Das menschliche Gehirn entwickelt sich zumindest auf genetischer Ebene extrem langsam, hat ein internationales Forscherteam um Chung-I Wu von der Universität von Chicago entdeckt. Die Ursache dafür ist wahrscheinlich seine ungewöhnlich hohe Komplexität: Weil die Wechselwirkungen und die Funktionen der verschiedenen Gene und Eiweiße sehr stark miteinander verzahnt sind, kann jede Veränderung das gesamte Netzwerk lahmlegen. Nach der rasanten Anfangsphase kurz nach der Trennung der Abstammungslinien von Mensch und Schimpanse nahm daher die Geschwindigkeit der Gehirnentwicklung beim Menschen stark ab. Damit ist sie heute nicht nur langsamer als die Evolution anderer Körpergewebe, sondern auch langsamer als die Gehirnentwicklung bei Menschenaffen und anderen Tieren.
Für ihre Studie verglichen die Wissenschaftler mehrere tausend Gensequenzen von Makaken mit den entsprechenden Erbgutabschnitten von Mensch, Schimpanse und Maus. Insgesamt, so zeigte die Auswertung, verlief die Evolution der Gene umso schneller, je höher entwickelt das jeweilige Tier ist. So veränderte sich etwa das Erbgut von Mensch und Schimpanse rasanter als das der Makaken, das sich wiederum schneller entwickelte als das der Maus. Überraschenderweise fanden die Forscher jedoch genau den umgekehrten Trend, als sie die für die Gehirnentwicklung zuständigen Gene verglichen: Hier hatten sich die Gene der Maus sehr viel schneller verändert als die von Makaken und Schimpansen, und bei diesen war die Entwicklung deutlich rascher vorangeschritten als beim Menschen.
„Je komplizierter das Gehirn, so scheint es, desto schwieriger wird es für die Gehirngene, sich zu verändern“, fasst Wu die Ergebnisse zusammen. Das sei insofern ungewöhnlich, als dass sich Gene, die typisch für ganz bestimmte Gewebe wie etwa den männlichen Hoden sind, normalerweise sehr schnell entwickeln. Auch widersprechen die Ergebnisse der bislang gängigen These, das menschliche Gehirn sei nur deswegen so viel komplexer und größer als das anderer Tiere, weil es sich viel schneller entwickelt habe. Menschen haben zwar ein nur etwa 20 Prozent höheres Körpergewicht als Schimpansen, aber ein um 250 Prozent schwereres Gehirn.
Genau diese Zunahme der Komplexität war es, die nach Ansicht der Forscher die Gehirnevolution gebremst hat. So finden sich in einer einzelnen Nervenzelle eines Menschen beispielsweise sehr viel mehr aktive Gene und damit verschiedene Proteine als in der gleichen Zelle beim Schimpansen. „Wir wissen, dass sich Eiweiße mit mehr Interaktionspartnern langsamer verändern“, erklärt Wu. Der Grund sei ganz simpel: Mutationen, die bestehende Kontakte unterbrechen, würden schlicht nicht toleriert und können sich daher auch nicht durchsetzen.
Chung-I Wu (Universität Chicago) et al.: PloS Biology, Online-Veröffentlichung vom 26. Dezember ddp/wissenschaft.de ? Ilka Lehnen-Beyel