Gernot Sonneck vom Kriseninterventionszentrum in Wien behauptet, dass es kein Zufall sei, wenn sich mehrere Menschen in kurzen Abständen vor den Zug werfen. Sonneck begleitet seit 1987 ein Projekt der Wiener Verkehrsbetriebe, die den Zusammenhang mit der Medienberichterstattung untersucht. Aufgrund seiner Untersuchungen empfahl er den Medien nur kurz oder gar nicht über die „U-Bahn-Selbstmörder“ zu berichten. Das Ergebnis dieses Stillhalteabkommens ist verblüffend: die Zahl der Selbstmorde auf den Gleisen nahm um 50 bis 60 Prozent ab.
Das Nachahmungsphänomen, das auf diesem Wege verhindert werden soll, wird von den Psychologen als „Werther-Effekt“ bezeichnet. Der Name ist angelehnt an ein Drama Goethes. Nach dessen Veröffentlichung 1774 kam es zu einer Welle von Selbstmorden unter unglücklich verliebten jungen Männern, die dem Beispiel Werthers folgten.
In München läuft seit Juli diesen Jahres ein Projekt, dass sich ebenfalls mit diesem Nachahmungseffekt beschäftigt. Die Zahlen müssen allerdings erst noch ausgewertet werden. Es gibt hier allerdings schon seit Anfang der 90er Jahre eine Traumasprechstunde, in der Bahnführer betreut werden, die jemanden überfahren haben.
Es gibt kaum eine andere Selbstmordart, die andere so in Mitleidenschaft zieht wie der Tod auf den Gleisen. Zugführer und Zuschauer leiden manchmal ein Leben lang unter diesem Erlebnis. Aus diesem Grund setzt Wien und München auch den Schwerpunkt zunächst auf die Berichterstattung über Bahn-Suizide. (Quelle: Der Tagesspiegel)