Die blutige Geschichte ereignete sich im Jahre 1898 während des Baus einer Eisenbahnbrücke über den Fluss Tsavo in Kenia. Immer wieder schnappten sich zwei ungewöhnlich große Löwenmännchen nachts Arbeiter aus den Zelten des Camps. Sicherheitsmaßnahmen und Versuche, die Tiere zu töten, scheiterten – das Grauen schien kein Ende zu nehmen: Schätzungen zufolge starben etwa 35 Menschen in den Fängen des Löwen-Teams. Die Bauarbeiten an der Brücke kamen dadurch zum Erliegen, da sich viele der Arbeiter weigerten, weiter in dem Camp zu bleiben.
Gruselige Geschichte weckt wissenschaftliches Interesse
Erst nach neun Monaten konnte der Brite John Henry Patterson die beiden Löwen schließlich zur Strecke bringen. Ihre Überreste wurden anschließend ins Field Museum of Natural History in Chicago gebracht – noch heute sind die beiden Menschenfresser dort ausgestopft zu bestaunen. Ihre dramatische Geschichte wurde schließlich weltberühmt und lieferte die Grundlage für Bücher und auch für den Hollywoodfilm „Der Geist und die Dunkelheit“ mit Val Kilmer und Michael Douglas in den Hauptrollen.
Doch die Geschichte ist auch aus wissenschaftlicher Sicht interessant: Im Zentrum steht dabei die Frage, warum diese beiden Löwen überhaupt zu spezialisierten Menschenfressern geworden waren, denn dieses Verhalten ist für Löwen sehr ungewöhnlich. „Es scheint schwer, die Motivation von Tieren zu ergründen, die vor über hundert Jahren gelebt haben – aber die Museumsstücke ermöglichen das“, sagt Co-Autor Bruce Patterson vom Field Museum. Kurioserweise trägt er den gleichen Nachnahmen wie der damalige Held der Löwengeschichte. Doch das ist nur Zufall – er ist mit Colonel Patterson nicht verwandt. Bruce Patterson und seine Kollegen haben nun die archivierten Überreste der Kiefer und Zähne der beiden Löwen mit modernen Analysemethoden unter die Lupe genommen, um Hinweise auf ihre Motivation zu finden.
Beutemangel als Motiv?
Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand dabei die Überprüfung der Hypothese, wonach die Tsavo-Löwen zu Menschen-Jägern geworden waren, weil sie kaum andere Beute finden konnten. Die Region litt damals nämlich unter einer Dürre und eine Infektionskrankheit dezimierte außerdem den Wildbestand. Ob Beutemangel tatsächlich der Auslöser für die Entwicklung des Verhalten war, lässt sich an den Zähnen ablesen, sagen die Forscher. In diesem Fall müsste der Zahnschmelz ihnen zufolge Anzeichen dafür aufweisen, dass die Löwen zunächst viel an Knochen herumnagt haben, um sich zu versorgen.
Aber anstatt schwer abgenutzter Zahnoberflächen, wie sie für Löwen mit viel Aas als Nahrung typisch sind, fanden die Forscher das Gegenteil: „Der Zahn-Zustand war ähnlich wie bei Zoo-Löwen, die gut versorgt werden“, sagt Co-Autorin Larisa DeSantis von der Vanderbilt University in Nashville. Dieses Ergebnis widerspricht demnach der Vorstellung, dass die Tiere zunächst Not gelitten hatten und dadurch zu Menschenfressern geworden waren.
Skurrile Zahn-Schonkost
Der wahre Grund waren hingegen vermutlich Zahnschmerzen, wie die weiteren Untersuchungen belegten: Den Tsavo-Löwen, der die meisten Menschen gefressen hat, plagte nämlich ein Wurzelspitzenabszess in einem seiner Eckzähne. „Löwen benutzen ihre Kiefer, um schwere und wild kämpfende Beutetiere wie Zebras und Gnus zu töten und zu zerlegen. Für diesen Löwen wäre das sehr schmerzhaft gewesen“, erklärt Patterson. Möglicherweise schätzte er deshalb „Zahn-Schonkost“: Menschen sind leicht zu fangende und vergleichsweise zarte Opfer. Möglicherweise gab es auch bei seinem Jagd-Kumpanen ähnliche Gründe für die ungewöhnliche Beutewahl.
So zeichnet sich im Fall Tsavo ebenfalls ab, was auch in anderen dokumentierten Fällen der Grund für die Entwicklung von Raubtieren zu Menschenfressern war: eine Behinderung. „Es ist bemerkenswert ungewöhnlich für Löwen, Menschen anzugreifen, aber es ist katastrophal, wenn es passiert“, sagt Patterson. „Wenn ein großes, gefährliches Raubtier jagduntauglich wird, besteht diese Gefahr besonders,“ betont er. Klar sollte allerdings sein: Mit Bösartigkeit im menschlichen Sinne hat dies nichts zu tun. „Kein Tier ergibt sich dem Hungertod, wenn es eine andere Möglichkeit hat“, so Patterson.