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Love Hacking

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Love Hacking
oder Liebe im Jahr 2064

eginnt eine neue Phase in Ihrem Leben? Betrachten Sie sie als Chance. Sie wer-den neue Menschen treffen: Damit kann das ewige Spiel der Anziehung der Geschlechter in eine neue Runde gehen. (Alice Joy, „Love Hacking – So finden Sie den Mann fürs Leben!“, 15. überarbeitete Version, 2060)

Ihre Mutter fühlte sich moralisch berechtigt, jederzeit in Rominas Gesichtsfeld aufzutauchen. „Wo bist du gerade?“, fragte sie statt einer Begrüßung.

„Unterwegs zu meinem neuen Job.“ Das selbststeuernde Elektrotaxi sauste bergab Richtung Stuttgart-Feuerbach. Solarpaneele rechts und links der Fahrbahn glänzten im Sonnenlicht.

„Ach so? Ich dachte, erst morgen. Zu meiner Zeit war der 1. Mai noch ein Feiertag.“

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„Der Tag der Arbeit? Guter Witz.“

Mutter seufzte. „Ach ja, ist lang her. Ich wollte eigentlich bloß fragen, ob das Buch angekommen ist, das ich dir gekauft habe.“

„Ja, danke. Ist pünktlich vor meinem Herflug auf dem Reader aufgetaucht.“ Das Bild ihrer Mutter flimmerte an den Rändern. Wurde Zeit, dass sie sich neue Daten-Kontaktlinsen besorgte, überlegte Romina, ehe die hier ganz ausfielen.

„Und? Schon gelesen?“

„Mutter“, sagte Romina, „wenn ihr es damals mit der Geschlechtswahl nicht so übertrieben hättet, gäbe es heute keinen Frauenüberschuss und ich hätte keine Probleme, einen Mann zu finden. Daran ändern alle Bücher der Welt nichts.“

„Schätzchen, probier es. Mit genau diesem Buch hab ich mir damals deinen Vater geangelt.“

„Damals.“ Der Vertikalgarten, der sich über dem Eingang der Fangsheng Android AG 40 Meter in die Höhe erhob, kam in Sicht.

„Übrigens hab ich dir von Anfang an gesagt, der Hassan ist in Ordnung, den solltest du –“

„Du, ich muss aufhören“, unterbrach Romina. „Ich ruf dich heute Abend an.“

„Was? Nein, heute Abend sind wir auf einer LAN-Party. Ich melde mich.“

Romina kappte die Verbindung und verdrehte die Augen. Computer in einer Halle zusammenzutragen und miteinander zu verkabeln, um bis zum Umfallen uralte Ballerspiele zu spielen: Das war in ihren Augen Nullerjahre, aber heftigst!

Der Wagen hielt, die Tür schwenkte hoch. „Sie haben Ihr Ziel erreicht“, verkündete eine computergenerierte Männerstimme. „Sie verfügen über Flatrate Mai 2064. Vielen Dank, dass Sie mit dem Verkehrsverbund Stuttgart gefahren sind. Bis bald und einen schönen Tag.“

alten Sie die Augen offen. Folgen Sie Ihrem Gefühl. Vertrauen Sie auf den uralten Instinkt des Lebens. (Alice Joy, „Love Hacking – So finden Sie den Mann fürs Leben!“)

Es begann mit einer Führung durch die Firma, zusammen mit einem Dutzend anderen, die heute auch ihren ersten Tag hatten. Der Personalchef, ein Chinese, der gut Deutsch sprach, referierte die Geschichte des Unternehmens, ließ auch nicht unerwähnt, dass Fangsheng Android vor zehn Jahren das erste europäische Unternehmen gewesen war, das sich einen chinesischen Namen gegeben und mit chinesischen Schriftzeichen firmiert hatte. Romina konnte sich noch an die Aufregung seinerzeit erinnern. Sie war damals 22 gewesen, in der Endphase ihres IT-Studiums und ihrer Beziehung mit Hassan, der Gentechnologie studiert hatte, heute künstliche, optimierte Darmflora entwickelte und sich eine luxuriöse Wohnung an den Bremer Grachten leisten konnte, in einem Viertel, wo man die Verwüstungen nicht zu sehen bekam, die die Überflutung der Altstadt andernorts ausgelöst hatte. Kinder hatte er auch, zwei. Gut, dass ihre Mutter das nicht wusste!

Rundgang durch Kantine, Fitnessbereich, Kinderhort. Zwar gab es derzeit keine Mütter mit Kleinkindern in der Firma, aber es war gesetzlich vorgeschrieben, einen anzubieten. Romina schaute ihn sich genau an, man wusste schließlich nie.

Sie hatte Berlin einfach verlassen müssen. Nach der Trennung von Sven, dem es reichte, sich als Mietdemonstrant und nächtlicher Pizzadrohnen- Pilot durchs Leben zu schlagen, hatte es ihr genügt, aus Kreuzberg wegzuziehen – aber die Geschichte mit Anton war ein anderes Kaliber. Anton arbeitete als Skandaldesigner für einige hochrangige Politiker, war ständig auf Achse und überall zugleich – unmöglich, ihm und seinen zahllosen Frauenbekanntschaften in der Stadt dauerhaft aus dem Weg zu gehen.

Also ein Neuanfang. Stuttgart, weil diese Stadt, wenn man kein Vermögen für Auto-Fernfahrten ausgeben wollte, nur per Flieger erreichbar war, und Anton hatte Flugangst. Zwar hatte die neue Stuttgarter Oberbürgermeisterin versprochen, der Tiefbahnhof werde in ihrer Amtszeit endlich fertig und die Bahnanbindung damit wieder hergestellt, aber, na ja, das hatten andere vor ihr auch schon versprochen.

Die erste Fachabteilung: Home Care Androids.

„Zunächst das Grundproblem“, sagte der Mann, der nun die Führung übernahm. „Wie in allen Industrieländern ist auch in Deutschland die Bevölkerung trotz Zuwanderung seit Jahrzehnten rückläufig. Sie liegt derzeit bei knapp 60 Millionen, von denen 10 Millionen über 80 Jahre alt sind und 4 Millionen pflegebedürftig, also einer von 15. Unsere Eltern haben, als unsere Großeltern pflegebedürftig wurden, Hilfskräfte aus sogenannten Niedriglohnländern engagiert. Funktioniert heute nicht mehr, weil es solche Länder praktisch nicht mehr gibt beziehungsweise wenn, sind sie so weit weg, dass es sich trotzdem nicht lohnt. Was bleibt? Pflegeroboter. Und das ist es, was wir hier machen.“

Eine dunkelhäutige Frau, die im Service anfangen würde, stellte eine Frage, die Romina nicht mitbekam, weil sie in den Anblick des Mannes vertieft war. Ein bisschen verhuscht, ein schiefes, scheues Lächeln im Gesicht. Julio Müller-Cuoretto stand auf seinem Namensschild. Sympathisch – aber warum?

„Unser Konzept hat viele Komponenten“, sagte er gerade, heftig gestikulierend. „Nebenan wird computerisierte Kleidung entwickelt, die permanent den Gesundheitszustand ihres Trägers überwacht. Bis vor zehn Jahren haben sie vor allem Sportler getragen, aber inzwischen ist sie für Alte, Demenzkranke und allgemein Pflegebedürftige üblich. Auf EU-Ebene laufen Überlegungen, Rescue Underwear für Menschen mit chronischen Erkrankungen gesetzlich vorzuschreiben. Jeder behandlungsbedürftige Zustand wird dann innerhalb von Sekunden erkannt und an eine Überwachungszentrale weitergeleitet, die bei Bedarf Notfallmaßnahmen einleitet.“ Er breitete die Hände aus. „ Die wirtschaftlichen Perspektiven von Fangsheng Android sind gut. Das Gesundheitswesen wird bis auf Weiteres der größte Wirtschaftsbereich bleiben.“

Es waren die Hände, erkannte Romina. Er hatte die perfekten Hände, genau solche, die – was sie seit jeher gewusst hatte – der Mann ihres Lebens haben würde: schmal, haarlos, mit schlanken, langgliedrigen Fingern und wohlgeformten Nägeln.

enn Sie Ihren Traummann gefunden haben, ist der logische nächste Schritt: Werden Sie seine Traumfrau! Dazu ist es nützlich, Erkundigungen über ihn einzuziehen. (Alice Joy, „Love Hacking – So finden Sie den Mann fürs Leben!“)

Mit den freien Suchagenten war nichts wirklich Verwertbares über Julio Müller-Cuoretto zu finden. Zum Glück besaß Romina noch ein paar AmaZoogle-Coins, deren Wechselkurs sich zudem günstig entwickelt hatte: Dafür bekam man auf den illegalen Suchmaschinen des nigerianischen Undernets eine Menge Rechenzeit. Nach kaum zehn Minuten Deep Search fand sie ein Profil, das Julio anderthalb Jahre zuvor bei einem der seriöseren Partnersuchportale eingestellt hatte. Er suche eine Frau mit blonden, langen Haaren, blauen Augen, großem Busen und Spaß an Sex, hatte er geschrieben.

Bingo. Romina speicherte das ab, beendete die kostenpflichtige Suche und betrachtete sich dann prüfend im Spiegel. Vorausschauend, ihr Haar lang wachsen zu lassen – es kurz zu schneiden, wäre im Bedarfsfall schnell gegangen. Sie loggte sich bei ihrem Friseur ein und buchte einen Termin für den nächsten Tag: waschen und blond färben. Mal eine Abwechslung nach 31 Jahren unentschiedenem Braun.

Blaue Augen? Ihre waren hellgrau, aber es gab Daten-Kontaktlinsen in allen Farben, und da sie ohnehin neue kaufen wollte … Gleich morgen. Kein Problem.

Was den Busen betraf, würde sie erst mal mit einem Wonderfill-BH nachhelfen, einem trägerlosen natürlich, den man unter der Kleidung nicht sah. Falls die Sache irgendwann ernst werden sollte, konnte sie immer noch über eine Vergrößerung nachdenken. Das kostete heutzutage nicht mehr die Welt und war auch schnell erledigt.

Und Spaß an Sex ging sowieso in Ordnung.

ulio diskutierte gerade mit seinem Kollegen Barrack über die Nachricht, dass Saudi-Arabien ein weiteres supraleitendes Versorgungskabel für Solarstrom durchs Mittelmeer legen wollte, als die Tür aufging und eine blonde, langhaarige, vollbusige Frau den Kopf hereinstreckte.

„Hài“, sagte sie. „Ich bin Romina Bolt, die Neue aus der IT. Julio? Wir werden künftig zusammenarbeiten, was das Deployment Ihrer Updates anbelangt. Was halten Sie davon, heute gemeinsam in die Kantine zu gehen. Dann können wir uns etwas kennenlernen?“

Julio fühlte sich überrumpelt – einerseits. Andererseits hatte sie wirklich ziemlich tolle Haare.

„Ähm“, meinte er. „Sollten wir unbedingt, aber bitte nicht in der Kantine.“ Sie riss die Augen auf. Schöne Augen, intensives Hellblau. „Ist die so schlecht?“

„Nein, aber ich esse nur Sachen aus paläo- synthetischem Anbau. Ich hab immer mein eigenes Essen dabei.“

„Ah so“, sagte sie. Hielt ihn wahrscheinlich für einen Spinner, wie üblich. „Na, dann ein andermal. Mànmànchi.“

Und zu die Tür. Barrack musterte ihn tadelnd. „Julio“, meinte er, „du bist ein Idiot. Die war scharf auf dich.“

Am nächsten Tag tauchte sie im 3D-Drucker-Raum auf, als er gerade darauf wartete, dass ein etwas komplizierteres Adapterstück fertig wurde. Wo man denn abends in Stuttgart was unternehmen könne, wollte sie wissen, sie sei neu in der Stadt.

„Keine Ahnung“, meinte Julio. „Ich gehe eigentlich nie aus.“

„Echt nicht?“ Diese blauen Augen … Irgendwie faszinierend. „ Ins Kino? Ein gutes Restaurant? Tanzen?“

„Kino hab ich zu Hause. 3D, Film-Pool-Premium-Abo. Und niemand, der vor mir sitzt. Ansonsten …“ Julio merkte, wie fremd ihm der Gedanke war, sich ohne Not in die Innenstadt zu begeben. Und wie unheimlich. Selbst, wenn man die Gebiete mied, in denen Straßengangs und Prekaristen unterwegs waren.

„Wie wär’s, wenn wir die Stadt gemeinsam erforschen?“, schlug sie eifrig vor. „Zu zweit macht doch alles mehr Spaß. Ich hab gelesen, es soll ein Restaurant geben, in dem ausschließlich Fleisch von echten Tieren serviert wird. Teuer, aber das würde mich mal interessieren.“

Julio schüttelte sich unwillkürlich. „Leichenfleisch? Nee. Da kriegen Sie mich nicht zu.“

„Wieso? Früher hat’s nichts anderes gegeben.“

„Ich weiß. Meine Mutter schüttelt sich beim Gedanken an Zuchtfleisch. Aber mal ehrlich – ein Tier totschlagen, ihm das Fell abziehen, den Leichnam zerteilen … und das dann essen?“

Romina sah ihn mit großen Augen an. „Wie die Urmenschen. Keule auf den Kopf, in die Höhle zerren, Sie wissen schon. Mehr paläo geht doch gar nicht.“

Der Drucker piepste. Das Plastikteil war fertig. Julio nahm es heraus, wusste nicht, was er sagen sollte, und meinte schließlich: „Vielleicht finden wir ja einen anderen Treffpunkt für unsere Besprechung.“

eben Sie vor allem nicht auf. Denken Sie immer daran, dass uns letztlich unsere Instinkte bestimmen. Auf Dauer kann ein Mann der Anziehung einer Frau nicht entgehen. (Alice Joy, „Love Hacking – So finden Sie den Mann fürs Leben!“)

Zu Hause erwartete sie eine Nachricht der Gesundheitskasse. Letzte Mahnung: Die routine- mäßige Auswertung ihrer Einkaufsdaten hatte ergeben, dass sie schon wieder mehrere Lebensmittel eingekauft (und demnach wohl auch verzehrt) hatte, die bei ihrem genetischen Profil nicht unbedenklich waren. Noch ein solcher Vorfall, und man würde ihren Beitrag um eine Risikostufe heraufsetzen.

Blöd, dass man das Bargeld abgeschafft hatte. Da hatte ihr Vater ganz recht, der immer schimpfte: „Erst die Glühbirnen, dann die Zigaretten, dann das Bargeld.“ Wobei Romina keine Vorstellung davon hatte, was eine „Glühbirne“ gewesen sein mochte.

Aber das Schreiben brachte sie auf die Idee, nachzuschlagen, was eigentlich paläo-synthetischer Anbau war: die Zucht von Lebensmitteln in reinen Nährstofflösungen, deren Zusammensetzung molekülgenau auf deren optimale Entwicklung abgestimmt war, angeblich aufgrund einer Analyse der Lebensbedingungen von Pflanzen und Tieren in der Zeit vor der Industrialisierung und dem Ackerbau.

Heftig umstritten; das renommierte Monsanto-Institut sprach von „Panikmache und Beutelschneiderei“.

Aber es gab Dienste, die direkt ins Haus lieferten oder in Paketstationen mit Kühlboxen. Und jede Menge Rezepte.

Damit stand der nächste Plan fest.

ie jeden Morgen rief Julio das automatische Taxi, ehe er die Wohnung verließ, wartete unten in der Eingangshalle, bis es eintraf, und nutzte die Zeit dazu, auf dem Hausmonitor die Schlagzeilen zu überfliegen. Nichts von Belang heute. Eine weitere Pazifikinsel war wegen des steigenden Meeresspiegels untergegangen, Indien kündigte erneut eine Mission zum Mond an und man diskutierte mal wieder, Facebook seinen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat zu entziehen, weil es die Jugend nicht mehr angemessen repräsentiere.

Als sein Timer bei „Ankunft in 5 Sekunden“ angekommen war – Julio benutzte eine der guten, alten App-Uhren, und warum auch nicht, solange das System noch unterstützt wurde? –, öffnete er die Tür und trat hinaus in die brüllende Hitze eines sonnigen Mai-Morgens.

Doch heute stimmte die Anzeige nicht, von dem Elektrotaxi war weit und breit nichts zu sehen. Stattdessen rollte ein altmodisches schwarzes, handgelenktes Automobil vorbei. Dass das noch eine Zulassung für die Innenstadt hatte! Noch während er staunte, fiel Julios Blick auf …

Das Kind. Feist thronte es auf dem Rücksitz, erhöht, sodass es hinausschauen konnte, und es betrachtete ihn im Vorbeirollen mit großen Augen.

Die Begegnung machte Julio nachdenklich. Wie lange war es her, dass er zum letzten Mal ein Kind gesehen hatte, außer in Filmen? Hier in der Stadt begegnete man Kindern selten. Eltern zogen in spezielle Vororte, wo ein optimales Aufwachsen ihrer Sprösslinge gewährleistet war, mit Kursen, Nachhilfen und angeleitetem Sport von frühester Kindheit an. Dabei waren Kinder, wenn man es recht überlegte, etwas ganz Natürliches. Seltsam, in einer Umgebung zu leben, in der keine mehr vorkamen.

Julio sah sich um, betrachtete die Pflanzen, die ringsherum in Bottichen aus recyceltem Plastik wuchsen: Er konnte keine einzige davon mit Namen bezeichnen.

Vielleicht war es angesagt, den Kontakt zum Natürlichen, zur Natur wieder zu suchen. Sich zum Beispiel Pflanzen einmal genauer anzuschauen. Etwa dieses dunkelgrüne Gewächs mit den pelzig wirkenden Blättern …

Au. Das brannte! Er rieb sich die Fingerspitzen, sah erschrocken, wie sie rot wurden. War das gefährlich? So eine dumme Sache, er hatte doch nur ein Blatt angefasst … Zum Glück kam endlich das Taxi. Er stieg ein und sagte: „Zur Notfallklinik bitte.“

Als er die Klinik erreichte, war der Schmerz abgeklungen, und die Ärztin bestätigte ihm, dass er keine bleibenden Schäden davontragen würde. Dafür kannte er nun wenigstens den Namen einer Pflanze: Brennnessel. Natur. Eine Herausforderung. Und nicht ohne Risiko, das war ihm jetzt klar.

Als ihn die Neue wieder ansprach, diesmal, um ihn zu sich nach Hause einzuladen, es gäbe auch paläo-synthetische Küche, sagte er zu. Es mochte interessant sein zu sehen, wohin das führte. Eine Herausforderung, sozusagen. Man musste auch mal ein Risiko eingehen.

assen Sie den Dingen ihren natürlichen Lauf. Unsere Instinkte steuern uns, es genügt, ihnen keine Hindernisse in den Weg zu legen, um geschehen zu lassen, was geschehen soll. (Alice Joy, „ Love Hacking – So finden Sie den Mann fürs Leben!“, erschienen 2018)

Es begann ganz nett. Julio traf auf die Minute pünktlich ein, brachte eine Porzellanorchidee in einer spiegelfreien Glasbox mit, lobte ihre Wohnung und das Essen und machte ihr artige Komplimente über ihr Kleid. Er wirkte ein bisschen angespannt, aber interessiert. Sie musste gar nichts Besonderes machen; eins kam zum anderen, und als sie schließlich in ihrem Bett landeten, fühlte sich das an wie die natürlichste Sache der Welt.

Der Sex geriet dann allerdings zu einem ziemlichen Gewürge. Dauernd war irgendein Körperteil im Weg, Julio wirkte umso irritierter, je länger es ging, was sich etwas unvorteilhaft auf seine Standfestigkeit auswirkte. Romina war froh, als sie es endlich hinter sich gebracht hatten: Ein erstes Mal eben, mit ein paar mehr Missverständnissen und Eingewöhnungsproblemen als üblich. Sie bemühte sich, ihr Lächeln beizubehalten, und überlegte, wann der geeignete Zeitpunkt sein mochte, ihre blauen Daten-Kontaktlinsen herauszunehmen.

Irritierend war allerdings, dass Julio so gar nicht wirkte, wie Männer nach dem Sex normalerweise wirken. Das Mega-Like-Lächeln fehlte. Von Hundert-Plus-Entspannung keine Spur.

„Du schaust drein, als hätte es dir nicht gefallen“, meinte sie, bemüht um einen neckischen Ton.

„Doch, doch“, sagte er rasch. „Es war … interessant.“

Sie stutzte. „Interessant? Mehr nicht?“

„Na ja“, druckste er herum. „Wie soll ich sa- gen … Es war gewissermaßen mein erstes Mal.“

„Echt?“ Sie überlegte, ob sie das glaubte. Eine männliche Jungfrau? Das hatte sie noch nie gehabt. „Dafür ging’s aber ganz gut.“

„Ja, aber ich hatte eben bisher nur Sex mit meinem Tenderbot, noch nie mit einer richtigen Frau.“

Romina hatte das Gefühl, dass ihr das Lächeln entglitt. „Was?“

„Ehrlich gesagt hatte ich es mir auch anders vorgestellt“, fuhr Julio fort. „Nicht mit so viel Schweiß. Mit all diesen Gerüchen. Nicht so … wie soll ich sagen? Naturhaft.“

„Was? Warte, warte.“ Sie setzte sich auf. Das durfte jetzt nicht wahr sein, oder? Sie hatte darüber gelesen, vor Jahren, als die Dinger aufgekommen waren, es aber als von den Medien hochgekochten Trend abgetan, die sexuelle Perversion des Monats eben. „Willst du mir gerade sagen, dass du bis jetzt nur Gummipuppen gepoppt hast?“

„Also bitte!“ Er klang richtig entrüstet. „Ein Tenderbot ist ein hochwertiger Androide mit Nature Skin-Hülle, selbstständig beweglich und intelligent interagierend. Mein Gerät erhält täglich ein Vokabular-Update, sodass die Gespräche mit ihr … also dem Tenderbot, meine ich … nie langweilig werden.“

„Die Gespräche. Mit deinem Tenderbot.“ Sie blinzelte, unwillkürlich in der Taktfolge, die ihre Datenlinsen aktivierte. Tenderbots, blendete sich die dazu passende Abfrage in ihr Gesichtsfeld ein, sind ein Produkt von Tenderbots, Inc., mit Sitz in (siehe)Los Angeles, USA, die auf die zugehörige Technologie, insbesondere das (siehe)Natur Skin-Material, bis zum Jahr 2083 gültige Patente haben.

„Die Gespräche, ja. Und der Sex.“

Sie ließ sich zurück in die Kissen fallen, wünschte sich, den Tag an seinen Anfang zurückspulen und danach ganz anders weitermachen zu können. „Verstehe. Und Sex mit deinem Roboter gefällt dir besser als mit mir.“

Meine Güte, wie er herumdruckste, sich räusperte! Er hätte gar nichts mehr zu sagen brauchen, das allein rief schon laut und deutlich Ja, genau! Aber sein Mund behauptete: „Das wollte ich damit nicht sagen. Ich wollte nur … na ja … Es ist eben ein … hmm, erster Eindruck. Sozusagen.“

„Ich glaube“, sagte Romina und zog die Decke hoch bis ans Kinn, „es ist besser, wenn du jetzt einfach gehst.“

manda kam ihm mit wiegenden Hüften entgegen, wie immer, wenn er die Wohnung betrat. Sie lächelte. „Hallo Julio“, sagte sie mit sanfter, einschmeichelnder Stimme. „Schön, dass du da bist.“

„Hallo Amanda“, sagte Julio und zog die Schuhe aus.

„Du kommst spät. Wie war dein Tag?“

„Ach je. Lehrreich, könnte man sagen.“ Einen Moment lang hatte er fast so etwas wie ein schlechtes Gewissen.

„In 21 Minuten beginnt übrigens die Live- übertragung des Boxkampfs zwischen Princess Wang Diamond und Jennifer Masters. Du hast neulich erwähnt, dass du das gerne sehen würdest. Warum machst du es dir nicht mit einer Flasche Algen-Bier im Fernsehsessel gemütlich?“, schlug sie vor und fügte mit gutturalem Unterton hinzu: „Ich könnte dir während der Übertragung auch einen blasen, wenn du möchtest.“Julio ließ sich diesen Vorschlag durch den Kopf gehen, sagte dann aber: „Heute nicht. Lass uns lieber ins Bett gehen und einfach kuscheln.“

Und so machten sie es. Das war eigentlich der größte Vorteil an Tenderbots: dass sie immer taten, was man ihnen sagte. Kein Streit, kein Stress. Keine Erwartungen, die man enttäuschen konnte.

achts wachte er auf, fühlte sich unruhig, musste aufstehen.

„Was ist mit dir, Julio?“, fragte Amanda, die natürlich nie schlief.

„Nichts“, sagte er. „Bleib liegen. Ich geh nur was trinken. Und vielleicht schau ich meine Messages durch.“

Das Schreiben von dieser Aktionsgemeinschaft gegen biologischen Chauvinismus, abgekürzt ABC, war noch in der Ablage. Sie sind Tenderbot-Kunde, also ein moderner, aufgeschlossener Mensch, hieß es darin. Unterstützen Sie unsere Forderung, die Heirat zwischen Menschen und Robotern zu legalisieren. Plussen Sie unseren entsprechenden Antrag in den Liquid-Foren von Bundestag und EU- Kommission! Werden Sie Mitglied der ABC!

Das war nur konsequent, oder? Julio füllte den Mitgliedsantrag aus und schickte ihn ab.

achdem Julio gegangen war, blieb Romina noch eine Weile im Bett liegen, um sich zu bedauern, dann stand sie auf und suchte nach Informationen über diese Firma. Was, wie erwartet, kein Problem war: Es gab eine Tenderbot-Firmenseite, einen großen Shop, ein Forum, eine Beta-Feedback-Area, einen Snotter-Feed, Perm-Com-Zugang, Merchandising, Eye Data Upload und, und, und – einfach alles.

Romina hatte erwartet, sich beim Anblick der Androiden zu ekeln, aber das war gar nicht so. Im Gegenteil, nachdem sie sich ein paar Videos angesehen hatte, war sie regelrecht fasziniert. Vor allem von den männlichen Tenderbots. Die gab es nämlich auch. Jeder Tenderbot wurde individuell nach den Wünschen seines Bestellers maßgefertigt. Man hatte die Auswahl unter einundsechzig Körperformen, fünfundvierzig Gesichtsformen, dreißig Mundformen, einhundertzwölf verschiedenen Augenpartien und so weiter. Auch Details wie Körpergröße, Hände, Füße und dergleichen waren wählbar. Sie blätterte die Hände durch, atmete heftig ein, als sie Hände-17 sah: Genau die, die sie suchte!

Die Größe und Gestalt des Geschlechtsteils war maximal variabel; gegen Aufpreis waren sogar Maßanfertigungen nach Gipsabdrücken und 3D-Scans möglich. Und das Ganze auf Wunsch mit Sperma-Injektor: Einfach kurz vorher Patrone auf Körpertemperatur erwärmen, einlegen und alles Weitere dem Tenderbot überlassen.

Sperma konnte man auch gleich bestellen. Geliefert wurde per Kurier in Tiefkühlgefäßen, in flüssigem Stickstoff, bis zu zehn Tage haltbar. Auf Wunsch mit Geschlechts-Vorauswahl. 98-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass es das gewünschte Geschlecht wird. Eine entzückende Galerie von Kindergesichtern, die ihre Existenz dieser Technologie verdankten, umrahmte diese Erklärung.

Und – man konnte sich einen maßgefertigten Tenderbot 14 Tage zur Probe kommen lassen, kostenlos und unverbindlich. Warum machen wir Ihnen ein so großzügiges Angebot? Weil wir überzeugt sind, dass Sie Ihren Tenderbot nicht mehr hergeben werden. Wenn doch, übernehmen wir sogar die Rücksendekosten!

Das war ein Wort. Romina stellte sich ihren Tenderbot zusammen, taufte ihn Romeo und klickte auf „Bestellen“.

Wir haben Ihre Bestellung erhalten. Romeo kommt zu Ihnen: voraussichtlich am Freitag nächster Woche.

Gut. Sie zog ihren Reader hervor, ging die gespeicherten Bücher durch, bis sie bei „Love Hacking“ – So finden Sie den Mann fürs Leben! anlangte, und löschte die Datei. •

Eine exklusive Science-Fiction-Story von Andreas Eschbach

Ohne Titel

ANDREAS ESCHBACH,

Jahrgang 1959, ist einer der bekanntesten und beliebtesten Science-Fiction-Autoren Deutschlands und Verfasser zahlreicher Bestseller. Er schreibt seit seinem 12. Lebensjahr. Eschbach studierte Luft- und Raumfahrttechnik und arbeitete zunächst als Software-Entwickler. Bis 1996 war er Geschäftsführer einer EDV-Beratungsfirma. Inzwischen lebt er als freier Schriftsteller in der Bretagne. Andreas Eschbach ist verheiratet und hat einen Sohn. Seine bekanntesten Romane sind: „Das Jesus- Video“ (1998), „ Die Haarteppichknüpfer“ (1995), „Eine Billion Dollar“ (2001) und „ Ausgebrannt“ (2007). In seinem jüngsten Roman „Todesengel“ (2013) geht es um das Thema Gewalt in der Öffentlichkeit. Mehr erfahren Sie auf der Homepage des Autors: andreaseschbach.com

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