Werden diese Hirnregionen beschädigt – durch eine Verletzung oder einen Tumor – kann es zur Prosopagnosie kommen: Die Betroffenen haben Probleme bei der Wahrnehmung von Gesichtern, auch wenn ihr Sehsystem intakt ist und sie alles andere gut zu erkennen vermögen.
Für manche Prosopagnosiker ist die ganze Welt gesichtslos geworden. Der New Yorker Neuropsychologe Oliver Sacks berichtete in seinem zum Bestseller gewordenen Buch von einem Professor an einer Musikhochschule, der nicht nur die Fähigkeit einbüßte, Gesichter zu erkennen und deshalb seine Frau gelegentlich mit einem Hut verwechselte, sondern auch Gesichter vermutete, wo gar keine waren: „Auf der Straße tätschelt er im Vorbeigehen Hydranten und Parkuhren, weil er sie für Kinder hält; liebenswürdig spricht er geschnitzte Pfosten an und ist erstaunt, wenn sie keine Antwort geben.“
Andere Patienten wissen zwar, daß sie ein Gesicht sehen, können es aber nicht mehr identifizieren. Einem Soldaten, der 1944 am Kopf verwundet wurde, kamen danach alle Gesichter gleich vor: als seltsam flache, weiße, ovale Teller mit großen dunklen Augen. Allerdings konnte er sich die Gesichter von Menschen, die er vor seiner Verletzung gesehen hatte, noch vorstellen. Ein anderer Patient beschrieb seine Beeinträchtigung folgendermaßen: „Ich vermag ganz klar die Augen, die Nase und den Mund zu erkennen, aber ich kann daraus kein Bild formen. Sie scheinen alle wie mit Kreide auf einer schwarzen Wandtafel gezeichnet zu sein.“ Manche Prosopagnosiker können auch Tierarten oder einzelne Tiere nicht mehr auseinanderhalten. Eine Hobby-Ornithologin büßte nach einer Kopfverletzung die Fähigkeit ein, zwischen Amsel, Fink und Star zu unterscheiden, ein Farmer war nicht mehr in der Lage, die Gesichter seiner Kühe auseinanderzuhalten, obwohl er noch erkennen konnte, daß es sich um Kühe handelte. Ein Wärter in einem Naturkundlichen Museum verwechselte sein eigenes Spiegelbild mit dem Schaubild eines Affen.
Manche Forscher sehen in der Prosopagnosie eine Art Umkehrung des Capgras-Syndroms. Während Capgras-Patienten zwar Gesichter erkennen, ihr Gehirn sie aber nicht mit den entsprechenden Gefühlen koppelt und auch nahestehende Menschen ihnen deshalb fremd erscheinen, reagieren Prosopagnosiker durchaus emotional auf vertraute Gesichter: Die Meßgeräte registrieren eine körperliche Erregung. Dennoch können die Menschen auch bei guten Bekannten nicht sagen, wen sie vor sich haben.