht hörbar: Sie senden ihre Botschaften als Vibrationen an Artgenossen auf derselben Pflanze.

Entdeckung am Hinterleib

Bisher nahmen Biologen an, dass die Kleinzikaden für die Wahrnehmung dieser Signale die einfachen, aus nur wenigen Sinneszellen aufgebauten Organe in den Beinen nutzen, über die fast alle Insekten ohnehin verfügen. Doch das stimmt nicht, wie nun Sarah Ehlers vom Zentrum für Integrative Biodiversitätsforschung des Museums für Naturkunde in Berlin und ihre Kollegen festgestellt haben. Für ihre Studie hatten sie die Anatomie der Rhododendronzikade (Graphocephala fennahi) mithilfe mikroskopischer Verfahren und speziellen Anfärbungen von Nervenstrukturen untersucht.

Damit gelang es dem Forschungsteam, ein bisher offenbar übersehenes Organ im vorderen Hinterleib der Kleinzikaden aufzuspüren: „Wir haben herausgefunden, dass Kleinzikaden ein Sinnesorgan im vorderen Bereich des Hinterleibs besitzen, welches im Verhältnis zu solch kleinen Insekten außergewöhnlich groß ist und aus bis zu 400 Sinneszellen besteht“, berichtet Ehlers. Dieses Sinnesorgan liegt in unmittelbarer Nähe zum bereits bekannten und gut untersuchten Organ zur Signalerzeugung – umso erstaunlicher, dass es bisher übersehen wurde, so das Team. Die sechs Paare dieser als Chordotonal-Organ bezeichneten Vibrationssensoren sind teilweise mehr als 500 Mikrometer groß und bilden ein ausgeklügeltes System aus feinen Membranen und verstärkten Teilen des Exoskeletts, wie 3D-Modelle der Sinnesorgane enthüllten.

Möglicher Vorläufer des Tympanalorgans

Ehlers und ihr Team vermuten, dass die Kleinzikaden ein so komplexes System von Vibrationssensoren entwickelt haben, um die Signale ihrer Artgenossen besser von natürlichen Vibrationen unterscheiden zu können. „Kleine, auf Pflanzen lebende Insekten müssen zwischen mechanischen Wellen verschiedener Richtungen und Ursachen wie dem Wetter, Räubern oder Artgenossen unterscheiden können“, erklärt das Forschungsteam. „Vielleicht waren die gängigen Bein-Vibrationssensoren, die alle Insekten besitzen, dafür nicht ausreichend und deshalb haben die Zikaden aufwendigere mechanosensitive Organe dafür entwickelt.“

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Die Entdeckung des Chordotonal-Organs erlaubt auch Rückschlüsse darüber, wie sich der Übergang von der entwicklungsgeschichtlich älteren Kommunikation über Vibrationssignale wie bei den Kleinzikaden hin zur Kommunikation durch Schallwellen wie bei den Singzikaden erfolgte. Da sich die Sensororgane für beide Signalarten in Lage und Struktur sehr ähneln, vermuten die Wissenschaftler, dass das Chordotonal-Organ die ursprüngliche Form darstellt, aus der sich bei den schallhörenden Zikaden dann das komplizierte Tympanalorgan entwickelt hat. Gleichzeitig bietet das neuentdeckte Organ auch neue Ansätze zur biologischen Schädlingsbekämpfung der Zikaden. Denn einige Arten von Kleinzikaden können wirtschaftlich bedeutsame Pflanzenkrankheiten auf Nutzpflanzen übertragen. Die sensiblen Vibrationssensoren der Insekten könnten es nun ermöglichen, mittels Störsignal die Paarung der Insekten zu unterbinden und somit deren Ausbreitung einzudämmen.

Quelle: Sarah Ehlers (Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung, Berlin) et al., Royal Society Biology Letters, doi: 10.1098/rsbl.2022.0078

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