„Vom Thron gestoßen“: Geschwister zu bekommen, kann für das erste Kind eine stressige Herausforderung sein – auch bei unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen. Doch bislang war unklar, inwieweit dieser Stress bei ihnen auch physiologisch nachweisbar ist. Nun konnten Forschende erstmalig am Urin von Bonobo-Kindern zeigen: Die Geburt eines jüngeren Geschwisters löst bei den jungen Primaten eine dauerhafte Stressreaktion aus und schwächt sogar das Immunsystem.
Die Geburt eines zweiten Kindes ist nicht nur für Eltern ein besonderes Erlebnis, sondern auch für das ältere Geschwisterkind. Denn dieses erlebt meist zum ersten Mal in seinem Leben eine tiefgreifende Veränderung in der Familienkonstellation, die für das ältere Kind eine verwirrende und anstrengende Zeit ist. Schließlich muss das Erstgeborene nun lernen, die elterliche Fürsorge mit jemand anderem zu teilen. Dieser Übergang vom Einzelkind zum Geschwisterkind wird als sehr stressige Zeit angesehen, nicht selten geht sie mit Verhaltensänderungen wie übersteigerter Anhänglichkeit, depressiven Stimmungen und Wutanfällen einher. Doch physiologische Daten zu den Veränderungen des Stressniveaus gab es bisher dazu noch nicht.
Junge Bonobos untersucht
Um diese besondere Zeit im Leben von frisch gebackenen Geschwistern besser zu verstehen, haben Verena Behringer vom Deutschen Primatenzentrum (DPZ) in Göttingen und ihre Kollegen dies an Menschenaffen untersucht. Ihre Studie führten sie an zwei Gruppen von Bonobos (Pan paniscus) durch, die nahe der Forschungsstation LuiKotale im kongolesischen Regenwald leben. Die Forschenden beobachteten über 650 Stunden lang das Verhalten von 17 Jungtieren, die zum ersten Mal ein Geschwister bekamen und bei dessen Geburt zwischen zwei und acht Jahre alt waren.
Diese Verhaltensbeobachtungen waren entscheidend, um Verzerrungen der Daten durch von anderen Faktoren ausgelösten Stress ausschließen zu können. Denn beim Heranwachsen der Jungtiere gibt es verschiedene Prozesse der sozialen Entwöhnung oder der Nahrungsumstellung, die ebenfalls Stressreaktionen auslösen können, erklärt Behringer. „Um den altersbedingten Entwöhnungsprozess von der Geburt des Geschwisterchens auseinander zu dividieren, haben wir die Urinproben und die Verhaltensbeobachtungen vor und nach der Geburt des zweiten Jungtieres analysiert und dazu ins Verhältnis gesetzt“.
Stresslevel hoch, Immunabwehr runter
Um ein Bild vom physiologischen Zustand der jungen Bonobos zu bekommen, sammelten Behringer und ihre Kollegen 319 Urinproben der Bonobos vor und nach der Geburt des Geschwister-Jungtieres und untersuchten sie auf die Konzentrationen der drei Markersubstanzen Cortisol, Neopterin und Trijodthyronin (T3). Cortisol ist ein Hormon, das als Reaktion auf eine stressige Situation ausgeschüttet wird, Neopterin wird von den aktiven Abwehrzellen des Immunsystems produziert und T3 ist ein Schilddrüsenhormon, das die Stoffwechselaktivität im Körper reguliert.
Die Analysen erbrachten tatsächlich den physiologischen Nachweis dafür, dass die jungen Bonos durch die Geburt eines Geschwisters vermehrt unter Stress leiden. Die Werte des Stresshormons Cortisol im Urin der Erstgeborenen stiegen bei der Geburt ihres jüngeren Geschwisters um das Fünffache an und blieben bis zu sieben Monate auf diesem Niveau, unabhängig davon, ob das Jungtier bei der Geburt des Geschwisters zwei oder bereits acht Jahre alt war. „Der fünffache Anstieg des Cortisonlevels in unserer Studie ist eine ungewöhnlich starke physiologische Reaktion. Zum Vergleich: Bonobos in Gefangenschaft, die einem experimentellen Stresstest ausgesetzt werden, weisen nur einen zweifachen Anstieg des Cortisolspiegels auf“, erklären Behringer und ihr Team.
Die gemessenen Werte zeigten außerdem, dass auch das Immunsystem von der sich plötzlich verändernden Lebenssituation betroffen ist. Die Neopterin-Konzentrationen im Urin sanken nach der Geburt des Geschwisterkindes signifikant ab und blieben etwa fünf Monate niedrig, was auf eine verminderte Immunabwehr schließen lässt. Dies ist laut Behringer eine Folgereaktion, ausgelöst durch das dauerhaft erhöhte Stresslevel der älteren Bonobokinder. Das Schilddrüsenhormon T3 zeigte hingegen keine signifikante Veränderung auf, was laut der Wissenschaftler dafür spricht, dass die Stressreaktion nicht durch energetische Stressfaktoren, wie beispielsweise ein abruptes Beenden des Säugens, ausgelöst wird. Diese Annahme bestätigten auch die aufgenommenen Verhaltensdaten. Die Forschenden konnten bestätigen, dass alle Entwöhnungsprozesse, die als zusätzliche Stressoren wirken können, entweder vor der Geburt des zweiten Jungtieres abgeschlossen waren oder mit der Geburt keine plötzliche Änderung zeigten.
Stresstraining für Leben
„Unsere Studie beweist erstmals, dass die Geburt eines Geschwisters für das ältere Kind eine wirklich stressige Angelegenheit ist“, fast Behringer zusammen. „Sorgen muss man sich aber nicht machen. Sehr wahrscheinlich ist dieser Stress tolerierbar und führt zu einer höheren Stressresistenz der älteren Kinder im späteren Leben. Jüngere Geschwister sind schließlich nicht nur Konkurrenten, sondern wichtige Sozialpartner, die uns in unserer Entwicklung positiv beeinflussen.“
Quelle: Deutsches Primatenzentrum Göttingen; Fachartikel: elifesciences, doi: 10.7554/eLife.77227