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KRIEGER UND APOTHEKER

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KRIEGER UND APOTHEKER
Sie konstruieren Werkzeuge, planen ihren Tag und betrauern ihre Toten. Und sie führen Kriege.

Der Brite Jeremy Taylor hat jüngst ein knapp 300 Seiten starkes Buch darüber geschrieben, dass der Schimpanse doch kein Mensch sei. Nicht mal so etwas wie eine Basis-Ausgabe des Homo sapiens, wie manche Medien zu Taylors Unmut kolportieren. Nun, allein der bloße Verdacht, dem könne so sein, sagt viel aus über den Schimpansen! Oder haben Sie derlei Vergleiche schon mal mit Rabe oder Papagei gehört? Oder mit Hund, Katze, Elefant oder Delfin?

Nein, wir wollen nicht schlecht über die anderen Tiere reden und räumen ein: Ja, jedes Tier ist auf seine Art in seiner Umwelt auf seine Weise schlau – optimal angepasst oder „ökologisch intelligent“, wie es wissenschaftlich korrekt heißt. Ja, viele andere Tiere sind nicht so gut erforscht wie der charismatische Knöchelgänger aus Afrikas Wäldern. Doch der Schimpanse bleibt aus menschlicher Sicht eine Klasse für sich. Dicht gefolgt von seiner Schwester-Spezies, dem Bonobo, und dem Orang-Utan. Nur der vierte Menschenaffe, der Gorilla, hinkt, soweit bekannt, in Sachen Intelligenz etwas hinterher. Der Schimpanse nimmt also eine Sonderstellung ein, die selbst im konfliktreichen Feld der Verhaltensforschung kaum bestritten wird – weil der Schimpanse im begrenzten tierischen Maß über fast jede Art von Intelligenz verfügt, die sich der Mensch ausgedacht hat: logische, aber auch emotionale.

Das zeigte sich jüngst beispielsweise auf einer Lichtung im Wald von Guinea in Westafrika, als Dora Biro von der University of Oxford eine Gruppe Schimpansen beobachtete. Dort, so berichtet die Biologin im Fachblatt „Current Biology“, schleppte eine Schimpansen-Mutter die durch Trockenheit mumifizierte Leiche ihres Babys fast zehn Wochen lang mit sich herum, behandelte sie, als sei sie noch lebendig, legte sie sanft ab, hob sie sanft auf. Immer wieder zuckte das Muttertier dabei verstört zusammen.

Viel weiter nördlich, in einem Safaripark in England, trauerte jüngst eine Gruppe von Schimpansen um „Pansy“. Die altersschwache Dame hatte sich zuletzt kaum noch bewegt, sie wirkte lethargisch. An ihrem letzten Abend kümmerten sich ihre Tochter Rosie und zwei weitere Gruppenmitglieder um die sterbende Greisin, berührten sie auffallend häufig, vor allem in ihren letzten zehn Minuten. Nach ihrem Tod blieb nur ihre Tochter noch bei Pansy, die anderen schliefen unruhig und lausten sich häufig. Später kamen auch sie zurück und reinigten die Leiche, mieden aber die Plattform im Gehege, auf der Pansy gestorben war. So beschrieb es James Anderson von der University of Stirling ebenfalls in „Current Biology“. Offenbar begreifen Schimpansen nicht nur das Konzept der Leblosigkeit, sondern haben auch Wege entwickelt, damit umzugehen.

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EIN ADOPTIV-VATER FÜR VICTOR

Im Tai-Nationalpark der Elfenbeinküste wiederum bettelte vor einiger Zeit der kleine Victor das große Männchen Freddy um eine Frucht an – bis der Erwachsene gutmütig nachgab. Victor und Freddy sind nicht verwandt. Trotzdem hatte der Erwachsene die Waise zu sich genommen und vor dem Tod gerettet. Als Adoptiv-Papa tat er alles dafür, dass sein Mündel wuchs und gedieh. Mehrere solcher Adoptionen hat die Arbeitsgruppe von Christophe Boesch vom Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie inzwischen beobachtet. Das vermittelt einen tiefen Blick in die lange bestrittene soziale Intelligenz der Schimpansen. Im Leipziger Zoo halfen junge Schimpansen einer ihnen unbekannten Person sofort und spontan, einen heruntergefallenen Gegenstand aufzuheben, oder öffneten ihr eine Tür – genau wie Kleinkinder es tun.

Auch der wissenschaftlich fundierte Vergleich mit dem menschlichen Nachwuchs spricht Bände: In so simplen wie genialen Tests handelten Schimpansen mindestens so schlau wie zwei- bis zweieinhalbjährige Mädchen und Jungen, was den Umgang mit der physischen Welt betrifft. Das ermittelte das Team von Michael Tomasello, ebenfalls vom Leipziger MPI, in einer bahnbrechenden Studie. Schimpansen addierten kleine Mengen korrekt und fanden verstecktes Futter genauso gut wie Kinder im entsprechenden Versuch Spielsachen. Sie nutzten Werkzeug außerdem spontan und effektiv. Drei Viertel aller von den Leipzigern getesteten „ Chimps“ holten sich beispielsweise einen außer Reichweite liegenden Bananenhappen mit einem Stöckchen, ohne dass sie angeleitet wurden – doppelt so viele wie bei den Orangs. Gar nur ein knappes Viertel der jungen menschlichen Probanden kam auf die Idee, das Werkzeug zu nutzen. Zwei zu Null für die Chimps, die gut gerüstet sind für ein Duell mit den ebenfalls sehr geschickten Raben.

Stichwort Werkzeuge: Wild lebende Schimpansen angeln Termiten mit Zweigen aus Erdlöchern oder knacken Nüsse mit zwei Steinen – ganz ähnlich wie ein Schmied Amboss und Hammer einsetzt. Ihre Technik variiert von Region zu Region, was sie zu einem der evolutionsgeschichtlich ersten Kulturwesen macht. Sie geben ihre Traditionen weiter. Sie wissen, dass sie tief in Baumhöhlen versteckte kleinere Affen nur mit „Speeren“ erlegen können – und spitzen passend harte und lange Zweige entsprechend an. Und sie rauen – eine neue Erkenntnis – mit den Zähnen die Spitzen von dünnen Ästen so auf, dass eine borstenartige Struktur entsteht wie bei einer Zahnbürste. Damit haben sie die Termiten-Angelei optimiert, berichtet Biologin Crickette Sanz nach jahrelangen Beobachtungen im Urwald von Kongo-Brazzaville. Kurzum: Schimpansen nutzen nicht nur Werkzeuge, sie konstruieren sich diese auch selbst.

VIDEOSEMINAR FÜR SCHIMPANSEN

Gefangene Schimpansen entwickeln sogar eine Grundform sozialen Lernens beim Werkzeugbau, schließen Wissenschaftler um Elizabeth Price von der University of St. Andrews in Schottland aus ihren jüngsten Experimenten. Man muss ihnen nur ein Demonstrationsvideo zeigen, und sie imitieren den exakten Zusammenbau eines langen Stabs aus zwei Einzelteilen. In der Wildnis allerdings ist dieses Imitationsverhalten extrem selten – vermutlich weil geduldige Tiere fehlen, die den Artgenossen neu entwickelte Techniken lange genug demonstrieren.

Überraschend ist, dass unsere haarigen Vettern auch schneller und exakter als Studenten auf einem Monitor aufleuchtende Zahlenreihen wiedergeben können – wie Versuche an der Universität von Kyoto zeigten. Dieses fotografische Gedächtnis, über das auch manche Kleinkinder verfügen, scheint Teil ihrer flexiblen Intelligenz zu sein. Genauso wie die Fähigkeit, mit subtilen mentalen Prozessen an den eigenen Entscheidungen zu zweifeln. Oder in einem Akt von Politik Koalitionen zu bilden, zu tricksen und zu täuschen, um an die Spitze einer Gruppe zu gelangen. Oder Handlungsabsichten und Wissen anderer zu erkennen – eine hohe geistige Leistung. Einiges spricht sogar dafür, dass sie Versuchungen aktiv widerstehen, indem sie sich ablenken, wenn später eine höhere Belohnung winkt.

Passend dazu planen Schimpansen ihr Verhalten von langer Hand. Sie können sich vorstellen, dass etwas in der Zukunft passieren wird und dass man vorsorglich einen Stein „einpacken“ sollte, weil man nachher eine Nuss knacken möchte. Oder sie kommen auf die Idee, am Morgen seelenruhig Steine zu bunkern, um am Nachmittag wütend Zoo-Besucher zu bewerfen, wie das Schimpansen-Mann Santino seit einigen Jahren in einem schwedischen Zoo vollführt. Zumindest muss das Chimp-Bewusstsein so weit entwickelt sein, dass die Menschenaffen künftige Ereignisse und mentale Zustände gedanklich simulieren können.

NICHT FAIR, ABER SIEGREICH

Ob derlei Simulationen bei ihren kriegerischen Handlungen eine Rolle spielen, ist unklar. Fakt aber ist: Einige Männchen aus einer Gruppe schließen sich mitunter zusammen, attackieren gezielt ohnehin schon dezimierte Nachbargruppen und töten deren Mitglieder, um die Auflösung der Gruppen zu forcieren. Das haben US-Biologen im Kibale-Nationalpark in Uganda nachgewiesen. Die Schimpansen greifen nur an, wenn sie sich in der Überzahl wähnen. Das ist wahrlich kein freundlicher, aber wahrscheinlich ein gut durchdachter und uns Menschen allzu bekannt vorkommender Akt. Der Lohn: neues Land mit neuen Ressourcen oder zumindest neue Weibchen aus der Nachbargruppe, die nach deren Zerschlagung wechseln könnten. Wird dabei ein Tier verletzt, kann es sich vielleicht sogar selbst kurieren: Wie kundige Heilpraktiker bedienen sich Schimpansen im Kräutergarten ihrer Umwelt und behandeln verschiedene Krankheiten, indem sie die Pflanzen mit den potenziell helfenden Substanzen gezielt vertilgen. Stimmt schon, was Jeremy Taylor geschrieben hat: Der Schimpanse ist kein kleiner Mensch, sondern „nur“ die intelligenteste Tierart. Einspruch? Abgelehnt! ■

KLAUS WILHELM, Wissenschaftsjournalist aus Berlin, war gerührt, als er in Afrika zum ersten Mal wilde Schimpansen beobachten durfte.

von Klaus Wilhelm

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Desmond Morris und Steve Parker Die Welt der Menschenaffen National Geographic, Hamburg 2010, € 39,95

Jeremy Taylor NOT A CHIMP Oxford University Press Oxford 2009, ca. € 22,–

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