Alle Menschen haben unabhängig von ihrer Bildung und Muttersprache ein Grundverständnis für Geometrie. Zu diesem Ergebnis kommen französische und amerikanische Wissenschaftler bei Geometrietests mit Ureinwohnern aus dem Amazonas-Regenwald. Obwohl die isoliert lebenden Probanden keine Schulbildung hatten, konnten sie Grundelemente wie Linien, Punkte und rechte Winkel begreifen. Außerdem waren sie in der Lage, sich mithilfe einer Art Landkarte zu orientieren.
Während einer Reise durch entlegene Amazonas-Gebiete suchte einer der Wissenschaftler Dörfer der
Mundurukú, einem
indigenen Volk, auf und machte mit Erwachsenen und Kindern Geometrietests. Zuerst sollten die Probanden geometrische Konzepte wie Linien, Punkte, Kongruenz oder Symmetrie intuitiv erfassen. Zu jedem Begriff hatten die Wissenschaftler um Stanislas Dehaene vom Collège de France in Paris und Elizabeth Spelke von der Harvard-Universität in Cambridge ein sechsteiliges Bild vorbereitet, bei dem ein Teil dem Oberbegriff nicht gerecht wurde ? beispielsweise eine Ellipse unter fünf Kreisen. Die Testkandidaten mussten in ihrer Sprache benennen, welches Teilbild sie „hässlich“ oder „merkwürdig“ fanden. Durchschnittlich erkannten sie in 66 Prozent der Fälle das falsche Objekt, selbst sechsjährige Kinder konnten bei dem Test gut mithalten.
Als nächstes zeigten die Probanden, dass sie in der Lage waren, sich anhand einer Landkarte zu orientieren. Die Wissenschaftler bauten dazu drei unterschiedliche Kästen auf und versteckten unter einem Kasten einen Gegenstand. Mithilfe einer Zeichnung, auf der das Versteck mit einem Stern gekennzeichnet war, sollten die Testpersonen das verborgene Stück finden. 71 Prozent der Teilnehmer bestanden den Test und bewiesen damit, dass sie die zweidimensionale geometrische Information auf der Karte mit der realen Umgebung verbinden konnten.
Die gesamte Studie wiederholten die Wissenschaftler mit amerikanischen Schulkindern und schulgebildeten Erwachsenen. Die Mundurukú schnitten unabhängig von ihrem Alter genauso gut ab wie die amerikanischen Schüler, allerdings waren die Erwachsenen mit geometrischen Vorkenntnissen insgesamt erfolgreicher als die Amazonas-Bewohner. Obwohl formale Bildung die geometrischen Fähigkeiten anscheinend verbessere, gebe es ein universelles, auch ohne Ausbildung vorhandenes Verständnis für Geometrie, schließen die Forscher.
Stanislas Dehaene (Collège de France, Paris) et al.: Science, Online-Vorabveröffentlichung, DOI: 10.1126/science.1121739 ddp/wissenschaft.de ? Anna-Lena Gehrmann