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„Neuronales“ bei hirnlosen Tieren entdeckt

Evolution des Nervensystems

„Neuronales“ bei hirnlosen Tieren entdeckt
Eine neuroide Schwamm-Zelle (orange) streckt Fortsätze nach einer Verdauungszelle (grün) aus, um offenbar eine Kommunikationsverbindung herzustellen. (Bild: Jacob Musser, Giulia Mizzon, Constantin Pape, Nicole Schieber / EMBL)

Wie sind einst die ersten Nervensysteme entstanden? Hinweise auf diese Frage haben nun besonders urtümliche Vertreter der Tiere geliefert: die Schwämme. Diese vergleichsweise simplen Wesen besitzen zwar weder ein Gehirn noch Nerven – aber mögliche Vorformen dieser Zelltypen, berichten Forscher. Sie haben spezielle Zellen mit neuronalen Merkmalen entdeckt, die vermutlich eine zelluläre Kommunikation vermitteln. Dieses Konzept könnte somit am Anfang der Entwicklung zu den immer komplexeren Nervensystemen der Tiere gestanden haben, sagen die Wissenschaftler.

Wenn Sie diese Zeilen lesen, ist das geheimnisvollste aller Organe am Werk: das Gehirn. Beim menschlichen Denkorgan handelt es sich um die komplexeste bekannte Form eines Netzwerks aus Nerven. Die Hirnforschung hat gezeigt, dass unsere körperlichen und geistigen Fähigkeiten auf dem Zusammenspiel von etwa 86 Milliarden Neuronen basieren. Trotz zahlreicher wissenschaftlicher Erkenntnisse bleiben allerdings viele Aspekte von Gehirn und Nervensystem weiterhin rätselhaft. Dazu gehört auch die Frage, was am Anfang der Evolutionsgeschichte des Konzepts stand, das komplexe Fähigkeiten bei Tieren ermöglichte und schließlich auch unseren Verstand sowie das Bewusstsein hervorgebracht hat.

Schwämme im Visier

Um grundlegende Hinweise zu erhalten, hat sich das Team um Detlev Arendt vom European Molecular Biology Laboratory in Heidelberg (EMBL) der Untersuchung der Schwämme zugewandt. Man geht davon aus, dass die Evolutionsgeschichte der heutigen Tierwelt auf ähnliche Wesen zurückgeht, die einst in den Urmeeren gelebt haben. Die Schwämme werden zwar dem Tierreich zugeordnet, besitzen aber einen vergleichsweise primitiven Bau: Ihre vielzelligen Körper bilden Strukturen aus, die eine Nahrungsaufnahme aus dem Wasserstrom ermöglichen. Komplexe Organsysteme besitzen die Schwämme aber nicht und auch keine Nervenstrukturen, die bei anderen Tieren für die Kommunikation im Körper zuständig sind.

Aus genetischen Untersuchungen bei Schwämmen ging allerdings bereits hervor, dass ihr Erbgut Gene umfasst, von denen Funktionen im tierischen Nervensystems bekannt sind. Vor allem geht es dabei um die Synapsen – die Verknüpfungselemente zwischen den Neuronen, die an den Enden ihrer Fortsätze sitzen. Sie ermöglichen die Kommunikation zwischen Neuronen und bilden damit die Grundlage der Funktion von Nervensystem und Gehirn. Arendt und seine Kollegen sind nun der Frage nachgegangen, welche Bedeutung diese „synaptischen Gene“ bei den Schwämmen besitzen könnten. „Wir wissen, dass diese Erbanlagen an der neuronalen Funktion in höheren Tieren beteiligt sind. Dass es sie bei einem Lebewesen ohne Nervensystem ebenfalls gibt, warf deshalb Fragen auf“, so Arendt.

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Um Einblicke in die Funktion dieser Erbanlagen zu gewinnen, untersuchten die Forscher zunächst, in welchen Zelltypen der Schwämme die synaptischen Gene aktiv sind. Als Modell diente ihnen dabei der Süßwasserschwamm Spongilla lacustris. Bei ihren Untersuchungen setzten sie eine Technik ein, die es ermöglicht, das genetische Profil einzelner Zellen aufzuschlüsseln. „Wir konnten auf diese Weise zeigen, dass bestimmte Zellen in den Verdauungskammern des Schwamms die synaptischen Gene aktivieren. Selbst bei einem primitiven Tier ohne Synapsen sind diese Gene also in bestimmten Teilen des Körpers aktiv“, sagt Co-Autor Jacob Musser vom EMBL.

Neuroiden Schwamm-Zellen auf der Spur

Wie die Forscher erklären, nutzen Schwämme ihre Verdauungskammern, um Nahrung aus dem Wasser zu filtern, und zeigen dort auch Reaktionen auf Mikroben aus der Umgebung. Um zu verstehen, welche Rolle die speziellen Zellen mit der synaptischen Genaktivität dort übernehmen, nahmen die Wissenschaftler sie gezielt ins Visier. „Durch die Kombination von Elektronenmikroskopie und Röntgenbildgebung waren wir in der Lage, das erstaunliche Verhalten dieser Zellen zu visualisieren“, erklärt Co-Autor Schwab vom EMBL.

Es zeigte sich, dass sich die Schwammzellen mit der synaptischen Genaktivität durch die Verdauungskammern bewegen. Sie beseitigen dabei offenbar bakterielle Eindringlinge und zudem stellten die Forscher ein besonders spannendes Verhalten fest: Die Zellen bilden lange Fortsätze aus, durch die sie sich offenbar mit Verdauungszellen verbinden. Es handelt sich dabei somit um eine Ähnlichkeit zu Merkmalen tierischer Nervensysteme. Es liegt nahe, dass die Schwammzellen mit synaptischer Genaktivität der zellulären Kommunikation zur Regulierung der Nahrungsaufnahme dienen, erklären die Wissenschaftler.

Daraus ergibt sich auch die möglicherweise weitreichendere Bedeutung der Studie: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass diese Zellen, die die Nahrungsaufnahme regulieren und die mikrobielle Umgebung kontrollieren, mögliche evolutionäre Vorläufer der ersten tierischen Nervensysteme bildeten“, so Musser. Abschließend schreiben die Wissenschaftler: „Unsere Arbeit rückt damit die Schwämme in den Mittelpunkt bei der Aufklärung der Evolution des Nervensystems“.

Quelle: European Molecular Biology Laboratory, Fachartikel: Science, doi: 10.1126/science.abj2949 

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